Rudolf Rocker - Durruti in Berlin

Im Herbst 1928 kamen unsere spanischen Kameraden Buenaventura Durruti und Francisco Ascaso mit seiner Frau, einer französischen Genossin, nach Berlin. Es war das zweite Mal, dass sie in Deutschland eine Zuflucht suchten. Im vorhergehenden Jahre hatte man sie aus Frankreich ausgewiesen, nachdem man sie zusammen mit ihrem Freunde Jover wegen angeblicher Vorbereitung eines Anschlags auf das Leben Alfonso XIII. über ein Jahr gefangen gesetzt hatte und sie jeden Tag befürchten mussten, dass man sie nach Spanien oder Argentinien auslieferte, wo sie das Schlimmste zu erwarten hatten. Nur der grossen Protestbewegung in Frankreich, an der die verschiedensten Richtungen und namhafte Persönlichkeiten wie Madame Sévérine und andere lebhaften Anteil nahmen, hatten sie es zu verdanken, dass die französische Regierung den Auslieferungsanträgen Spaniens und Argentiniens nicht stattgab und sich mit ihrer Ausweisung begnügte.

Da ihnen Belgien und Luxemburg damals die Einreise verweigert hatte, so waren sie nach Deutschland gekommen, von wo sie aber bereits nach einigen Wochen auf Antrag des sozialdemokratischen preussischen Innenministers ausgewiesen wurden. Ein Versuch, in Russland ein Asyl zu finden, blieb fruchtlos, da ihnen die Sowjetregierung Bedingungen gestellt hatte, die sie als Anarchisten unmöglich annehmen konnten. Unter diesen Umständen blieb ihnen nichts anders übrig, als unter falschen Namen wieder nach Paris zurückzufahren, wo sie von Kameraden einige Monate verborgen gehalten wurden, bis es ihnen gelang, in Lyon Arbeit zu finden, da sie nicht länger die Solidarität ihrer Freunde in Anspruch nehmen wollten. Doch nach einem halben Jahr wurden sie dort von der Polizei aufgestöbert, wegen Bannbruch zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt und nach der Verbüssung ihrer Strafe abermals aus Frankreich ausgewiesen. Nach einem kurzen geheimen Aufenthalt in Belgien kamen sie dann nach Berlin, da ihnen kein andrer Weg mehr offenstand.

Ich hatte beide bei ihrem ersten Besuch nicht kennen gelernt, da ich mich gerade auf einer Vortragstour im grossen Industriegebiet des Westens befand, die mich monatelang von Berlin fernhielt. Natürlich hatte ich bereits vieles in französischen und spanischen Zeitungen über die beiden kühnen Männer gelesen, die man im Kreise der spanischen Anarchisten, zusammen mit ihrem Freunde Jover die Drei Musketiere zu nennen pflegte. Sie hatten diesen Namen redlich verdient, denn es gab wohl nicht viel Männer, die im Laufe der kurzen Zeitspanne, die ihnen beschieden war, ein so abenteuerliches Leben geführt, soviel tollkühnen Wagemut, unbegrenzte Opferbereitschaft und eine geradezu unbegreifliche Todesverachtung bewiesen hatten. Das Wort Nietzsches „gefährlich leben“ war für Männer vom Schlage Durrutis und Ascasos wie zugeschnitten, dann ihr Leben bewegte sich beständig am Rande eines Abgrundes, der sie zu verschlingen drohte und acht Jahre später in der Blüte ihrer Jahre auch wirklich verschlungen hat.

Ich sah beide am Tage nach ihrer Ankunft im Hause meines Freundes Augustin Souchy, der mich sofort verständigt hatte. Mein Name war beiden bekannt durch Schriften und Artikel, die von mir in spanischer Sprache erschienen waren. Sie begrüssten mich daher mit jener typischen spanischen Kameradschaft, die sofort alles Fremde ausschliesst und einem das Empfinden beibringt, als hätte man sich schon seit Jahren gekannt.

