Rudolf Oestreich - Die Anarchisten zur gegenwärtigen Lage (1931)

Die gegenwärtige Lage, und unsere Stellung dazu  

Schwerste wirtschaftliche und politische Reaktion lastet auf uns; die derzeitige Regierung der deutschen Republik - dem Namen nach gibt es in der Tat eine solche - ist von Etappe zu Etappe, von Notverordnung zu Notverordnung, reaktionärer geworden, hat den letzten Rest sogenannter Demokratie, auf den die deutschen Republikaner so stolz waren, mit einigen Federstrichen beseitigt und unterdrückt immer mehr mit Ausnahmegesetzen schlimmster Art, ohne auf den Widerstand der Verfassungsparteien zu stoßen, die deutsche Arbeiterschaft, drückt das Existenzniveau derselben auf die denkbar niedrigste Stufe und schafft damit Zustände, wie sie selbst während der glorreichen Kohlrübenperiode des Weltkrieges nicht schlimmer zu finden waren. Der einzige Unterschied ist der, daß damals die Arbeiterschaft nichts kaufen konnte, obwohl sie zum größten Teil kaufkräftig war, weil die vorhandenen Lebensmittel reserviert blieben für Armee und Schieber, und daß im Gegensatz dazu heute die schamlos ausgeplünderten Arbeiter und noch mehr die Arbeitslosen, nichts kaufen können, weil sie kein Geld haben, obwohl Waren im Überfluß vorhanden sind. Das ist ja das eigentliche Wesen des kapitalistischen Systems, daß es trotz fortgeschrittenster Technik nicht in der Lage ist, auch nur die elementarsten Bedürfnisse gerade derjenigen zu befriedigen, die es erhalten, weil es lediglich auf Profit gegründet ist. 

Der Kapitalismus und seine Nutznießer gehen über Leichen. Was kümmert sie der Bedarf, was die Not der arbeitslosen Millionen. Profit unter allen Umständen, Profit in erster, und zweiter und jeder Hinsicht. In diesem Zeichen arbeitet der Kapitalismus und in diesem Zeichen führte er die Arbeiterschaft in den jetzigen Zustand des Elends hinein.

Unterstützt wurde er in seinem Beginnen durch den Staat, d.h. durch Regierung und staatliche Gewaltinstitutionen. Das bekannte Wort: "Der Staat ist der Hausknecht der besitzenden Klasse", ist jetzt in einer Weise Wirklichkeit geworden, die sich selbst der schwärzeste Pessimist nicht hätte träumen lassen. Noch niemals hat der Staat eine solche Macht entfalten dürfen wie gerade heute und er tut dies, trotz heuchlerischer Gegenbeteuerung der Besitzenden, in vollstem Einverständnis mit denselben. Vermehrte Staatsmacht, und damit verbunden, vermehrte Unterdrückung, kennzeichnen den Zustand, in dem wir uns befinden. 

Geradezu verzweifelt ist die Lage der arbeitenden Klasse in Deutschland. Lohnreduzierungen von unerhörtem Ausmaß haben im Laufe der letzten Jahre stattgefunden. Die 4. Notverordnung diktierte abermals eine zehnprozentige vom 1. Januar 1932 ab. Es soll diese Schröpfung angeblich die leiste sein, aber die beispiellos dastehende Unfähigkeit der Brüningregierung dürfte von vornherein den gewünschten Erfolg verhindern. Inwieweit hier neben der Unfähigkeit die Absicht mitspielt, dem Ausland zu beweisen, daß Deutschland nicht zahlen könne - manche behaupten auch es könne schon, aber es wolle nicht -, ist hier von untergeordneter Bedeutung. Wesentlich ist, daß Regierung sowohl wie Kapitalisten ihre totale Unfähigkeit, die Krise zu beheben, bewiesen haben und jetzt mit Doktor-Eisenbart-Kuren diese Tatsache zu bemänteln versuchen. Eine bekannte französische Bankzeitschrift schrieb im Herbst dieses Jahres ironisch: "In den Reden der deutschen Minister ist wiederholt von "Wirtschaftsführern" gesprochen worden. Wir möchten gern wissen, wo eigentlich diese "Führer" in Deutschland zu finden sind." Und in der Tat - das deutsche Unternehmertum hat in ruhigen Zeiten ohne besondere Gehirnschmalzvergeudung seine Geschäfte gemacht, in der Krisenzeit aber vollkommen versagt. Stellt heute ein Unternehmen seine Zahlungen ein, so ist es beileibe noch nicht bankerott; im Gegenteil, dann beginnt erst seine Glanzzeit. Vater Staat, der mit Umsicht und Energie den Arbeitern die Taschen leert, saniert jetzt diese Unternehmen und setzt damit eine Prämie auf die Unfähigkeit aus. So war es beispielsweise bei Borsig, der z. Zt. zum zweiten Male vom Staate "gestützt" wird, so beim Karstadt-Konzern, der schon einmal 5 Millionen erhielt und der kürzlich seine Jahresbilanz veröffentlichte, die mit dem kleinen Verlust von 24 Millionen Mark abschließt.

