Adhémar Schwitzguébel - Kollektivistisches Programm (1880)

Denkschrift, die die Arbeiterföderation des Distrikts Courtelary dem Jurakongreß von 1880 unterbreitete. (1)

Einführung

Die Ausarbeitung eines sozialistischen Programms kann verschiedene Formen annehmen. Deshalb wollen wir zum besseren Verständnis für die, die dieses Programm lesen werden, den Rahmen angeben, auf den wir diese Arbeit zwangsläufig beschränken müssen.

Um in den Grenzen des menschlichen Wissens vollständig zu sein, müßte ein sozialistisches Programm die Geschichte der Menschheit, die Naturwissenschaften, die Sozialökonomie, die Politik, die Ethik und die Philosophie umfassen; es würde eine neue Enzyklopädie, geschrieben im Lichte der sozialistischen Erwartungen. Dieses gigantische Werk wird vielleicht eines Tages dank der gemeinsamen Anstrengungen mutiger Denker geschrieben werden, die der Volksrevolution die wertvolle Mitarbeit der Wissenschaft zukommen lassen.

Für uns, die wir von unserer Hände Arbeit leben, ist die Aufgabe durch die Verhältnisse vorgezeichnet, unter denen sich die Arbeiterbevölkerung entwickelt. Unsere Arbeit wird mehr andeutend als vollständig sein. Wir werden das formulieren, was wir wissen; wir werden unsere Bestrebungen nennen; wir werden unsere Forderungen bestimmen; wir werden Schlüsse im Sinne des gesunden Menschenverstands ziehen. Unserer Meinung nach muß ein sozialistisches Programm enthalten: eine Prinzipienerklärung, eine Darstellung der Taktik und der Ideen von der Neuordnung der Gesellschaft sowie die Pflichten der Sozialisten. Wir werden diese verschiedenen Punkte nacheinander behandeln. Die dieser Arbeit gesetzten Grenzen bringen es mit sich, daß wir nicht Beweise führen, sondern Behauptungen aufstellen; dieses Verfahren, das zwar anmaßend und oft anstößig ist, ist aber für die Klarheit dieser Arbeit unerläßlich.

Im übrigen kann der Sozialismus auch ohne in den Verdacht pedantischer Anmaßungen zu geraten, Behauptungen aufstellen; denn die Wissenschaft bestätigte seine Erklärungen, die man einst als utopisch eingeschätzt hatte, und die Völker befinden sich bereits auf dem Wege zur sozialen Revolution.

I. Prinzipienerklärung

Der Sozialismus ist gemäß der Natur aller seiner wesentlichen Bestandteile ein Feind jeglicher religiösen, doktrinären, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Tyrannei und Ausbeutung; sein Ziel ist die Schaffung einer menschlichen Gesellschaft, die auf die Arbeit und die Wissenschaft, auf die Freiheit, die Gleichheit und die Solidarität aller menschlichen Wesen gegründet ist.

Das absolute Dogma, ganz gleich auf welchem Gebiet, kann nur eine absurde Verirrung des menschlichen Stolzes sein; die Naturwissenschaften und die Geschichte der Menschheit beweisen, daß es nichts Absolutes gibt, daß sich alles durch die unermüdliche Tätigkeit der Kräfte der Natur und in der Menschheit kraft der Entwicklung der menschlichen Gesellschaften ändert. Gott - die Quelle des Absoluten, Produkt der verwirrten Einbildungskraft von Menschen und sträflicher Spekulationen von Despoten, ist gerichtet; die Religionen - die Folge der Gottesidee - sind dem Tode verfallen; die Theologie, die Religionsethik, die philosophischen Systeme, ob deistische, metaphysische oder eklektische, besitzen keine Existenzgrundlage mehr. Die alte Welt der Moral stirbt dahin. Auf ihren Ruinen bleibt die Materie mit allen ihren Fähigkeiten zur Umgestaltung zurück; die Menschheit, die immer vorwärts schreitet; die Wissenschaft, die sucht, entdeckt, beobachtet, experimentiert und die Wahrheit findet; die Arbeit, die das Leben der Materie und die Wahrheit der Wissenschaft befruchten wird; die positive und die materialistische Philosophie sowie die Moral der Menschen, die sich Tag für Tag auf dem Schlachtfeld des Fortschritts herausbilden.

In der wirtschaftlichen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft erleben wir eine tiefgreifende Veränderung. Die Bourgeoisie, die siegreich aus ihren Kämpfen mit den Feudalherren des Mittelalters hervorgegangen ist, lebt vom Privatbesitz der Rohstoffe, der Bodenschätze, des Grund und Bodens, der Arbeitswerkzeuge und des Kapitals im allgemeinen. Das Privateigentum basiert auf der Theorie, nach der individuelle Leistungen belohnt werden müssen. Nun aber ist diese These aufgegeben worden, da alles dafür spricht, daß es gar keine echten individuellen Leistungen gibt. Drei wesentliche Elemente bilden nämlich die Quelle allen Reichtums: die Naturkräfte, die Arbeitswerkzeuge, die menschliche Arbeit. Welchen Anteil hat das Individuum daran, daß es diese Elemente gibt? Wagt es das Individuum etwa, die Naturkräfte für sich in Anspruch zu nehmen? Es entdeckt deren Eigenschaften und macht sie sich manchmal zu Nutzen; es bringt sie aber keineswegs hervor. - Wird das Individuum die Arbeitswerkzeuge für sich beanspruchen? Es waren Generationen von Menschen, die das Rohmaterial allmählich in Arbeitswerkzeuge verwandelt haben; die Leistung von Individuen bestand bisweilen in einer Teilentdeckung, doch erst der sich ständig vervollständigenden gemeinsamen Arbeit verdanken wir den Grad an Vollkommenheit, den die Gesellschaft heute erreicht hat. - Und die Arbeit des Individuums? Angesichts der ungeheuren Verzahnung der modernen Produktion ist die Arbeit des einzelnen nicht mehr als ein Wassertropfen im Meer.

Die heutigen Verhältnisse beweisen, daß die Rechtfertigung der Theorie vom individuellen Eigentum nicht allein ein Unsinn, sondern ein Verbrechen ist. Die Anwendung dieser Theorie durch die Bourgeoisie hatte zur Folge, daß man auf den Ruinen der mittelalterlichen Feudalverhältnisse ein neues feudalistisches System in Industrie, Landwirtschaft und Handel begründete, das aus der Bourgeoisie eine wahre Finanzaristokratie machte; sie beherrscht alles, und unten leben die unzählbaren Massen des Proletariats. Nicht allein alle Quellen des natürlichen und gesellschaftlichen Reichtums befinden sich im Besitz der Bourgeoisie, sondern durch das eherne Lohngesetz (2) ist praktisch der Arbeiter selbst Eigentum dieser Klasse. Welch vollständige Umkehrung der Theorie von der Entlohnung individueller Leistungen! Diejenigen, die bei ihrer Arbeit in den Bergwerken, auf dem Felde, in den Fabriken und Werkstätten und auf den Baustellen sterben, erhalten als Belohnung für die Reichtümer, die sie produzieren und verarbeiten, Entbehrungen, Armut, moralisches und materielles Elend, Verkümmerung ihrer Nachkommenschaft. Diejenigen, die die Arbeit der Massen leiten, mit ihr spekulieren, sie ausbeuten, kommen in den Genuß aller Verbesserungen und Verfeinerungen der Zivilisation.

Im Namen der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftlichen Moral fordert der Sozialismus die Beendigung des Regimes der wirtschaftlichen Ausbeutung durch die Umwandlung des Privateigentums in Gemeinbesitz.