Ascaso war ein Mann von mittlerer Grösse und angenehmen Gesichtszügen. Sein Äusseres zeigte sogar eine gewisse Behäbigkeit, die kaum vermuten liess, welch unbändige Tatkraft dem Manne innewohnte. Anders Durruti, Er war hochgewachsen, von breiter Gestalt, wie aus einem Felsen gehauen. Jede Bewegung verriet einen Mann von aussergewöhnlicher Körperkraft und eiserner Entschlossenheit. sein Gesicht konnte man wohl kaum vergessen, wenn man es einmal gesehen hatte. Es war ein kluges Gesicht mit scharfen Linien und trotzigen Zügen, das, wenn er ernst wurde, eine gewisse Härte annahm. Das dichte schwarze Haar und die dunkeln blitzenden Augen verstärkten diesen Eindruck noch. Ich glaube, dass dieser wie aus einem Stück gegossene Mann das Gefühl physischer Furcht in seinem Leben nie kennen gelernt hatte. Durruti war einer jener seltenen Menschen, die ohne Wimperzucken barfuss durch die Hölle gegangen wären, um ihrer Sache zu dienen. Nur wenn er lachte, veränderten sich diese schroffen Züge und zeigten die ganze Sorglosigkeit eines Kindes, das sich ungezwungen seiner Freude hingibt und vom Leben zu erhaschen sucht, was es immer zu vergeben hat. Sein gesunder Humor machte ihn zu einem vortrefflichen Gesellschafter, dem jede Überschwänglichkeit fremd war. Sein ganzes Wesen strahlte dann eine innere Wärme des Empfindens aus, die man bei einem Mann der Tat wie er schwerlich vermutet hätte.

Gerade dieses tiefe Verständnis für alles Menschliche, gepaart mit einer tollkühnen Verwegenheit, die vor keinem Wagnis zurückschreckte, machten ihn acht Jahre später zum geborenen Führer aufständiger Volksmassen, die sich mit verzweifelter Entschlossenheit gegen den Verrat einer faschistischen Militärkamarilla auflehnten und fast drei Jahre lang ihr Herzblut hingaben, um ihr Land vor der Tyrannei einer Bande ehrloser Halsabschneider zu retten, die nur mit der Hilfe fremder Söldnerhorden und um den Preis einer halben Million Menschenleben ihre finsteren Pläne zur Ausführung bringen konnten. Damals lag nicht nur das Schicksal Spaniens, sondern das Schicksal Europas und der ganzen Welt in der Waagschale. Indem man das spanische Volk gewissenlos der Bestialität Francos, Hitlers und Mussolinis preisgab, entfesselte man die grosse Weltkatastrophe, die uns in den Abgrund stürzte. Die rote Sintflut, die später Millionen blühender Menschenleben verschlang und halbe Länder in Wüsten verwandelte, war der Preis, den die Menschheit für die unheilbare Blindheit der Staatenlenker und die Anschläge gewissenloser Machtpolitiker zahlen musste. Es war damals, als ein ganzes Volk mit beispiellosem Heroismus für seine Freiheit kämpfte, dass der Name Durruti zum lebendigen Symbol eines ganzen Landes wurde und sich in die Herzen von Millionen eingrub, um nie wieder zu verlöschen.

Während der Zeit ihres kurzen Aufenthalts in Berlin hatte ich die Gelegenheit, manche eindrucksvolle Stunde mit unsren Freunden zu verbringen, wir hatten Durruti, Ascaso und seine Frau bei Genossen in Oberschöneweide, einem industriellen Vorort von Berlin untergebracht, wo sie weniger der Gefahr ausgesetzt waren, entdeckt zu werden. Das war für sie nicht sehr bequem, liess sich aber nicht ändern. Die Genossen, bei denen sie wohnten, waren nur der deutschen Sprache mächtig; Durruti und Ascaso aber sprachen nur französisch und spanisch. Das führte häufig zu komischen Missverständnissen, die wir oft herzlich belachten. Doch unsere Kameraden nahmen die Dinge mit gutem Humor und fühlten sich bald zu Hause in ihrer neuen Umwelt. Durruti hatte sich sehr schnell eingelebt in der deutschen Familie. Gleich nach der ersten Mahlzeit band er sich die Schürze vor und wusch das Geschirr zum grossen Erstaunen der Hausfrau und ihres Mannes, die als Deutsche an solche Dinge nicht gewöhnt waren. Die beiden Kinder der Familie wurden ihm bald zugetan, denn Durruti war ein grosser Kinderfreund und tollte mit den Kleinen herum, dass es eine Freude war, ihn zu beobachten. Es dauerte nicht lange und er hatte eine ganze Anzahl Worte in der fremden Mundart erlernt, und wo das Wort versagte, half ihm sein lebhaftes Geberdenspiel. Wenn es dunkel wurde, nahmen wir unsere drei Verbannte häufig in die Stadt und verbrachten mit ihnen den Rest des Abends entweder bei uns, Augustin Souchy oder im Hause Erich Mühsams. Die Polizei kümmerte sich damals nicht allzuviel um die Ausländer in Berlin, so dass man manches wagen konnte, was unter dem Kaiserreich unmöglich gewesen wäre, wo nicht direkte Denunziation vorlag oder der Druck fremder Regierungen, liess man die Fremden in der Regel unangefochten. Das wäre vielleicht auch mit Durruti und Ascaso der Fall gewesen, aber da ihre Lage viel gefährlicher war, so hielten wir es für ratsam, einen Versuch zu machen, für beide eine gesetzliche Aufenthaltsbewilligung zu erhalten.