Man sollte annehmen, daß eine Arbeiterpartei, die das Wort Sozialismus in ihrem Programm zu stehen hat, eine solche Wirtschaft und ihre Nutznießer mit aller Energie bekämpfen müßte. Die Sozialdemokratie tut dies nicht nur nicht, sie fordert im Gegenteil vom Staate die Erhaltung und Förderung der kapitalistischen Wirtschaft, sie vertritt in ihrer Presse und auf ihren Vertretertagungen immer wieder den bürgerlichen Standpunkt, daß das Wohlergehen der Arbeiterschaft nur dann gesichert sei, wenn die deutsche Wirtschaft - lies: das kapitalistische Ausbeutungssystem - blühe und gedeihe. 

Diese Partei, deren Führer die Anarchisten so oft als kleinbürgerlich bezeichnen, ist nun selbst zu einer kleinbürgerlichen Reformpartei herabgesunken. Eine bürgerliche Zeitschrift, "Die Wirtschaft", schreibt in ihrer Nummer vom 5. Juni den Rettern des Ausbeutungssystems folgendes interessante Kapitel ins Stammbuch:

"Kein Zweifel: der Kreis derer, die die Tage der Herrschaft des kapitalistischen Systems gezählt finden, nimmt zu. Seine Alterserscheinungen, die gerade in Deutschland besonders stark zu beobachten sind, treten in der gegenwärtigen allgemeinen Wirtschaftskrise lebhaft hervor. Viele Erscheinungen der letzten Jahre lassen sich in der Tat nicht mit dem Bilde des gesunden, kraftstrotzenden, autoritären Kapitalismus verbinden, wie wir es alle noch aus den Vorkriegstagen kennen. Fragt man nach den Gründen, die diese Entwicklung verursachten, so muß man zunächst eine verneinende Feststellung machen: Es ist nicht die Lehre von Karl Marx, die dem Kapitalismus nicht bekommt ..."

"... In jenen Tagen aber, in denen manche glaubten, das Geläut der Friedensglocken läute gleichzeitig das Ende der kapitalistischen Wirtschaft ein, - waren es gerade die Träger der marxistischen Bewegung, die den Kapitalismus gegen die anstürmenden Wellen eines kommunistischen Wirtschaftssystems verteidigten."

Die Sozialdemokratische Partei also ist die Verteidigerin des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Sie hat es gestützt durch ihre Kriegspolitik, sie hat es gerettet 1918 durch die Herbeirufung der alten Offiziersklique zur Niederwerfung der aufständischen Arbeiter, sie sicherte es während der Inflationsperiode und sie toleriert es heute, indem sie die Durchführung der reaktionären Notverordnungen durch die Brüning-Regierung durch tatkräftige Mithilfe erleichtert. Wie kommt es nun, daß auch heute noch große Massen der Arbeiter, trotz aller Enttäuschungen, trotz des offenkundigen Verrats der Führer dieser Partei und trotz der Preisgabe auch der letzten sozialistischen Grundsätze ihr Gefolgschaft leisten? 

Wer das Wesen einer politischen Partei kennt, weiß, daß Einfluß und Wachstum derselben in einem bestimmten Verhältnis steht zu der Zahl der Posten und Futterkrippen, die sie zu vergeben hat und die sie bei zunehmendem Wachstum noch zu vergeben verspricht. Die sozialdemokratische Partei hat einem Riesenschwarm von Strebern das Unterkommen in gute und sehr gut bezahlte Posten ermöglicht. Sieht man ab von den Tausenden, die in den Redaktionen und Verlagen in den Reichs-, Länder- und Kommunal-Parlamenten sitzen, die als Minister, Ministerialräte und Direktoren, als Regierungspräsidenten, Polizeipräsidenten, Land- und Stadt-Räte versorgt sind, so bleibt noch immer jene ungeheure Zahl, die in den Gewerkschaften und Genossenschaften angestellt sind und jene noch größere Zahl, die in den Arbeits- oder besser gesagt: Arbeitslosen-Ämtern untergeschoben wurden. Diese letzteren leben von der Arbeitslosigkeit, vom Elend und von der Not der Millionen und die meisten von ihnen denken mit Grausen daran, daß eines Tages die Arbeitslosigkeit aufhören könnte und sie dadurch brotlos würden. Ihr tägliches Gebet lautet: "O Herr, erhalte die Arbeitslosigkeit und unsere Posten."

Diese Armee von Versorgten hat natürlich das größte Interesse am Gedeihen der Partei und zu ihnen gesellt sich ein ähnlich großer Schwarm von Postenanwärtern, die teils sehnsüchtig auf eine Pfründe warten, teils ungestüm nach ihr hindrängen. Sie alle treiben der Partei Mitglieder zu, weil sich durch jedes neugeworbene Mitglied ihre Chancen verbessern. Diese Leute kümmern sich nicht um das Geschrei derer, die von Prinzipienverrat sprechen, sondern sie fragen kurz: "Fördert die Taktik der Partei meine Futterkrippenpolitik?"