Bleibt uns noch an das heilige Joch der Autorität zu rühren. Da die Götter dahinschwanden und das Eigentum sich verwandelt, warum lassen wir da diese von der göttlichen Vorsehung eingesetzten Menschen an der Macht, die die Völker so beherrschen, wie die Gottesidee die Welt beherrscht hat? Ihr wollt keinen göttlichen Absolutismus mehr, warum duldet ihr noch den Absolutismus der Menschen? Die absoluten Könige und die konstitutionellen Monarchen werden von der republikanischen Kritik verurteilt; wir unsererseits erheben uns im Namen der menschlichen Freiheit gegen jede Regierung, die sich republikanisch nennt. Die Republik ist als Regierungsform nicht mehr wert als die absolute Monarchie oder das konstitutionelle Königtum. Ihr bestreitet einem einzigen das Recht zu herrschen, und ihr würdet es mehreren gewähren? Aber die Regierung der demokratischen Republik ist im Namen der Mehrheit gebildet worden; wenn ein einzelner nicht das Recht zu regieren hat, können es auch mehrere nicht haben - ob sie nun eine Minderheit oder eine Mehrheit sind. Die Theorie von der Regierung, wonach die letztere ihre Existenz einer stillschweigenden Übereinkunft unter den Bürgern verdanke, irgendeine Form der Regierung zu akzeptieren, ist unannehmbar. Diese stillschweigende Übereinkunft gibt es nicht, weil die Menschen nie danach gefragt wurden, ob sie auf ihre Freiheit verzichten wollen. Sie erdulden die Regierungen, weil diese, ebenso wie die Gesellschaftsformen, ein Produkt der Geschichte sind; da das Autoritätsprinzip immer einen Teil des Geschichtsunterrichts gebildet hat, wurden die Völker ganz natürlich darin erzogen; das Prinzip selbst wurde nicht in Frage gestellt, nur die Formen der Autorität wurden entsprechend den Fortschritten der Demokratie diskutiert. Die doktrinären Theorien des bürgerlichen Liberalismus, die radikalen Tendenzen der Demokratie haben die Staaten - diese politische und gesellschaftliche Form, die sich in der Regierungsautorität manifestiert - nicht daran gehindert, in einen Klassenabsolutismus zu verfallen. Die Bourgeoisie ist in den modernen Staaten der Souverän, und es sind ihre Klasseninteressen, die den Kern aller Politik der Staaten bilden.

Wir erheben uns also gegen die Staaten und die Regierungsautorität, die jene nach innen wie nach außen hin verkörpert, und dies nicht allein im Namen der menschlichen Freiheit, sondern auch im Namen der Forderungen der Klasse des Proletariats gegenüber der Bourgeoisie.

Wir wollen auf den Ruinen der alten politischen Welt die Autonomie des Individuums, der Gruppe, der Gemeinde, der Region und ihre Föderation, die sich spontan aus den Äußerungen des Volkslebens ergibt.

II.Taktik

Das gigantische Ziel, das sich der Sozialismus zu verwirklichen vorgenommen hat, ein Ziel, das wir in unserer Prinzipienerklärung in großen Zügen zu beschreiben versucht haben, erfordert nicht nur eine Reihe sukzessiver Reformen in den Einzelheiten des Aufbaus der heutigen Gesellschaft, sondern auch eine radikale Neugestaltung der Fundamente dieser Gesellschaft. Die Fortschrittsparteien, die es sich in den Kopf gesetzt haben, die Institutionen, Verfassungen und Gesetzgebungen der Staaten zu reformieren, ohne dabei die Existenzgrundlagen dieser Staaten anzutasten, gehen ähnlich vor wie ein Bauunternehmer, der ein Gebäude auf einem Gelände errichtet, das einen Abgrund überdeckt. Wenn das Gebäude fertig gebaut und geschmückt ist, fällt es zusammen, da der Boden nachgibt. Es ist auffällig, daß trotz der Entwicklung der bürgerlichen Zivilisation das Elend wächst, sich die Klassenspaltung verschärft und sich alle Folgen einer solchen Situation in einem Maße entwickeln, die selbst die ernste Aufmerksamkeit der Dickköpfigsten auf sich ziehen muß - ein deutlicher Beweis dafür, daß der Fortschritt in der heutigen Gesellschaft eher künstlich als echt ist. Das ist ja auch logisch: Wenn ihr die Folgen einer Sache bessern wollt, ohne bis zu dieser selbst vorzudringen, dann gebt ihr diesen Folgen nur andere Formen, aber sie bleiben deshalb nicht weniger das Produkt der Sache, die ihr nicht anzutasten wagt oder nicht antasten wollt.

So steht es also um die Notwendigkeit der Revolution.

Die soziale Revolution, die die Fundamente der bürgerlichen Gesellschaft selbst angreifen wird, wird durch ihren Sieg neue Grundlagen für die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft legen. Das Werk des friedlichen Fortschritts, der sukzessiven Reformen in den Einzelheiten, wird nach der sozialen Revolution fortgesetzt, so wie es nach allen großen Revolutionen geschehen ist, die die Existenzbedingungen der menschlichen Gesellschaften verändert haben.

Diese Revolution ist nicht nur eine theoretische Konzeption; sie liegt in der Natur der Dinge, und die Weiterentwicklung der heutigen Verhältnisse wird notwendig zu ihr führen. Wenn auch die bestehenden Verhältnisse als Hebel der Revolution das entscheidende Moment darstellen, so ist aber doch das mehr oder weniger intelligente und zweckmäßige Eingreifen der Partei, die über die theoretische Konzeption dieser Revolution verfügt, ein Faktor von kaum geringerer Wichtigkeit. Daraus folgt die Notwendigkeit, nicht darauf zu warten, bis die Revolution vom Himmel fällt, sondern sie in den Grenzen des Möglichen vorzubereiten und besonders dafür zu sorgen, daß sie sich nicht wieder zum Vorteil der herrschenden Klassen auswirkt.

Wir müssen uns also mit der Taktik der sozialistischen Partei im Hinblick auf die Vorbereitung der Revolution und die Revolution selbst befassen.

Um in die Tat umgesetzt zu werden, muß eine Theorie in einer Organisation Gestalt annehmen, die alle die Elemente umfaßt, die am Sieg dieser Theorie interessiert sind. Der Sozialismus, so wie wir ihn definiert haben, ist nicht allein eine Forderung der Proletarier an die Bourgeoisie, er ist auch der Aufruf zur Vereinigung aller Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der freien Denker gegen die, die das Denken ersticken, der Aufrührer gegen jegliche Herrschaft und Ausbeutung; er ist der Vormarsch aller jener, die sich mit der Arbeit, der Wissenschaft, der Moral und der Gerechtigkeit der Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität verbunden fühlen. Die Organisation all dieser verschiedenen Kräfte - die alle einem gleichen Ziel zustreben - muß also sehr komplex sein; denn sie muß alle diese Elemente vertreten und zufriedenstellen. Die Berufsverbände, die Studien- und Propagandazirkel, die lokalen, regionalen und internationalen Arbeiterföderationen, die sozialistischen und revolutionären Verschwörungen sind eben verschiedene Formen, die die Organisationsbedürfnisse verschiedener wirtschaftlicher, politischer und sozialer Kreise befriedigen. Es gibt also auf dem Gebiet der Organisation keine absolute Form; alle haben ihre Berechtigung im Sinne der Verhältnisse und besonderen Aufgaben, in deren Rahmen sie für die Verwirklichung des allgemeinen Ziels arbeiten. Sind die Organisationen gegründet, müssen sie danach streben, sich inmitten des Volkes zu entwickeln. Dafür stehen ihnen zwei Wege offen: die Propaganda und die Aktion.

Mehr noch als die Organisation darf sich die sozialistische Propaganda keine Grenzen setzen; persönliche Beziehungen, vertrauliche Gespräche, die Veröffentlichung von wissenschaftlichen Abhandlungen, von Zeitungen, von sozialistischen Broschüren, historischen oder erfundenen Bilddarstellungen; die Organisation von Sitzungen und Volksversammlungen, alle diese Propagandamittel müssen, soweit wie möglich, gleichzeitig angewandt werden. Die ganze Fülle der Äußerungsmöglichkeiten der menschlichen Existenz - Gedanken, Gefühle, ästhetische Regungen, die alltäglichen Sorgen des praktischen Lebens - müssen bei der Gestaltung der Propaganda in Betracht gezogen werden. Wenn die sozialistische Propaganda also in großem Maßstab in Aktion tritt, dann wird sie nicht lange brauchen, um die Vorstellungen und Gefühle, mit einem Wort die öffentliche Meinung der Völker, zu verändern, bei denen sie wirksam werden wird.