Ich wandte mich deshalb an meinen Freund Paul Kampffmeyer, der eine Menge einflussreicher Verbindungen besass und uns früher bereits geholfen hatte, Emma Goldman, Berkman und Schapiro nach Deutschland zu bringen. Kampffmeyer war damals der Verwalter des sozialdemokratischen Parteiarchivs in Berlin. Er hatte in den neunziger Jahren der Bewegung der Jungen angehört, sich aber später immer weiter nach rechts entwickelt. Doch er war ein redlicher Charakter, der seine gewesenen Kameraden nie begeiferte und alten Freunden stets seine Sympathie bewahrte. Ich konnte mich ihm daher ganz offen anvertrauen, ohne Irgendeine Gefahr befürchten zu müssen. Er versprach mir zu tun, was er konnte, doch fühlte er sich bereits zwei wachen später genötigt, mir mitzuteilen, dass er in dieser Angelegenheit nichts weiter unternehmen könnte. Die preussische Regierung lag damals in den Händen einer Koalition der Sozialdemokraten, der Demokraten und der katholischen Zentrumspartei, und obgleich die Sozialdemokratie als stärkste Partei die meisten Ministerposten besetzt hielt, so musste sie sich den beiden anderen Parteien doch gefügig zeigen, um eine Krise zu vermeiden und ihre Stellung im Reiche nicht zu gefährden.

Im Falle Durruti und Ascaso kam hauptsächlich in Betracht, dass sie den erzreaktionären Kardinal Soldevila in Saragossa erschossen hatten, einen der grimmigsten Feinde der spanischen Arbeiterbewegung, der mit seinem Gelde die berüchtigten Pistoleros unterstützte, denen so viele unserer besten Genossen zum Opfer gefallen waren.

„Hätten sie den König von Spanien erschossen,“ sagte Kampffmeyer zu mir, „so hätte ich immerhin noch etwas für sie tun können. Doch die Erschiessung eines der höchsten Würdenträger der Katholischen Kirche wird ihnen die Zentrumspartei nie verzeihen. Es ist daher ganz ausgeschlossen, den beiden politisches Asylrecht in Deutschland zu verschaffen.“

Unter diesen Umständen schien es uns nicht länger ratsam, die beiden der Gefahr einer Entdeckung auszusetzen, die durch irgendeinen Zufall verursacht und ihnen zum Verhängnis werden konnte, wir mussten daher sehen, Durruti und Aacaso wie am schnellsten ihrer gefährlichen Lage zu entziehen und sie nach einem anderen Lande zu befördern. Doch wohin? Es gab damals in Europa kein Land, das sie freiwillig aufgenommen hätte; und irgendwo geheim leben, war ein gewagtes Spiel, das schwere Folgen haben konnte. Als Souchy und ich den beiden den ganzen Sachverhalt erklärten und sie fragten, was nun geschehen sollte, kamen sie nach langer Beratung zu dem Schluss, dass Mexiko vielleicht das einzige Land sei, wo sie Zuflucht finden könnten. Zwar konnten sie sich auch dort nicht unter ihrem richtigen Namen aufhalten, doch glaubten sie, dass sie in einem Lande, wo sie der Sprache mächtig waren, bessere Gelegenheit hätten, irgendwo unterzutauchen und Arbeit zu finden. Wir kamen daher zu der Überzeugung, dass dieser Plan der beste sei. Sie mussten sich zu diesem Zweck zunächst geheim nach Belgien begeben, wo sie sicher waren, mit der Hilfe vertrauter Kameraden, sich die nötigen Papiere zu verschaffen, so dass sie die Reise von Antwerpen antreten konnten.