Aus allen diesen Gründen ist die SPD heute noch eine große Partei und auch die verschiedentlichen Absplitterungen haben ihr nur wenig geschadet. Sie ist gut fundamentiert; nämlich auf den sicheren Grundpfeilern: Eigennutz auf der einen und Dummheit auf der anderen Seite. Ihr Ziel ist: Eroberung der Staatsmacht. Dasselbe Ziel verfolgen die Kommunisten, wenn auch auf etwas andere Weise. Sie verschmähen die Taktik ihrer marxistischen Brüder von der SPD und wollen durch Aufstand und Revolution zur Macht gelangen. Einen Vorgeschmack von dem was uns blühen würde, wenn sie in Deutschland die Macht hätten, erhalten wir ab und zu, wenn ihre Anhänger uns lakonisch erklären: "Wenn wir zur Macht gelangen, seid ihr die ersten, die an die Wand gestellt werden."

Was sie dort tun, wo sie die Macht bereits haben, nämlich in Rußland, wissen wir bereits. Der schäbige Rest von Bewegungsfreiheit, den wir im kapitalistisch-bürgerlichen Staat besitzen, ist dort beseitigt. Parteidiktatur - unter der verlogenen Bezeichnung: "Diktatur des Proletariats" geht sie vonstatten - unterdrückt dort jede freiheitliche Regung. Anstelle des sozialistischen Aufbaues trat dort der Staatskapitalismus. Die deutschen Kommunisten verteidigen natürlich alles was in Rußland geschieht uad hoffen nebenbei auf den Zusammenbruch des Kapitalismus in Deutschland. Sie glauben, daß die Krise, in der der Kapitalismus sich jetzt befindet, seine Todeskrise sei und daß sein Erbe der Kommunismus sein werde. Sehen wir einmal zu, was an dieser Krisentheorie richtig ist und was auf Aberglauben und Einbildung beruht.

Die Schwere der herrschenden Krise kann nicht bestritten werden und ist auch von uns nie bestritten worden. Ihre Ursachen liegen nicht nur in dem verlorenen Kriege, der Deutschland um seine Absatzgebiete brachte, sie sind auch zu suchen in einer forcierten Rationalisierung der kapitalistischen Betriebe und in der nichtendenwollenden Steuerausplünderungspolitik der diversen Regierungen der Republik, die den größten Teil des Volkes verarmen ließ und ihn so unfähig machte, als Abnehmer für die in Hülle und Fülle vorhandenen Waren auftreten zu können. Wir haben also keine Überproduktion, wie verschrobene Marxisten predigen, sondern eine Unterkonsumtion.

Als die Rationalisierung in Deutschland ihren Einzug hielt, da waren es neben der Sozialdemokratischen Partei insbesondere die Gewerkschaften, die jubelnd diese neue Phase in der Entwicklung des Kapitalismus zum Sozialismus begrüßten; denn das ist ja bekanntlich das Absonderliche bei dieser Sorte von "Sozialisten", daß ihr Sozialismus ohne den Kapitalismus nicht kommen kann. Erst das ins Maßlose gesteigerte Ausbeutungssystem mit Fließband und allen anderen Schönheiten ist die Voraussetzung für das, was sie Sozialismus nennen. Ihr Jubel erfuhr allerdings schon frühzeitig eine kleine Dämpfung. Sie glaubten zunächst, daß die deutschen Kapitalisten nach Einführung amerikanischer Arbeitsmethoden auch die höheren amerikanischen Löhne zahlen würden. Aber sie irrten sich. Die deutschen Unternehmer zahlten deutsche Löhne; und nicht nur das, sie beschäftigten - was in Amerika nicht der Fall war - ausnahmslos Frauen am laufenden Band. Aber es kam noch besser. Als Henry Ford seinen Betrieb am Westhafen in Berlin eröffnete, da versammelten sich eines Tages die dort beschäftigten Arbeiter - alles stramme "freie" Gewerkschaftler - und wählten eine Kommission, die bei der Direktion vorstellig wurde. Sie wollten nämlich einen Betriebsrat wählen. Aber die Direktion erklärte kategorisch: "Wenn Sie sich einen Betriebsrat wählen wollen und sich dabei auf die deutschen Gesetze berufen, so können Sie ihn haben; wir werden ihnen dann aber auch die deutschen Löhne zahlen. (Im Westhafen-Betrieb waren damals in der Tat die Löhne höher ala anderswo.) Und was geschah? Die "Freien" Gewerkschaftler verzichteten auf den Betriebsrat; und weil ihnen der Schreck in die Knochen gefahren war, verzichteten sie sogar auf ihre Mitgliedschaft im Verband und sie bestellten sogar ihre Parteipresse ab. Seitdem ist der Betrieb gelb. So wirkte sich die neue vielbewunderte Arbeitsmethode aus. Es war kein Schritt zum Sozialismus hin, wohl aber zum Indifferentismus.