Wenn die Ideen und die Gefühle einen erheblichen Einfluß auf die Einbildungskraft der Völker ausüben - von Taten geht eben wegen ihres praktischen Charakters noch sehr viel größerer Einfluß aus.

Wie kann das praktische Handeln der sozialistischen Partei in der Übergangsphase, in der wir uns befinden, aussehen? Es weist zwei Hauptmerkmale auf, ein ökonomisches und ein politisches.

Die Tätigkeit der sozialistischen Partei auf ökonomischem Gebiet ist maßgeblich auf die Verteidigung der Interessen der Arbeit gerichtet, und zwar durch die Beibehaltung und Steigerung des Lohntarifs, die Verkürzung der Arbeitszeit und die Sicherheit des Arbeiters am Arbeitsplatz, sowohl mit Rücksicht auf die Hygiene als auch im Hinblick auf seine relative individuelle Freiheit. Diese Tätigkeit wirkt sich in defensivem oder offensivem Widerstand aus; dieser Widerstand ist manchmal rein passiv, aber meistens wird er zum Streik. Wir haben in den letzten Jahren gesehen, wie der Streik den Charakter einer wirtschaftlichen Erhebung angenommen hat, und der blutige Kampf hat die Kluft, die die Bourgeoisie vom Proletariat trennt, noch mehr vertieft; dies sind ernste Zeichen, die auf eine neue Phase in der Arbeiterbewegung hindeuten. Die Berufsverbände und die Arbeiterföderationen werden es dank einer allgemeinen Entfaltung und der taktischen Vereinigung ihrer Kräfte mit Sicherheit fertigbringen, der Arbeiterbewegung eine erhebliche Macht zu verleihen; wenn sie ihre Programme und ihre Aktionsmittel richtig herausstellen, könnten sie zu einem mächtigen Element unter den revolutionären Kräften werden.

Die Kooperation als sozialistisches Ziel ist erledigt; als Aktionsmittel kennen wir sie nur noch aus der Erinnerung; ihr einziges praktisches Ergebnis war, daß sie die Notwendigkeit einer Revolution mitaufgezeigt hat, daß sie praktisch die Organisationsformen der Arbeit in einer neugestalteten Gesellschaft vorgezeichnet und schließlich gezeigt hat, wie die Produktion in einer freien Gesellschaft aussehen und welcher Grad an Wohlstand in einer Gesellschaft erreicht werden könnte, in der die Produkte der Arbeit nicht von einer untätigen Minderheit usurpiert werden.

Die politische Tätigkeit der sozialistischen Partei ist sehr viel schwieriger zu definieren, da wir es hier mit zwei stark ausgeprägten allgemeinen Richtungen zu tun haben. Die einen raten den arbeitenden Klassen, sich an den laufenden politischen Geschäften zu beteiligen und selbst die politische Macht im Staate zu erobern. Die anderen dagegen empfehlen den Verzicht auf jede politische Aktion im Staat.

Das sind die verschiedenen theoretischen Konzeptionen von den politischen Formen der neuen Gesellschaft, die die beiden Schulen bilden, von denen die eine den autoritären Sozialismus, die andere den anarchistischen Sozialismus repräsentiert.

Da der autoritäre Sozialismus sich keine andere politische Form als den allmächtigen, zentralisierten und von gewählten Machthabern regierten Staat vorstellen kann, hofft er, die Revolution unter der Herrschaft des Eigentums dadurch verwirklichen zu können, daß er die Macht im Staate an sich reißt, um den gegenwärtigen Staat in einen kommunistischen Staat zu verwandeln.

Wir können diese Auffassung nicht teilen. Die ökonomische Revolution, die die Sozialisten wollen, ist eine zu tiefgreifende Revolution, als daß sie sich nach den Befehlen einer Zentralgewalt, wie groß auch immer deren Macht und ihr Revolutionseifer sein mögen, durchführen ließe. Nur als Dekret wird sie toter Buchstabe bleiben, wenn sie nicht vom Volk selbst an allen Orten des Landes durchgeführt wird. Und selbst wenn der kommunistische Staat auch einen Augenblick lang existieren könnte, würde er doch zwangsläufig die Keime der Auflösung in sich tragen, weil er nur einen Teil des sozialen Problems gelöst hätte, nämlich die Wirtschaftsreform.

Das gesamte Problem der Verwirklichung der menschlichen Freiheit - in seiner weitesten Bedeutung - bleibt bestehen, weil der Staat auf Grund seiner Verfassung und seiner praktischen Politik den Menschen nicht freimacht, sondern verschlingt; mehr noch als der bürgerliche Staat würde der kommunistische Staat das Individuum vernichten und mit Gewalt herrschen. Für uns umfaßt die Lösung des sozialen Problems nicht allein eine möglichst vollständige Verwirklichung des materiellen Wohlstands der Massen, sondern auch, für alle und für jeden einzelnen, die umfassendste Eroberung der Freiheit. Aus diesem Grunde sind wir keine Anhänger des kommunistischen Staates und folglich die Gegner einer Politik, die zwangsläufig zu diesem Staat hinführt.

Wir beschränken uns darauf, den Hauptgrund für unsere Auffassung von der sozialistischen Staatspolitik vorzubringen; die Kritik der Einzelheiten dieser Taktik bestätigt praktisch die allgemeine theoretische Begründung. Die ökonomische Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat macht jede selbständige politische Äußerung der Volksmassen sehr schwierig; der Einfluß des Milieus, der persönlichen, örtlichen und nationalen Verhältnisse, das kulturelle Niveau der Bevölkerung und ihre Vorstellungen bilden für die Verwirklichung eines sozialistischen Programms im Staate erhebliche Schwierigkeiten. Die enge Verbindung, die zwischen den staatlichen Institutionen, zwischen der Organisation und der legislativen wie exekutiven Wirksamkeit des Staates besteht, macht jede Reform illusorisch. Wenn man die Verfassung des Staates reformiert, haben die Folgen dieser Reform nur dann praktischen Wert, wenn man im Detail alle legislativen und exekutiven Verfügungen über die Rechtssprechung, das Polizeiwesen, das Militär, das öffentliche Bauwesen, die Finanzen, die Schulen, die Kirchen, die Staats- und Gerichtsverwaltung und den Genuß der politischen Rechte reformiert. Die Reform von Einzelheiten bleibt ohne spürbare praktische Wirkung, weil das ganze übrige System weiterhin mit seinem schweren Gewicht auf dem Volk lastet. Ja die Verhältnisse entwickeln sich weiter, unaufhörlich tauchen neue Probleme auf, neue Bedürfnisse machen sich bemerkbar, und der Staat kommt immer zu spät, um die Bedürfnisse des Volkes zufriedenzustellen, um die Schwierigkeiten zu meistern und auf der Höhe der Situation zu sein. Die menschliche Gesellschaft schreitet weiter, der Staat aber ist immer der Klotz am Bein. Die Untersuchung der heutigen Verhältnisse liefert uns einen eindeutigen Beweis für die Richtigkeit unserer Behauptungen.

Die staatssozialistische Partei hatte, um im legalen Bereich politisch aktiv zu werden, unglücklicherweise nur eine Möglichkeit, nämlich das sozialistische Programm in die Tasche zu stecken und ein Programm der unmittelbaren Praxis vorzuzeigen, von dem man hoffen konnte, daß es die Massen um sich sammeln würde; man entnahm den fortschrittlicheren Programmen der bürgerlichen Demokratie die entscheidenden Punkte, gab ihnen ein sozialistisches Gepräge, und auf diese Weise kamen die verschiedenen Sofortprogramme der legalen sozialistischen Partei zustande.

Der bürgerliche Staat akzeptiert nicht einmal den Kampf auf dieser friedlichen Ebene, und das einzige Land in Europa, in dem dieser legale Sozialismus eine Macht war - Deutschland -, bietet uns heute das Bild einer Reaktion auf der ganzen Linie. Der Rückzug der sozialistischen Partei und ihre Auflösung sind das Ergebnis eines sehr langen und sehr heftigen Kampfes (3).

