Walter Borgius - Was ist Anarchismus?

Ausgangspunkt der anarchistischen Weltanschauung ist also das Individuum.

Es gibt zwei grundsätzlich verschiedene Lebensauffassungen: Die individualistische und die organistische. Die erstere erachtet das, was die Einzelmenschen voneinander unterscheidet, die letztere das, was sie miteinander gemeinsam haben, für das eigentlich wichtige, wertvolle, kulturell bedeutsame und deshalb zu pflegende Moment. Die erstere erstrebt deshalb vor allem Freiheit des Individuums, die andere Integrität des sozialen Organismus. Die erstere ist somit eine atomisierende, die letztere eine konzentrierende Richtung. Der Anarchismus ist nun zunächst - ebenso wie der Liberalismus - eine grundsätzlich individualistische Strömung und demzufolge ein Gegner aller Institutionen, welche die individuelle Freiheit des Handelns einschränken, die individuellen Differenzen unterdrücken. Zu diesen gehört in erster Linie aber der Staat, in dessen Wesen es liegt, persönliche Unterschiede zu nivellieren, die Individuen nur nach Rang und Nummer zu klassifizieren, innerhalb jeder Gruppe jeden durch jeden ersetzbar zu machen, das Individuum mit Güte oder Gewalt zum normalen Staatsbürger zu machen. Und der Staat ist gleichzeitig die einzige Fessel, deren Druck man auf keinem Wege abschütteln kann. Man wird als Staatsbürger und Untertan geboren und stirbt als solcher; wohl kann man unter gewissen Voraussetzungen aus einem Staat in einen anderen übertreten, ein staatloses Leben aber gehört heute zu den faktischen Unmöglichkeiten. Der Staat hat das Individuum völlig in der Hand, es kann sich von ihm nicht befreien, wie etwa von seiner Familie, Kirche, Klasse. Deshalb richten beide Strömungen des Individualismus sich in ihren Grundgedanken insbesondere gegen die Staatsgewalt. Was dabei den Anarchismus vom Liberalismus grundsätzlich unterscheidet, ist, daß letzterer sich mit der Existenz des Staates als einer gegebenen Tatsache abfindet und lediglich den Druck seiner Herrschaft tunlichst zu mildern sucht, der Anarchismus dagegen die Existenzberechtigung des Staates als solche anficht und eine staatlose Gesellschaftsform erstrebt: "Wir suchen den Fortschritt in einer möglichst vollständigen Befreiung des Individualismus in einer möglichst ausgedehnten Entwicklung der Initiative des Individuums und der Gruppen, sowie einer gleichzeitigen Einschränkung der Funktionen des Staates" (Kropotkin).

Ein Irrtum ist es nun aber, anzunehmen, der Anarchismus erstrebe das, was man gemeinhin unter "Anarchie" versteht - will sagen, einen Zustand, bei welchem jeder tut und läßt, was ihm im Augenblicke beliebt, niemand sich um seine Mitmenschen kümmert oder auf sie Rücksicht nimmt, keine Rechte und keine Pflichten anerkannt werden, und infolgedessen - selbstverständlich - alles darunter und darüber geht. In Wirklichkeit will der Anarchismus die Organisation der menschlichen Gesellschaft durchaus aufrecht erhalten, nur die Form, die Art der Organisation ist es, deren grundsätzliche Änderung er erstrebt: Und zwar will er an Stelle der Zwangsorganisation, welche heute dem Einzelnen sein Verhalten autorativ vorschreibt und es eventuell mit physischer Gewalt erzwingt, eine rein vertragsmäßige Organisation setzen, in welcher der Einzelne nur nach Maßgabe seiner freiwillig und bewußt übernommenen Handlungen und Unterlassungen gebunden ist, über Inhalt und Art dieser Verpflichtungen mit seinen Mitmenschen berät und solche nur übernimmt, weil und soweit er der als Entgelt für sie eintretenden Rechte, d,h. entsprechenden Gegenverpflichtungen seiner Mitmenschen bedarf. Das bedeutet: der Anarchismus will von den zwei Formen, welche heute das gesellschaftliche Dasein der Menschheit regeln, nur die eine gelten lassen und zur allgemeingültigen machen, er will die gesamte gesellschaftliche Organisation aufbauen ausschließlich auf dem freien Vereinswesen unter gänzlicher Aufhebung der Staatsgewalt.

Abschnitt aus: Walter Borgius - Die Ideenwelt des Anarchismus (1904)

Originaltext: http://www.freie-welt.eu/philosophen/239/was-ist-anarchismus.html