Aber das Fließband, das ja auch im bolschewistischen Rußland seinen Einzug gehalten hat, hat noch andere Eigenschaften, die wir seinen Bewunderern und auch denen, die es noch nicht sind, die aber hier gewarnt sein sollen - nicht vorenthalten wollen. Als Henry Ford im Begriff stand, mit seinen Arbeitsmethoden auch die deutschen Arbeiter zu beglücken, da ließ er sich ein Buch schreiben, betitelt: "Mein Leben und mein Werk" (als Verfasser war Ford selbst genannt). In diesem Buch wird gesagt, daß für Humanität im kapitalistischen Betrieb kein Raum vorhanden sein dürfe. Und dann werden die Fordschen Arbeitsmethoden geschildert, die jene Auffassung in jeder Beziehung bestätigen. Wörtlich heißt es, daß wer ein Jahr hindurch am Fließband gearbeitet habe, "zur Erholung in eine andere Industrie übergeführt werden müsse". Nur zwei- bis dreimal kann das Experiment wiederholt werden, dann ist der Arbeiter ruiniert; die Muskeln erschlaffen oder verkümmern, das Nervensystem ist zerrüttet. Ein kraftstrotzender Mensch geriet in das Fordsche Getriebe und eine Ruine verläßt es. Wenn es also wirklich wahr sein sollte, daß nur über diese Entwicklung hin - die sich nach Marx mit naturgesetzlicher Notwendigkeit vollziehen soll - der Sozialismus kommen kann, dann findet er bei seinem Einzug eine Generation körperlich und geistig verkümmerter Lebewesen vor. Kann ein gesunder, vernunftbegabter Mensch eine so bodenlos blödsinnige Entwicklungstheorie teilen? Niemals! Aber gibt es denn überhaupt eine gesetzmäßige Entwicklung in der Geschichte? Nach Meinung der Pfaffen <- ja. Diese lehren bekanntlich, daß nach urewigen göttlichen Gesetzen das Weltganze geleitet und regiert wird. Die Marxisten sind die Erben dieser pfäffischen Lehre; nur regiert bei ihnen nicht der Gott, sondern das Naturgesetz. Aber dieser neue Glaube wirkt sich ebenso verhängnisvoll aus wie der alte. Er macht die Gläubigen zu Fatalisten, die nicht mehr von sich aus den Kampf gegen ihre Feinde aufnehmen, sondern mehr oder weniger geruhsam auf die Entwicklung warten. Aber ein Blick auf die gegenwärtige Lage zeigt deutlich, daß diese "Entwicklung" ganz andere Bahnen ging, als ihre Vertreter glaubten. Sie führte trotz Verelendung, fortgeschrittenster Technik und höchstentwickeltem Kapitalismus nicht zur Revolution, und vor allem: nicht zum Sozialismus. Wohin sie führte, ist schon angedeutet worden, nämlich in den Dreck.

Wir haben in Deutschland z.Zt. etwa sechs Millionen Arbeitslose, die mit ihren Familien in größtem Elend leben, von denen die meisten jede Hoffnung auf Besserung ihrer Lage vollkommen aufgegeben haben und dumpf und stumpf dahinvegetieren. Wenn das Elend diese Millionen wirklich revolutionär machen würde, wie die Marxisten sich das einreden, dann hätten wir in Deutschland längst die Revolution. Aber das schleichende Elend, die langsame Gewöhnung an den Hunger wirken ebensowenig revolutionierend, wie etwa das Gewöhnen an Gummiknüppelhiebe und Fußtritte revolutionierend wirkt. Nein, die Methode der Machthaber in Deutschland dem Volke den Brotkorb gradweise höherzuziehen hat zermürbend gewirkt, und nicht Revolutionäre wurden durch sie großgezogen, sondern Hungerkünstler.

In den Betrieben sieht es leider nicht besser aus. Auch hier haben Knechtseligkeit und Verzagtheit überhand genommen. Aus Furcht vor Entlassung nehmen die Arbeiter die schlimmsten Erpressungsmethoden der Unternehmer und ihrer Handlanger mit in Kauf. Nur selten wagt einer aufzubegehren. Das Gespenst der Arbeitslosigkeit hält alle in Bann. Dazu kommt noch, daß fast die gesamte Arbeiterschaft den Kapitalismus nicht nur nicht bekämpft, sondern geradezu um sein Wohlergehen bangt. Der Arbeiter wurzelt im kapitalistischen System, er ist bodenständig in ihm. Als in Oberschlesien die Neuroder Unglücksgrube wegen Unrentabilität geschlossen wurde, da waren es die Bergarbeiter selbst, die ihre Ersparnisse den Grubenherrn zur Verfügung stellten, damit die Förderung wieder aufgenommen werden konnte. Diese Bergarbeiter sind eben auf Gedeih und Verderb mit der Grube und den Ausbeutern verbunden, sie werden den Kapitalismus niemals stürzen; ja sie werden ihn verteidigen nicht nur mit ihrem Geld - wie sie es schon taten - sondern auch mit ihrem Blut.