Diese Taktik der Politik im Rahmen des Staates scheint uns also nicht der richtige Weg zu sein. Untersuchen wir nun die Taktik, die sich [jeder Politik] enthält. Als die Anarchisten die soziale Frage dadurch erweiterten, daß sie neben der Umwandlung des Eigentums auch die Zerstörung des Staates zu einem Teil derselben erklärten, dachten sie logisch, wenn sie sagten: Da wir die Zerstörung des Staates wollen, müssen wir, anstatt uns darum zu bemühen, ihn in die Hand zu bekommen, um ihn zu verändern, im Gegenteil versuchen, ihm aus dem Wege zu gehen, um alle moralischen und materiellen Kräfte zu schwächen, die ihm Hilfe bringen könnten. Hier liegt der Ursprung der heutigen apolitischen (4) Strömung. Leider befinden sich der gesunde Menschenverstand und die theoretische Logik nur selten in Übereinstimmung mit den realen Gegebenheiten. Wenn es auch theoretisch vollkommen richtig ist, daß der Staat an dem Tage aus der Geschichte verschwinden würde, an dem die Volksmassen die Berufung von Gesetzgebern, Regierungen und Verwaltern des Staates ablehnen, Verfassungen und Gesetze verwerfen und Steuerzahlung sowie Militärdienst verweigern würden, so ist es andererseits aber nicht weniger wahr, daß die Mehrzahl der Menschen praktisch die eine oder andere Erscheinung an der heutigen Gesellschaft und dem heutigen Staat schätzt. Es ist dieses praktische Band - das häufig nur Einzelheiten betrifft -, das das ganze System weiter bestehen läßt, unterstützt von den Massen trotz ihrer Unzufriedenheiten.

Der Staat zieht Steuern ein, und jeder ist darauf aus, weniger zu zahlen; er kümmert sich um die Rechtssprechung, und alle wollen ein gutes Gerichtswesen zu niedrigsten Gebühren; der Staat sorgt für Schulen, die Eltern wünschen für ihre Kinder eine bessere Erziehung, die sie nichts kostet; er kümmert sich um die Kirche, die einen wollen eine liberale Kirche, andere eine orthodoxe und ultramontane Kirche, wieder andere fordern, daß der Staat ihnen die Freiheit gibt, überhaupt keiner Kirche anzugehören; der Staat sorgt für die öffentliche Ordnung, und jeder will seine persönliche Sicherheit durch ihn gewährleistet wissen; er unterhält eine militärische Organisation, und viele halten es für ihre Pflicht, Soldaten zu sein, die einen als Berufssoldaten, die anderen als Milizsoldaten (5); der Staat kümmert sich um die Straßen, die Wälder, um die Gewässer, und alle diese Leistungen sollen dem Gemeinwohl dienen; der Staat gewährt das Recht, die Regierung, die Verwaltungsbeamten, die Gesetzgeber zu berufen, über die Institutionen, die Gesetze und die Budgets zu bestimmen, und alle sind stolz darauf, Bürger-Wähler zu sein.

Wenn jedes Individuum mit einer oder mehreren dieser praktischen Betätigungen eng verbunden ist, dann ist schon die ganze Masse an das System gekettet. Nur sehr wenige wagen zu denken oder auszusprechen, daß diese gemeinnützigen Leistungen auch sehr gut direkt von der frei organisierten menschlichen Gesellschaft selbst erbracht werden könnten.

Diese praktische Seite der Dinge stellt uns vor folgende wichtige Frage: Auf welchem praktischen Gebiet können wir tätig werden, ohne in das Räderwerk des Staates zu geraten, wenn wir die große Zahl, die Massen gewinnen wollen?

Da wir davon überzeugt sind, daß vor allem die mächtige Staatsorganisation, geschaffen zur Erhaltung des derzeitigen Regimes, dazu beiträgt, den Staat dadurch zu verewigen, daß sie ihn mit den ungeheuren ihr zu Gebot stehenden Kräften stützt, müssen wir wirklich alle sich bietenden Gelegenheiten ergreifen, um diese Kräfte zu schwächen, sei es dadurch, daß wir im Volke eine Oppositionsstimmung gegen den Staat wecken, wenn dieser auf neue Bereiche übergreift, sei es, daß man den Geist der Revolution weckt, wenn das Vorgehen der Regierung in ernsten Widerspruch zur öffentlichen Meinung gerät. Diese Gelegenheiten können nicht im voraus bestimmt werden. Es ist die Entwicklung der Verhältnisse selbst, die sie schafft. Aber es ist sicher, daß sich im Augenblick schon fast alle großen Staaten in ähnlichen Verhältnissen befinden, und wenn sich in den kleinen Staaten - wo sich das ganze politische Leben gewissermaßen in der Familie abspielt - in den letzten Jahren solche Gelegenheiten nicht geboten haben, dann ist es nicht weniger sicher, daß auch dort bald Konflikte zwischen dem Volk und seiner Regierung ausbrechen werden: Die Probleme allgemeinerer Art, die jetzt bei unseren Nachbarn diskutiert werden, werden zwangsläufig auch in den kleinen Staaten ihr Echo finden, und tatsächlich können wir schon gewisse Anzeichen künftiger Konflikte erkennen. Was die unter derartigen Umständen zu befolgende Taktik betrifft, so ist klar, daß sie von Fall zu Fall neu diskutiert und festgelegt werden muß, daß sie sich aber immer vom Geist der Verneinung gegenüber dem allmächtigen Staat und gegenüber dem Vorurteil, daß es eine Regierung geben müsse, leiten lassen soll. Wenn wir also, um nicht unsere Prinzipien und unsere Generallinie zu verleugnen und um uns nicht auf eine fruchtlose und schädliche Agitation einzulassen, unbedingt gegenüber allen Regierungsformen Oppositionspartei bleiben müssen, so können und sollen wir doch eine Partei sein, die sich für die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Forderungen der arbeitenden Klassen in der Gemeinde einsetzt. Und wenn wir bei dieser Art von Aktion die alten, eingefahrenen Wege verlassen, die darin bestehen, alles von einem Gemeinderat zu erwarten, der nichts anderes als eine Filiale des Staates ist, wenn wir uns also im Gegensatz dazu darum bemühen, den Forderungen der arbeitenden Klassen dadurch Gehör zu verschaffen, daß wir den Gemeinderäten die Initiative entreissen, wenn wir die Befugnisse der Gemeinde auf Kosten ihres Rates und des Staates ständig zu vermehren trachten - dann haben wir uns ganz auf ein praktisches Feld begeben, unser Handeln ist aber nicht mehr eine Bestätigung des Staates, sondern fortwährender Kampf gegen den Staat, und zwar nicht mehr nur theoretischer und abstrakter, sondern praktischer und konkreter Kampf, weil es dabei um Fragen geht, die die Menge direkt betreffen. Die politischen Gegensätze, die die Befolgung einer solchen Linie hervorbringen würde, könnten uns dann auf das Feld der Aufstände führen, der Vorläufer der sozialen Revolution. Diese Erhebungen müssen, wenn sie Erfolg haben sollen, wirklich vom Volk ausgehen, und die Volksmenge setzt sich nur für die unmittelbaren lokalen und regionalen Interessen ein. Wir können nur dann an der sozialen Revolution teilnehmen, wenn es uns gelingt, uns irgendwelche Tore dorthin zu öffnen. Wir sollten dabei die Eingänge meiden, die uns in die entgegengesetzte Richtung, d.h. zur Bejahung der Staatsgewalt führen, aber wir dürfen uns keines von den Toren verschließen, die zur Revolution führen: Die Organisationen, die Propaganda, die wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen Arbeitern und Kapitalisten, die Auflösung des Staates, die politischen Kämpfe zwischen den Interessen des Volkes und der Gemeinde einerseits und der mächtigen Staatsgewalt andererseits, die Volkserhebungen - alle diese Aktionsmittel erscheinen uns jetzt als Vorbereitung auf die revolutionäre Aktion, durch die wir dann unser Ziel erreichen werden.

Es bleibt uns noch die revolutionäre Taktik selbst zu betrachten.