Für uns bestand nun die Frage, die nicht unbeträchtlichen Reisekosten aufzutreiben. Davon sagten wir ihnen natürlich nichts, da sie ein solches Opfer gewiss nicht angenommen hätten. Die Bewegung stellte damals an jeden von uns grosse Ansprüche, denn wir lebten zu jener Zeit unter fortgesetzten grossen industriellen Kämpfen und dazu noch in einer latenten Wirtschaftskrise. Das Geld musste schnell beschafft werden. Ich sprach daher mit meinem Freunde Erich Mühsam über die Sache und dieser machte den Vorschlag, dass wir beide den bekannten Schauspieler Alexander Granach aufsuchten, der uns dabei vielleicht etwas helfen konnte. Wir waren beide mit Granach gut befreundet und wussten, dass man bei ihm nie vergebens anklopfte, so lange er etwas zu geben hatte. Doch das war gerade der wunde Punkt. Granach war ein geborener Boheme. Er verdiente schweres Geld, doch die grösste Summe zerrann ihm bald zwischen den Fingern, denn seine Ansprüche waren stets grösser als seine Einnahmen. Zum sparen hatte er nicht das Zeug und was er immer verdiente, verlebte er mit anderen. Ein Versuch konnte jedoch nichts schaden und so schrieben wir ihm einen Brief, dass wir ihn in einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen wünschten. Er antwortete uns sofort und lud uns ein, ihn einige Tage später zu besuchen. Wir fanden ihn nicht zu Hause, doch hatte er seine Wirtin beauftragt, uns etwas Gutes vorzusetzen und uns zu sagen, dass wir auf ihn warten sollten, da er an jenem Morgen gerade mit einer Filmaufnahme beschäftigt war. Nach einer Stunde kam er, aufgeräumt und guter Laune wie immer. Ich erklärte ihm den Zweck unseres Besuches, ohne ihm jedoch nähere Angaben zu machen.

„Da kommt Ihr gerade in der rechten Zeit!“ sagte er fast schreiend. „Hier habt Ihr, was ich heute Morgen verdient habe!“ – Dabei holte er drei oder vier Hundertmarkscheine aus der Tasche und warf sie auf den Tisch. Auf soviel hatten wir wirklich nicht gerechnet und freuten uns daher umsomehr, denn es war ein guter Anfang. Der gute Granach hat nie erfahren, wem er mit seinem Gelde geholfen hatte. Es genügte ihm, dass wir seine Hilfe für einen guten Zweck benötigten; alles andere kümmerte ihn nicht.

Als wir das Reisegeld im ganzen aufgebracht hatten, nahmen unsre Freunde herzlich Abschied von uns, um sich nach Belgien zu begeben. Zwei Wochen später schrieben sie uns aus Brüssel, dass sie die Grenze gut überschritten hätten und sich vorläufig geborgen fühlten. Es vergingen dann einige Monate, bis wir wieder von ihnen hörten. Sie schrieben uns, dass ihnen die Beschaffung der nötigen Papiere mehr Schwierigkeiten machte, als sie vorausgesehen hatten und sie deshalb gezwungen wären, auf unbestimmte Zeit in Belgien zu bleiben.

Mittlerweile hatte sich die politische Lage in Spanien immer mehr zugespitzt, so dass man mit dem baldigen Ende der Diktatur und vielleicht mit dem Sturz der Monarchie überhaupt rechnen konnte. Nachdem wir längere zeit von Durruti und Ascaso nichts mehr vernommen hatten, erhielten wir plötzlich von ihnen einen Brief, in dem sie uns den grössten Teil des Geldes, das wir für sie gesammelt hatten, zurückschickten und uns mitteilten, dass sie die Reise nach Mexiko aufgegeben hätten, um bei der ersten Gelegenheit nach Spanien zu fahren. Von dem Geld hatten sie nur soviel zurückbehalten, um die Reise nach der Heimat bestreiten zu können.

Aus: R. Rocker, Memoiren, Bd. III (Revolution und Rückfall in die Barbarei), IISG Amsterdam, S. 286-292.

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/08/07/rudolf-rocker-durruti-in-berlin/