Einen ähnlichen Typ stellen die Borsigschen Arbeiter dar. Als kürzlich die Borsig-Werke vorübergehend geschlossen wurden, weil die Firma die Zahlungen eingestellt hatte, kam es u.a. auch zu einer Versammlung der Sparer. Fast der gesamte Rest der noch beschäftigten Belegschaft hatte seine Spargelder der Firma übergeben. Die Sache ist mehr ulkig als tragisch, denn die Jubiläumsarbeiter glaubten dadurch vor der Entlassung geschützt zu sein. Als die Tore geschlossen wurden, jammerten sie teils, teils schimpften sie. Auch auf der Sparer-Versammlung war es so. Wie die kommunistische Presse, die natürlich für diese merkwürdige Sorte von Borsig- Revolutionären energisch eintrat, berichtete, erklärte dort ein alter Arbeiter, er habe noch zwei Tage vor der Pleite 100 Mark eingezahlt und man habe sie ihm abgenommen, obwohl die Kassenleitung doch gewußt hätte, daß das Geld verloren war. Für uns ist die Sache absolut nicht verwunderlich. Verwunderlich wäre es aber gewesen, wenn die Firma dem dummen Kapitalsknecht die 100 Mark nicht abgenommen hätte. Viele der Sparer glaubten auch, daß Borsig mit seinem Privatvermögen die Guthaben decken würde, waren aber nicht wenig enttäuscht, als sie hörten, Borsig habe erklärt, bei ihm selbst sei nicht gespart worden, sondern nur bei der Firma. Inzwischen hat der alte Scharfmacher den Betrieb wieder eröffnet, damit die Arbeiter ihr überflüssiges Geld auch weiterhin bei ihm loswerden und ihm dadurch beweisen können, daß die Lohnabzüge, die er ihnen in reichstem Maße zuteil werden ließ, in keiner Weise so hoch waren, daß sie ihnen die Gelegenheit zum Sparen genommen hätten.

Geradezu überwältigend aber wirkt es, wenn die Marxisten angesichts solcher Tatsachen die Phrase gebrauchen: "Wir leben in einer Zeit gesteigerten Klassenkampfes." Wenn in jener Periode des Weltkrieges, wo in Deutschland die ersten Lebensmittelkarten eingeführt wurden, ein damaliger Sozialdemokrat im Überschwang seiner Gefühle ausrief: "Sozialismus, wohin wir blicken!", so ist es heute die rabiate Abart der damaligen Enthusiasten, die Kommunisten, die bei jeder Gelegenheit frohlocken: "Klassenkampf und kein Ende!"

Man muß dieser Redensart vom Kampf schon einmal näher auf den Grund gehen, um erkennen zu können, was dahinter steckt, nämlich: nichts. Wenn man hierzulande irgend etwas tut, was recht harmlos ist, dann heißt es gewönlich, es wird gekämpft. Z.B., wenn die Deutschen einen Stimmzettel in die Wahlurne werfen, dann sagen sie: wir sind in den Wahl-Kampf gezogen, oder: wir haben die Wahl-Schlacht geschlagen. Wenn die Arbeiter einige Tage im Streik stehen, oder sie sind ausgesperrt worden, dann heißt es: "Ein schwerer Lohn-Kampf", oder: "Ein schwerer Abwehr-Kampf." Dabei kämpft kein Mensch; im Gegenteil, alle gebärden sich recht harmlos und friedlich, also so, wie die Deutschen im Grunde genommen immer sind. So ist es auch, wenn sie ihren "Klassenkampf" führen. Dann opfern sie, wie in Neurode, bei Borsig und auch anderwärts, ihre Ersparnisse, damit der Ausbeuter bei guter Laune bleibe und außerdem noch die günstige Gelegenheit habe, die Arbeitsknechte mit ihrem eigenen Gelde ausbeuten zu können.

Aber, wird man mir einwenden, es gibt doch auch wirklichen Klassenkampf, wir haben doch die heroischen Kämpfe der Metall- und Bergarbeiter in Westdeutschland gehabt. Gemach; mit dem Kämpfen war es auch da recht traurig bestellt. Ganz abgesehen davon, daß die Zahl der Streikenden verhältnismäßig gering war, im Vergleich zur Zahl der Arbeitenden, haben doch auch die "Kämpfenden" vorsichtigerweise dafür gesorgt, daß ihnen der Weg zum kapitalistischen Betrieb offen blieb; d.h. sie stellten Notstandsarbeiter, damit der Betrieb während des Streiks keinen Schaden erleide. 

Das eine kann übrigens bei jedem Streik festgestellt werden: Die "Kämpfer" werden den Betrieb so verlassen, wie sie wünschen, ihn wieder vorzufinden, wenn sie die Arbeit aufzunehmen gedenken. In der Praxis sieht das so aus: der Schlosser ölt, bevor er in den Kampf eintritt, sorgfältig seinen Schraubstock, der Dreher seine Drehbank usw. Keiner denkt daran, den Unternehmer zu schädigen oder gar den Betrieb lahmzulegen, dergestalt, daß auch Streikbrecher nicht in der Lage sind, darin arbeiten zu können. Jeder denkt nur daran, daß er ja seine Arbeitsstelle sauber und unversehrt wiederfindet. Und mit dieser friedlichen Gesinnung treten sie dann in den "Kampf" ein. So sind die Arbeiter beschaffen, und so und nicht anders können auch nur die Organisationen sein, die die eben geschilderten "Kämpfe" der Arbeiter führen: Die Gewerkschaften. Ihr reformistischer Charakter trat schon in ihren Kinderjahren deutlich in Erscheinung; wie überhaupt der "Kampf um das tägliche Brot" fast immer die Initiative hemmt und wenig oder keinen Raum läßt für revolutionäre Betätigung.