In diesem Teil unserer Darlegungen brauchen wir uns nicht mehr damit aufzuhalten, die Notwendigkeit der sozialen Revolution zu beweisen. Hier geht es vielmehr um die Mittel, mit deren Hilfe diese Revolution verwirklicht werden soll.

Drei wesentliche Elemente erlauben uns die Feststellung, daß sich in der Gemeinde der Herd der sozialen Revolution befindet. Die alte jakobinische revolutionäre Tradition ist überlebt, und seit der Kommune von Paris hat sich eine neue revolutionäre Tradition um die Idee der Gemeindeautonomie und der Föderation gebildet. Die öffentliche Meinung neigt mehr und mehr zu dieser neuen politischen Form, da die Exzesse der Zentralisierung überall schwer auf der Bevölkerung lasten; die Entwicklung der materiellen Verhältnisse führte ebenso wie die neuen Strömungen der öffentlichen Meinung zu einer autonomen Gemeinde und zu der Föderation von Gemeinden. Wenn wir zu diesen allgemeinen Feststellungen noch die zwangsläufigen Folgen der Vorbereitungstaktik unserer Partei hinzufügen, dann können wir ganz gewiß sagen, daß die Volkserhebung in der Gemeinde ihren Anfang nehmen wird.

Wir müssen uns also mit den direkten revolutionären Maßnahmen in der Gemeinde beschäftigen.

Die Macht der Bourgeoisie über die Volksmassen hat ihren Ursprung in den wirtschaftlichen Privilegien der politischen Herrschaft und der juristischen Legalisierung dieser Privilegien. Man muß also die Macht der Bourgeoisie sowohl an ihren Wurzeln als auch in ihren verschiedenen Äußerungen treffen.

Folgende Maßnahmen scheinen uns für das Gelingen der Revolution ebenso unerläßlich wie der bewaffnete Kampf gegen seine Feinde:


Das wären die uns notwendig erscheinenden destruktiven Maßnahmen. - Wie müssen nun aber die konstruktiven Maßnahmen der Revolution aussehen?


So, glauben wir, sollte die revolutionäre Taktik der sozialistischen Partei in ihren wesentlichen Zügen aussehen. Eine Menge von Details kann in dieser Arbeit nicht im voraus behandelt werden, da sie von örtlichen und zeitlichen Umständen abhängig sind; es mag uns genügen, den allgemeinen Charakter unserer revolutionären Aktion angedeutet zu haben, so daß man weiß, wohin wir marschieren.

III. Neuordnung der Gesellschaft

Die einzelnen sozialistischen Schulen, die vor und während der Revolution von 1848 auftauchten, unterschieden sich vor allem dadurch, daß sie verschiedene fix und fertige Systeme für eine Neuordnung der Gesellschaft ausgearbeitet hatten. Angesichts der heutigen Situation mußten diese verschiedenen vorgefaßten Systeme für eine Neugestaltung der Gesellschaft zwangsläufig ausgesprochen utopischen Charakter annehmen. Aber was auch immer die bürgerliche Kritik an diesen Systemen aussetzen mag - die sozialistischen Strömungen in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts bilden eine wichtige Etappe auf dem Weg des menschlichen Fortschritts. Sie waren ein edler und großherziger Protest gegen die Ungerechtigkeiten in der bürgerlichen Gesellschaft; sie brachten eine Menge neuer Ideen, von denen die einen originell und die anderen sehr klug waren und die dann in der zeitgenössischen sozialistischen Arbeiterbewegung eine erste praktische Anwendung gefunden haben. Diese Ideen werden ihre richtige Anwendung allerdings erst in einer besser organisierten Gesellschaft finden können.

Wenn wir uns heute mit der Neuordnung der Gesellschaft beschäftigen, dürfen wir nicht mehr von einer vorgefaßten Meinung ausgehen, sondern von einer rationalen Analyse der heutigen Situation, neu aufgetauchter Prinzipien und der für die praktische Verwirklichung dieser Grundsätze zu befolgenden Taktik.

Wenn wir das, was wir in unserer Prinzipienerklärung und bei der Darlegung unserer Taktik gesagt haben, bedenken, dann erkennen wir, daß die Existenzgrundlage der bürgerlichen Gesellschaft das Privateigentum, ihre Organisationsweise aber die Autorität von einzelnen, mehreren oder von Minderheiten ist, die, hierarchisch gegliedert, mit Hilfe des Regierungsapparats fungieren; wir erkennen weiter, daß in einer nach den Kriterien der Wissenschaft organisierten neuen Gesellschaft die Existenzgrundlage das Kollektiveigentum, die Organisationsform aber die Autonomie und die freie Föderation sein müssen, die spontan aus den Bedürfnissen und Bestrebungen im Leben des Volkes entstehen. So wie die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft zwangsläufig eine Fülle von Institutionen zur Folge haben, die wir ja vor unseren Augen in Betrieb sehen, so werden auch neue Grundlagen der Gesellschaft neue soziale Institutionen nach sich ziehen; wir können diese nur aus den Prinzipien, denen die soziale Revolution zum Sieg verhelfen wird, abzuleiten versuchen.

Der Sozialismus hat das erreicht: Die Gesellschaft bewegt sich in Richtung auf die Abschaffung des Privateigentums und die kollektive Nutzung der Produktionswerkzeuge und der Produkte der Arbeit. Aber, wird man uns sagen, diese Umgestaltung kann sehr verschiedene Formen annehmen. Man kann versuchen, sie mit Hilfe des Staats, der Kommunen oder einzelner Gruppen durchzuführen, sie kann zu einem begrenzten Kollektivismus oder einem reinen Kommunismus führen. Wir wissen das, und um auf dem Boden der wissenschaftlichen Realität und der historischen Entwicklung zu bleiben, müssen wir Anarchisten sein. Nehmen wir an, die gesellschaftliche Umgestaltung würde mit Hilfe der autoritären und diktatorischen Revolutionslehre durchgeführt; diese Annahme würde eine weitere nach sich ziehen, nämlich daß die Volksmassen die Diktatur akzeptieren, die ihren Bestrebungen vollkommen gerecht wird; denn bedenken wir wohl, daß, wie mächtig eine revolutionäre Diktatur auch sein mag, ihre Tätigkeit doch nur dann von den Volksmassen akzeptiert wird, wenn sie nichts anderes als ein Widerhall der Gefühle und Bestrebungen der Masse ist. Es wäre aber naiv zu behaupten, daß der autoritäre Kommunismus die einhellig anerkannte Tendenz unserer Zeit verkörperte. Eine revolutionäre Diktatur, die ihr System auf dieselbe Weise wie andere Regierungen ihre Systeme aufzwingen will, würde daher auf unüberwindliche Widerstände stoßen.

Die Durchführung der gesellschaftlichen Neuordnung durch eine freie und spontane Aktion der Massen schließt demgegenüber keine Verwirklichungsmöglichkeit aus, die in Übereinstimmung mit der Geschichte, dem Temperament, der Kultur, den Ansichten und Neigungen der verschiedenen Völker steht. Wir könnten dann nebeneinander den kommunistischen Staat, die soziale Kommune und die anarchistischen Gruppen entstehen sehen. Und was ist daran Schlechtes? Da doch jedes Volk, jede Gruppe, jedes Individuum, das über die Freiheit zum Handeln verfügt, sich so organisieren könnte, wie es ihm paßt; die Erfahrung und der Lauf der Geschichte würden schon zeigen, welche Form die beste ist, und der menschlichen Zivilisation stände endlich in ganz praktischer Weise diese unermeßliche Macht, die Freiheit, zu Gebot. Der Kollektivismus erscheint uns als die allgemeine Form einer neuen Gesellschaft, aber wir arbeiten mit all unseren Kräften dafür, daß seine Organisation und sein Handeln frei sein werden.

Nun, da dieser entscheidende Punkt geklärt ist, werden wir einige Angaben über die neue Gesellschaftsordnung machen, die aus den revolutionären Kämpfen hervorgehen wird.

Wie wir schon erwähnt haben, soll die Gemeinde den Herd der Revolution bilden; und deshalb wollen wir auch bei unseren Aussagen über die Neuordnung mit der Gemeinde beginnen. Das aufständische Volk hat die Besitzer des Kapitals enteignet, die bestehenden Institutionen abgeschafft und die verschiedenen Maßnahmen getroffen, die für das Gelingen der Revolution notwendig waren. Das Volk ist kein abstraktes Wesen, sondern ein Gefüge von Gruppen und Persönlichkeiten. Diese Gruppen, diese Individuen arbeiten; der eine ist Uhrmacher, der andere Mechaniker, Schuhmacher, Landwirt etc.

Entsprechend der mehr oder weniger fortgeschrittenen Entwicklung eines jeden dieser Berufszweige hat auch die Arbeit einen mehr oder weniger ausgeprägt kollektiven Charakter angenommen; diese auf der gemeinsamen Tätigkeit beruhenden Vereinigungen haben in der Geschichte den Namen Berufsgruppen angenommen; jede Berufsgruppe hat das Werkzeug, die Rohstoffe und das für den Fortgang der besonderen Tätigkeit eines jeden Berufs notwendige Kapital in Beschlag genommen. Wir müssen hier genau den Charakter dieser Beschlagnahme bestimmen; wir verwenden diesen letzteren Begriff, um zum Ausdruck zu bringen, daß es sich hier nicht um eine radikale Aneignung, sondern einfach nur um eine relative Inbesitznahme handelt. Denn das Eigentum zugunsten einer Gruppe ist aus der Perspektive der Wirtschaftswissenschaft ebensowenig zu dulden wie das Privateigentum selbst. Das Eigentum muß allen gehören, d.h., es muß jeden Privatcharakter verlieren, und zwar sowohl im Hinblick auf das Individuum als auch im Hinblick auf die Gruppe, die Kommune und die Föderation; es muß gleichsam in eine physische Kategorie übergehen und universellen Charakter haben; allein die äußeren Erträge aus seiner Nutzung können Gegenstand von Verträgen zwischen den Gruppen, zwischen diesen und der Kommune, zwischen den Kommunen untereinander und mit den Föderationen sein. Dieser universelle Charakter des Eigentums ist nicht allein eine von uns vertretene theoretische Konzeption, sondern auch das voraussichtliche Ziel der unvermeidlichen Entwicklung in einer noch weiter fortgeschrittenen Gesellschaft.

Wenden wir uns wieder der Frage der Organisation zu. Alle Berufsgruppen der Kommune bilden sich völlig zwanglos. Die revolutionäre Begeisterung wird zweifellos alle Unstimmigkeiten, die vorher zwischen den verschiedenen Gruppierungen innerhalb desselben Berufszweigs herrschen mochten, beseitigen, und wir werden sicher die Entstehung einer einzigen Organisation für jeden Beruf erleben; es kann natürlich auch sein, daß es anders kommt und daß sich verschiedene Körperschaften für ein und denselben Beruf bilden; das bereitet aber keine Schwierigkeiten und ist nichts anderes als eine Folge des Prinzips der Autonomie.

Die Funktionen der Berufsgruppen bestehen im wesentlichen in der Organisation aller Einzelheiten, die die besondere Tätigkeit des jeweiligen Berufes betreffen; Wartung des Handwerksgeräts, Nutzung der Räumlichkeiten, Verteilung und Bezahlung der Arbeit, Hygiene und Sicherheit des Arbeiters im Industriebetrieb, Vervollkommnung der Arbeitstechniken, Anwendung neuer Erfindungen, Schlichtung in Konfliktsfällen.

Ehe wir fortfahren, müssen wir auf einen Einwand eingehen. Gesetzt den Fall, ein Individuum, das in irgendeinem Beruf arbeitet, weigert sich, überhaupt irgendeiner Gruppe beizutreten; ihr könnt es nicht dazu zwingen, da ihr ja die vollständigste Autonomie wollt; aber nun bleibt es selbst außerhalb der organisierten Gruppen und weigert sich, an den Wohltaten dieser Organisation teilzuhaben. Wenn es auch durchaus möglich ist, daß derartige Fälle auftauchen, so werden es doch auf jeden Fall Ausnahmen ohne praktische Bedeutung sein. Der gesunde Menschenverstand und die Not weisen die Menschen darauf hin, wo ihr wahres Interesse liegt, und eine mächtige Entwicklung des Wohlstandes und der Zivilisation werden eine ständig zunehmende Solidarität zur Folge haben.

Die Egoisten und diejenigen, die sich aus persönlicher Neigung heraus isolieren, mögen sich so, wie es ihnen gefällt, vom allgemeinen Leben fernhalten. Das gilt nicht nur für den einzelnen, sondern auch für Gruppen, Kommunen und Föderationen.

Wenn die Berufsgruppen gegründet sind, gilt es das örtliche Leben zu regeln. Das Organ dieses örtlichen Lebens wird die Föderation der Berufsgruppen sein, und diese örtliche Föderation wird dann die zukünftige Kommune konstituieren. Wird es eine Generalversammlung aller Einwohner oder werden es Delegationen der Berufsgruppen, die dann ihren besonderen Versammlungen Bericht erstatten, sein, die die Satzung der Kommune abfassen werden? Es erscheint uns kindisch, uns auf das eine oder das andere System festzulegen; beide Systeme werden ohne Zweifel entsprechend den Traditionen und der besonderen Bedeutung der Kommunen angewendet werden. Wir glauben, daß es nützlich ist, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß ganz allgemein die mehr oder weniger demokratische Praxis der Generalabstimmung in einer nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten organisierten Gesellschaft, d.h. in einer Gesellschaft, in der die realen Gegebenheiten und nicht mehr künstliche und leere Formeln die Grundlage des sozialen Lebens bilden, immer mehr an Bedeutung verlieren wird.

Welche Funktionen wird die Kommune haben? Erhaltung des ganzen Reichtums eines Ortes; Kontrolle über die Verwendung der verschiedenen Kapitalien - Bodenschätze, Grund und Boden, Gebäude, Werkzeuge, Rohstoffe - durch die Berufsgruppen; Kontrolle über die Organisation der Arbeit, soweit das allgemeine Wohl davon berührt ist; Regelung des Austausches und eventuell auch der Verteilung und des Verbrauchs der Produkte; Unterhaltung der Straßen, der Gebäude, der Fußwege, der öffentlichen Anlagen; Einführung der allgemeinen Unfallversicherung; Sanitätswesen; Sicherheitsdienst; örtliche Statistik; Sorge um die Unterhaltung, Unterrichtung und Erziehung der Kinder; Förderung von Künsten, Wissenschaften, Erfindungen und deren Anwendung.

Das Leben in den Orten soll in diesen verschiedenen Zweigen der Aktivität nach unserem Wunsch ebenso frei sein wie die Berufsorganisation; wir fordern die freie Organisation, sei es von Individuen, Gruppen oder Ortsteilen, damit jene lokalen Dienstleistungen, die wir eben aufgezählt haben, zur Zufriedenheit erfüllt werden können.

Damit wir nicht in die Irrtümer zentralisierter und bürokratischer Verwaltungen verfallen, halten wir es für besser, daß die allgemeinen Interessen der Kommune nicht von einer einzigen lokalen Verwaltung wahrgenommen werden, sondern von verschiedenen Sonderausschüssen, die jeweils einen Tätigkeitsbereich betreuen und die direkt von den Organisatoren eines solchen lokalen Verwaltungszweigs gebildet werden. Dieses Verfahren würde den Lokalverwaltungen ihren Regierungscharakter nehmen und dank seiner Unbestechlichkeit das Prinzip der Autonomie bei bestmöglicher Wahrung der lokalen Interessen vollkommen unangetastet lassen.

Wenn die Kommune konstituiert ist, müssen wir uns mit dem Problem der allgemeinen Interessen der Bevölkerung befassen. Wir werden die vollständige Zufriedenstellung der allgemeinen Interessen wohl am besten durch die regionale Föderation der Kommunen und dann durch den internationalen Zusammenschluß der regionalen Föderationen erreichen können. Aber wenn die Völker gewisse allgemeine Interessen zu wahren haben, dann hat auch jede Berufsgruppe ihrerseits wieder besondere allgemeine Interessen; daher muß es auch regionale und internationale Berufsverbände geben.