Aus kleinen Anfängen heraus wurden die Gewerkschaften große, Millionen umfassende Gebilde, die zuerst in schroffstem Gegensatz standen zum Unternehmertum, im Laufe ihrer Entwicklung aber immer mehr zu diesem hinneigten. Nur widerwillig gaben sie die Sanktion für einen Streik, aber stets waren sie bereit zum Abschluß von Tarifen und Verträgen. Was sie als "Kampf" bezeiehneten, war meist ein Verhandeln, Feilschen und Schachern mit den Unternehmern, ein elender Handel um Pfennige. Bis zum Kriege - bis zu jenem Zeitpunkt also, wo sie ganz offen den Burgfrieden mit den Ausbeutern unterzeichneten - hatten sie immerhin, im geschichtlichen Rahmen gesehen, eine Existenzberechtigung, denn sie vertraten gewisse Interessen der Arbeiter und konnten als Erfolg vierzigjähriger Tätigkeit wesentliche Verkürzung der Arbeitszeit und erhebliche Verbesserung der Lohn- und Arbeitsbedingungen buchen. Das war einmal. Was sie an Erfolgen an wirklichen und an Scheinerfolgen in ungezählten Streiks, Aussperrungen und Verhandlungen Schritt um Schritt mühsam errangen, was durch eine ein halbes Jahrhundert währende zähe Tätigkeit erreicht wurde, ist im Laufe der letzten zwei Jahre durch einige Ausnahmegesetze der Brüning-Regierung hinweggewischt worden, ohne daß die Gewerkschaften auch nur den Versuch gemacht hätten, ihre Mitglieder zum Kampf dagegen aufzurufen.

Aber schon ehe die Notverordnungsseuche grassierte, waren ja die Gewerkschaften faktisch ihrer früheren Bestimmung beraubt worden, denn schon seit Jahren bestimmten sie nicht mehr über die Festsetzung der Lohn- und Arbeitsbedingungen; sondern dies tat über ihren Kopf hinweg der Schlichter. Wenn trotzdem hier und da Arbeitsniederlegungen stattfanden, so waren das keineswegs ernstgemeinte Aktionen, sondern elende Komödien. Die Gewerkschaftsleitungen wußten in allen Fällen, daß solche "Streiks" nur wenige Tage oder Wochen dauern konnten; denn sobald der Schlichter seinen Schiedsspruch gefällt hatte und er für verbindlich erklärt wurde, war der "Streik" für sie zu Ende. Sie erklärten dann den Arbeitern mit scheinheiliger Miene, daß sie ja mit dem Spruch in keiner Weise einverstanden seien, daß sie aber auf dem Boden der Gesetzlichkeit ständen und aus diesem Grunde den Streik für beendet erklären müßten. 

Was hat unter solchen Umständen diese Gewerkschaftsbewegung heute noch für einen Sinn? Einen sicher, nämlich: den Arbeitern das Geld aus der Tasche zu ziehen; ein anderer ist nicht ersichtlich. Gegen die beispiellose Ausplünderung der Arbeiterschaft, gegen die schamlosen Lohn- und Gehaltsherabsetzungen haben sie nichts unternommen. Und sie sind aus diesem Grunde nicht nur überflüssig <- weil sie sich selbst ausgeschaltet haben sondern sie sind schädlich. Vergleicht man die Arbeiterbewegung mit dem menschlichen Organismus, so sind sie die Pocken oder die Krätze, die das Antlitz desselben verunstalteten.

An diesen längst überlebten Gebilden aber hängt der Arbeiter noch, er kann sich nur sehr schwer von ihnen trennen, obwohl er doch gerade im letzten Jahre oft genug erfahren hat, daß sie ihn in jeder Beziehung im Stich ließen und daß in der gegenwärtigen Situation gerade die Gewerkschaften das schlimmste Hindernis im Kampfe gegen die Reaktion sind. Geblendet werden die Arbeiter hier durch ein Argument, das auch die Sozialdemokraten zur Erklärung ihrer jämmerlichen Handlungsweise anführen. Die Gewerkschaftsführer sagen nämlich genau wie jene, daß die Brüning-Regierung das kleinere Übel sei und daß man dieses Übel erdulden müsse, um ein größeres zu verhindern: den Faschismus. Hier in Deutschland geht dieser unter dem Namen Nationalsozialismus und sein Prophet ist der große Adolf Hitler, ein Mann von dem geistigen Ausmaße eines Wilhelm II. und von ähnlichem Größenwahn befallen. Bei der letzten Reichstagswahl hat diese Partei weit über sechs Millionen Stimmen erhalten. Fragt man nach den Gründen dieses Zulaufs, der auch einen nicht geringen Prozentsatz Arbeiter umfaßt, so wäre zunächst einer zu nennen, auf den hier bereits eingegangen wurde, auf die Politik der marxistischen Parteien, die den Sozialismus in Mißkredit bezw. in Verruf brachten. Die maßlos enttäuschten Arbeiter wechselten zum Teil in andere Parteilager über, gingen zur USPD und zur KPD, wurden schließlich ganz indifferent oder landeten bei den Nationalsozialisten. Aber auch ein Teil des Bürgertums kam zu diesen und zwar jener, der auf die Republik hoffte und von ihr das erwartete, was die Monarchie nicht gegeben hatte. Die Enttäuschung war hier eine ähnliche wie bei den Arbeitern, denn die neugebackene Republik erwies sich sehr schnell als ein Monstrum, das selbst die schafsgeduldigsten Republikaner in Verzweiflung brachte. 