Auch bei dieser Organisation der Föderationen wird das Prinzip des freien Zusammenschlusses streng gewahrt werden, damit man nicht wieder in den alten Fehler einer zentralisierten Organisation im Staat verfällt.

Die Berufsverbände beschäftigen sich mit der Vervollkommnung der Werkzeuge und des Arbeitsprozesses, mit der den jeweiligen Berufszweig betreifenden Statistik, mit dem Normalwert der Produkte und mit den Märkten; sie ergänzen von ihrem besonderen Standpunkt aus die Tätigkeit der Kommunen und der regionalen Föderationen.

Die regionalen und internationalen Föderationen widmen sich in den Grenzen ihrer Tätigkeit der Erhaltung und der Steigerung des gesellschaftlichen Reichtums in allen seinen Formen; dem Austausch von Waren in großem Stil; dem Verkehr: Straßen, Post, Eisenbahn, Dampfer, Telegraphendienst; der Erhaltung von Flüssen, Strömen, Wäldern; den großen Landwirtschafts- und Industrieprojekten, die von allgemeinem Interesse sind; der allgemeinen Hygiene; der Sicherheit der Bevölkerung; den allgemeinen Versicherungen; den großen Bildungsstätten; der allgemeinen Statistik; der Schlichtung von Konfliktfällen, die zwischen den Kommunen und den Föderationen auftauchen können; der Förderung bedeutenderer künstlerischer, wissenschaftlicher und erfinderischer Projekte; der Pflege internationaler Beziehungen und Kontakte.

Bei der Wahrnehmung dieser verschiedenen öffentlichen Aufgaben wird man, ebenso wie in der Verwaltung der Kommune, das Prinzip der Spezialisierung anwenden; dadurch werden wir es vermeiden, einem gegen den anarchistischen Sozialismus gerichteten Vorwurf Recht zu geben, daß er nämlich durch die Wahrnehmung der allgemeinen Interessen in eine neue Staatsform verfalle.

Wir haben damit die großen Linien einer neuen Gesellschaftsordnung vorgezeichnet. Was Einzelheiten angeht, so würde jeder Punkt eine besondere Abhandlung verlangen. Die Erfahrungen und die historische Entwicklung werden diese Details der Verwirklichung und auch die allgemeineren Prinzipien besser bestimmen als das unsere heutigen theoretischen Konzeptionen zu tun vermögen.

Wenn es um die Zukunft geht, sind wir mehr noch als in allen anderen Dingen Gegner absoluter Festlegungen. Deshalb müssen wir begreifen, daß die wahre Konzeption die der historischen Erfahrung ist.

Wir wissen, was wir zu tun haben, um die bürgerliche Gesellschaft zu Fall zu bringen; wir besitzen eine allgemeine Vorstellung von einer neuen Gesellschaftsordnung; das genügt uns, denn wir wollen eine kämpferische Partei und nicht eine Partei von Träumern sein.

IV. Die Pflichten der Sozialisten

Die Aktivität der sozialistischen Partei ist nur dann möglich, und wirklich fruchtbar, wenn jeder Sozialist gegenüber der Partei die persönlichen Pflichten erfüllt, die sich aus der großen historischen Aufgabe ergeben, die der sozialistischen Partei zugefallen ist.

Wir wollen eine neue Welt, und wir müssen uns darum bemühen, neue Menschen zu werden, aber nicht in dem Sinne, in dem die Anhänger von Sekten dies Wort gebrauchen, und auch nicht durch Absonderung von den derzeitigen Lebensgewohnheiten des Volkes, sondern dadurch, daß wir mitten in dieser Welt lebendige Beispiele für die Ziele werden, die wir vertreten.

Uns ein möglichst hohes intellektuelles und moralisches Niveau anzueignen, sollte uns nicht allein Pflicht, sondern unabdingbares Bedürfnis sein. Wenn die siegreiche Revolution des Volkes der Menschheit dienen soll, dann darf sie nicht nur der Triumpf eines gerechten materiellen Appetits der Massen, sondern dann muß sie auch der Triumpf gesunder Moralvorstellungen und der Gerechtigkeit, der Wissenschaft, der Schönheit und des Wahren sein. Wir müssen also selbst die Moral, die Gerechtigkeit, die Wissenschaften, die Schönheit und das Wahre begreifen, wenn wir ihnen zum Sieg verhelfen wollen: Wir müssen folglich in unserem persönlichen, praktischen Leben einen großen Teil [der Zeit] dem Studium und der Beobachtung widmen, um jeder für sich der Größe des Auftrags unserer Partei würdig zu werden.

Die Solidarität ist eine der wesentlichsten Voraussetzungen für den Erfolg; wir müssen uns um eine umfassende Verwirklichung der Solidarität bemühen, und zwar nicht nur unter uns, sondern vor allem gegenüber den Schwachen und Unterdrückten, die noch nicht zu uns gehören; gewöhnen wir uns daran, daß wir uns immer gegenseitig in moralischer und materieller Hinsicht unterstützen; öffnen wir unser Herz den Klagen der Unglücklichen. Vergessen wir nicht, daß ein starker Charakter und eine bedeutende Intelligenz nur dann wirklich fruchtbar sind, wenn sie durch die Großzügigkeit des Herzens ergänzt werden. Die Solidarität darf für uns nicht allein ein wissenschaftliches Gesetz, sondern sie muß auch ein moralisches Gesetz und ein menschliches Gefühl sein.

Der persönliche Einsatz in der Partei soll in einer fortwährenden Beschäftigung mit der Organisation, der Propaganda und in der Bemühung bestehen, die Grundsätze der Partei zu verwirklichen. Die Hingabe, die Selbstverleugnung, das persönliche Opfer, die Standhaftigkeit sind Tugenden, die wir selbst üben und zu denen wir die anderen anregen sollen. Wir müssen begreifen, daß das Individuum alleine gar nichts ist und daß es nur durch das Kollektiv eine Chance hat; kämpfen wir also energisch gegen eitle und von persönlichem Ehrgeiz geleitete Anmaßungen.

Bemühen wir uns um die Liebe zur Menschheit. In diesem edlen Gefühl werden wir eine Macht gegen die Neigungen des persönlichen Egoismus, gegen die familiären, lokalen und patriotischen Traditionen finden; wir werden die heilige Leidensgeschichte der großen Opfer in uns nachklingen fühlen; wir werden von der mannhaften Begeisterung der Menschen erfüllt werden, die nach der Verwirklichung eines edlen Zieles streben.

[Nachwort]

Dieser Programm Vorschlag wurde auf dem Jahreskongress der Juraföderation, der am 9. und 10. Oktober 1880 in La Chaux-de-Fonds stattfand, diskutiert, und der Kongreß faßte einstimmig folgenden Beschluß:

«Der Kongreß, der die Lesung des von der sozialistischen Arbeiterföderation des Distriktes von Courtelary vorgelegten Denkschrift angehört hat, empfiehlt diese Schrift allen Sozialisten und allen denen, die sich für soziale Fragen interessieren. Der Kongreß erklärt jedoch, daß zwei Punkte dieses Programms hätten deutlicher dargestellt werden können.

Die Aussagen über die Kommune können nämlich den Eindruck erwecken, als ob es darum ginge, die gegenwärtige Form des Staates durch eine beschränkte Form in Gestalt der Kommune zu ersetzen. Wir wollen aber, daß jede Form des Staates, ob allgemein oder beschränkt, verschwindet, und die Kommune ist für uns nichts anderes als die Zusammenfassung der Grundform freier menschlicher Gruppierungen.

Die Idee des Kollektivismus hat zu zweideutigen Interpretationen Anlaß gegeben, und es ist wichtig, daß diese aus der Welt geschafft werden. Wir wollen den Kollektivismus mit all seinen logischen Konsequenzen, nicht allein in bezug auf die kollektive Aneignung der Produktionsmittel, sondern auch in bezug auf den kollektiven Konsum der Produkte. Folglich wird der anarchistische Kommunismus (8) die notwendige und unvermeidbare Folge der sozialen Revolution und das Kennzeichen der neuen Zivilisation sein, die mit dieser Revolution beginnen wird.

Wir wünschen, daß diese wichtige Frage noch einmal untersucht wird und daß dabei als Basis für die Beweisführung von der Anwendung dieser Theorien in einer ganz bestimmten Kommune ausgegangen wird und alle für diese Kommune konstitutiven Elemente, ob sie nun die Anwendung der Theorie erleichtern oder erschweren, berücksichtigt werden.

Der Kongreß wünscht, daß im Interesse der Propaganda der Arbeiterbewegung eine Broschüre publiziert wird, die die von der sozialistischen Arbeiterföderation des Distriktes von Courtelary vorgelegte Denkschrift zusammenfaßt.»

Zu Adhémar Schwitzguébel

Kropotkin schildert uns seinen Freund und Mitarbeiter Adhémar Schwitzguébel als «das Muster eines lebensfrohen, lebhaften, scharfsinnigen Uhrmachers französischer Zunge aus dem Berner Jura [...]. Seine Fähigkeit, eine schwierige wirtschaftliche oder politische Frage richtig zu erfassen und nach reichlichem Durchdenken vom Standpunkt des Arbeiters zu beleuchten, ohne daß sie dabei das geringste von ihrer tiefsten Bedeutung verloren hätte, war wunderbar. Weit und breit kannte man ihn in den Bergen, und bei den Arbeitern aller Länder erfreute er sich großer Beliebtheit.» (9)

Zusammen mit dem Lehrer James Guillaume und dem Uhrmacher August Spichiger gehörte der 1849 in Sonvilier geborene Schwitzguébel zu den führenden Persönlichkeiten der Juraföderation. Diese war 1870 aus der Spaltung der «Fédération Romande » hervorgegangen, zu der sich die westschweizerischen Sektionen der IAA 1869 zusammengeschlossen hatten (10). Trotz ihres Bekenntnisses zu den Ideen Bakunins achteten Guillaume, Spichiger und Schwitzguébel — alle drei gehörten Bakunins «Internationaler Bruderschaft» an und waren persönlich mit ihm befreundet- sorgfältig darauf, ihre Unabhängigkeit zu wahren und die Juraföderation nicht zum Werkzeug Bakuninscher Manipulationen werden zu lassen.

Schwitzguébel, der an verschiedenen Kongressen der IAA und ihrer Nachfolgerin, der autonomistischen Internationale, teilnahm, war wie alle Mitglieder der Juraföderation von den Ideen der Autonomie, der Föderation und des Kollektivismus durchdrungen. Vor allem an der von de Paepe auf dem Brüsseler Kongreß der autonomistischen Internationale (September 1874) ausgelösten Diskussion über den Weg zur zukünftigen föderativen Gesellschaftsordnung hat Schwitzguébel sich als Verteidiger des freien und spontanen Übereinkommens gegenüber der von de Paepe empfohlenen kollektiven Übergangsdiktatur lebhaft beteiligt. Für ihn war die Wahrung der «Autonomie des Individuums in der Gruppe, der Gruppe in der Kommune, der Kommune in der Region und der Region in der < Internationalité >» das entscheidende Kriterium (11).

Die erste Vision einer auf diesem Prinzip begründeten nachrevolutionären Gesellschaft verfaßte Schwitzguébel 1876 (12); 1880 folgte dann die Denkschrift für den Jura-Kongreß des gleichen Jahres (obiger Text), das letzte große Dokument des jurassischen kollektivistischen Anarchismus.

Für die Autorschaft Schwitzguébels (die Denkschrift wurde anonym veröffentlicht) sprechen nicht nur konkrete Hinweise (13), sondern auch die deutlich zum Ausdruck kommenden syndikalistischen Tendenzen. Denn Schwitzguébel war der bedeutendste Theoretiker und Organisator des jurassischen Syndikalismus, der viele im französischen Syndikalismus der achtziger und neunziger Jahre verwirklichte Ideen vorwegnahm (14). Der Niedergang der Juraföderation zwischen 1876 und 1881, der in erster Linie auf ökonomische Gründe — die Umstellung der Uhrenindustrie auf den Fabrikbetrieb — zurückzuführen war, und der im Rückzug Guillaumes, Spichigers und Schwitzguébels handgreifliche Formen annahm, hat eine Weiterführung dieser syndikalistischen Ansätze in der Schweiz verhindert. Schwitzguébel jedoch blieb gerade seinen syndikalistischen Ideen auch dann treu, als er nach Jahren der Zurückgezogenheit 1891 romanischer Adjunkt des Arbeitersekretariats der Eidgenossenschaft wurde, dessen Aufgabe in der Wahrnehmung der Arbeiterinteressen gegenüber den Behörden bestand. Er starb am 23.Juli 1895 in Biel.

Fußnoten:
1.) Programme Socialiste. Mémoire présenté au Congrès Jurassien de 1880 par la Fédération Ouvrière du District de Courtelary. Genf 1880. Die deutsche Übersetzung (1971) stammt von Ursula Lange. Zur Autorschaft Schwitzguébels vgl. Einführung II, S. 145.
2.) Das auf D. Ricardo zurückgehende und in Deutschland besonders von F. Lassalle vertretene «eherne Lohngesetz» besagt, daß sich der Lohn immer nur kurzfristig vom Existenzminimum, d.h. den Reproduktionskosten der Arbeit, entfernen kann. Über­steigt der Lohn das Existenzminimum, dann führen vermehrte Eheschließungen und erhöhte Kinderzahl zu wachsendem Arbeitsangebot, das den Lohn auf das Existenz­minimum herunterdrückt. Sinkt der Lohn auf das Existenzminimum, gehen Ehe­schließungen und Kinderzahl zurück, das Arbeitsangebot wird geringer und der Lohn steigt wieder bis zum Existenzminimum.
3.) Schwitzguebel steht hier noch ganz unter dem Eindruck des im Oktober 1878 erlassenen Sozialistengesetzes, das die deutschen Sozialdemokraten schwerster Verfolgung aussetzte. Da die Sozialdemokraten keinen Widerstand leisteten, sondern ihre Organisation durch Anpassung an die neuen Verhältnisse zu bewahren suchten, konnte nach außen leicht der Eindruck entstehen, das Ende der SPD sei gekommen. Als die Sozialistengesetze 1890 vom Reichstag nicht mehr verlängert wurden, zeigte sich, daß auch Schwitzguebels Prognose falsch gewesen war.
4.) Im französischen Original: abstentionniste.
5.) Der Schweizer Schwitzguebel hat hier offenbar das Milizsystem seiner Heimat im Auge. Der überzeugte Autoritätshasser und Kriegsgegner war übrigens selbst Offizier und nahm als Leutnant in einem Berner Bataillon an der Grenzbesetzung 1870/71 teil. Vgl. Rolf R.Bigler, Der libertäre Sozialismus in der Westschweiz, Köln/Berlin 1963, S. 198.
6.) Im französischen Original: corps de métiers.
7.) Im französischen Original: la permanence de la révolution; ein Begriff, der heute besonders aus der Auseinandersetzung zwischen Trotzki und Stalin in den zwanziger Jahren bekannt ist.
8.) Zur Einordnung dieses Textes an der Schwelle vom kollektivistischen zum kommunistischen Anarchismus vgl. Einführung III, S. 219
9.) P. Kropotkin, Memoiren, a.a.O., $.461-462.
10.) Vgl. dazu die umfassende Studie von Rolf Bigler, Der libertäre Sozialismus in der Westschweiz, Köln/Berlin 1963.
11.) A. Schitzguébel, «Gouvernement et administration », in: Almanach du Peuple, [Le Locle] 1874, S. 5-11, hier S.8.
12.) Le radicalisme et le socialisme. Conference publie, St. Imier 1876.
13.) M.Nettlau, Bibliographie de l’Anarchie, Brüssel/Paris 1897, S. 58. Siehe auch Nettlau II, S. 305, mit Hinweis auf ein Bakunin-Manuskript, das Schwitzguébel seiner Denkschrift zugrunde gelegt haben soll.
14.) R. Bigler, a.a.O., S. 186-200.

Aus: Oberländer, Erwin (Hg.): Dokumente der Weltrevolution. Der Anarchismus. Walter-Verlag 1972. Digitalisiert von www.anarchismus.at