Ohne die Hilfe der Pfaffen konnte dies merkwürdigste aller Staatengebilde von vornherein nicht leben. Das wurde leider im Laufe der Jahre nicht besser. Zentrum blieb nicht nur Trumpf, sondern es regierte zum Schluß gegen Republik und Republikaner, gegen die Verfassung, gegen die Gesetze, gegen das Parlament und es plünderte durch eine rigorose Steuererhebung nicht nur die Arbeiter, sondern auch weite Teile des Bürgertums aus. Diese empörten Bürger hoffen jetzt ebenfalls auf Hitler, denn von der einst so geliebten und jetzt so bescheidenen Republik hatten sie die Nase voll; Auf Ärger und Verbitterung dieser Enttäuschten erblühte nunmehr der Nationalsozialismus, und da Hitler viel versprach und bis jetzt noch nichts zu halten brauchte, so hielt der Zulauf bis heute an.

Manche ließen sich auch ködern durch den Namen, obwohl gerade dieser besser als vieles andere die grenzenlose Verlogenheit der Hitlerleute aufweist. Daß es einen National-Sozialismus in Wirklichkeit nicht geben kann, braucht eigentlich von uns nicht besonders bewiesen zu werden, denn das weiß ein jeder ABC-Schütze in der Arbeiterbewegung, daß Nationalismus und Sozialismus zwei unvereinbare Gegensätze sind. Nationalismus ist das Trennende im Leben der Völker. Schon die künstlichen Grenzen der Staaten zeigen das deutlich, dann aber auch die blöde Einbildung der Nationalisten, alles Gute, Edle, Bedeutende usw. sei nur bei ihrem Volk zu finden, während andere Völker als minderwertig bezeichnet werden, oder gar als verabscheuenswert, gerade gut genug, um so schnell als möglich vom Erdboden vertilgt zu werden. Dieser unendlich blöden Auffassung der Nationalisten, die schon so häufig der Grund zu blutigen Kriegen war, steht entgegen der Sozialismus. Dieser ist das Verbindende, das Einigende im Leben der Menschen und Völker, oder wenigstens: er soll es sein. Der Sozialismus kennt keine Grenzen; er umschließt alle Unterdrückten und Ausgebeuteten, gleich welcher Nation, welcher Farbe, welcher Rasse. Über alle Grenzen hinweg verbindet er die leidende Menschheit und führt sie zum Kampf um Freiheit und Brot.

Und dieses Ideal, des Strebens der Besten wert, hat ein engstirniger, total vernagelter Herrschaftsfanatiker in sein Firmenschild aufgenommen und auf diese Art den Namen "Nationalsozialismus" geprägt. Vom Sozialismus ist bei Hitler und seinem Anhang nichts, aber auch garnichts, zu finden, desto mehr aber vom Nationalismus. Hier tritt die ganze Hohlheit der Nazibewegung in Erscheinung, zu gleicher Zeit aber auch ihre Gefährlichkeit, denn die Errichtung ihrer Herrschaft in Deutschland ist gleichbedeutend mit Krieg. Darüber hinaus würde alles unterdrückt werden, was an Sozialismus erinnert, jede sozialistische Propaganda, jeder freiheitliche Geisteshauch. Noch sind allerdings die nationalsozialistischen Bäume nicht in den Himmel gewachsen, aber die ganze Art ihres Auftretens und vor allem ihre militärisch gedrillte Schutztruppe (Sturm-Abteilungen) und deren Aufgaben, zeigen Zweck und Ziel der Partei. Nach seiner letzten Wandlung - er hat deren schon etliche hinter sich - will Hitler nicht mehr revolutionär sein, sondern auf legale Weise zur Macht gelangen. Mit Ungestüm drängt dieser machthungrige Parteiführer nach den Ministersesseln, er will alles unterschreiben, was die Brüning-Regierung von ihm fordert: Erfüllung der Friedens- und Reparationsverträge, Anerkennung der Republik und ihrer Verfassung. Und er kann ja dieser Regierung gegenüber wirklich alles unterschreiben, denn so, wie Brüning seinen Eid auf die Verfassung leistete und so, wie er diese beschworene Verfassung außer Kraft setzte, kann es Adolf Hitler ebenfalls. Er hat an den bisherigen "Erhaltern" der Republik wahrhaft blendende Vorbilder gehabt.

Das, was Hitler und seine Partei überhaupt erst Wichtigkeit verlieh, ist die fast ans Groteske grenzende Angst der Sozialdemokratie vor den Nazis. Und es ist nicht nur die Angst der Führer um ihre Posten; nein, es ist die Angst, daß es ihnen an den Kragen gehen könnte. Von dieser Angstpsychose sind auch die Kommunisten nicht frei und so ist das Bild, das sich hier vor unseren Augen entrollt, ein tief beschämendes. Und dabei ist die Situation wahrlich nicht so, daß die Arbeiterschaft Angst haben müßte, denn die Leute, die das Rückgrat der Partei bilden, die SA-Leute, sind bezahlte Individuen, die Wohnung, Kleidung, Kost und auch Geld für ihre Tätigkeit erhalten. Nur auf diese Elemente stützt sich Hitler, denn die mißvergnügten Wähler gaben wohl ihre Stimme für ihn, sind aber keineswegs gesonnen, ihre Haut für ihn zu Markte zu tragen. Wo eine Partei ihre Existenz einesteils aufbaut auf Geldgeber von außen und andernteils auf bezahlte Elemente innerhalb der Partei, da ist ihr Untergrund faul und die Arbeiterschaft braucht sie nicht zu fürchten; vorausgesetzt natürlich, daß ihre eigenen Organisationen nicht auf ebenso faulem Fundamente ruhen.

In einer Beziehung allerdings ist die derzeitige Situation für die Arbeiter sehr ernst; es fehlt ihnen nicht nur an Klarheit und Konsequenz, sondern auch an Charakter. Es soll nur ein Fall herausgegriffen werden. Wir haben in der deutschen Republik eine Polizei und zwar eine militärisch ausgebildete und bewaffnete. Im Verkehr mit dem Volke, mit dem schon äußerlich so erkennbaren, gebraucht die Polizei nicht gleich den Schießprügel, sondern humaner Weise den Gummiknüppel. Ganz abgesehen von den mehr oder weniger schlechten Umgangsformen, die wohl der Beruf so mit sich bringt, ist es das Gewerbe an sich, das jeden Arbeiter dazu anhalten müßte, den Verkehr mit der Polizei unter allen Umständen abzulehnen. Leider ist das nicht der Fall, wenigstens nicht im allgemeinen. Daß die Sozialdemokratie diese Polizei schützt und für ihr Wohlergehen besorgt ist, erklärt sich schon daraus, daß ihre eigenen Leute in dieser Institution sitzen und außerdem, daß diese ja die Republik schützen soll, die den Führern der Partei ihr Brot und noch mehr gibt. 

Anders stehen die Dinge bei den Kommunisten, die ebenfalls für die Polizei eintreten. Während auf der Straße die Arbeitslosen mit dem Gummiknüppel traktiert werden, sorgen die kommunistischen Abgeordneten für die Besserstellung der Polizisten! Eine charakterlosere Handlungsweise ist kaum denkbar.

Wenn der Versuch gemacht wurde, die gegenwärtige Situation in Kürze zu schildern, so konnte das nur zum Teil gelingen. Schon allein die Darstellung der Situation, die durch die Notverordnungen entstanden ist, könnte hier erschöpfend kaum gegeben werden. Eins aber kennzeichnet den Charakter des Klassenstaates besser als vieles andere - und das soll hier noch gezeigt werden. Als am Weihnachtsabend der Sklarekprozeß vertagt wurde, da wünschte der Vorsitzende den Angeklagten ein frohes Fest und richtete die Bitte an sie, nicht übermäßig zu schwelgen, damit sie nach Weihnachten frisch und ausgeruht wieder im Gerichtssaal erscheinen könnten. In fröhlichster Stimmung trennten sich beide Teile. Ja, das ist die Justiz; auch eine Klassenjustiz, nur daß in diesem Falle Richter und Angeklagte einer Klasse, und zwar der besitzenden, angehören. Arbeiter wären von denselben Richtern in wesentlich anderer Weise behandelt worden, woran erkennbar ist, auch für politisch Kurzsichtige und Schwerhörige, daß der Klassencharakter des Staates und der Justiz auch in der Republik in ebenso sinniger Weise sich offenbart wie im monarchistischen Deutschland.

Im Gegensatz zu den Marxisten, die den Staat erobern wollen, wollen die Anarchisten den Staat zerstören. Aus diesem Grunde sind sie auch Gegner aller Institutionen, die der Staat zu seiner Erhaltung bedarf; sie sind Gegner des Militarismus, der Polizei, der Justiz, der Kirche und der Staatsschule. Gerade in einer Zeit gesteigerter Staatsmacht muß von uns auf die ungeheure Gefahr hingewiesen werden, die jene mit sich bringt, denn der Staat duldet keine Persönlichkeiten; er braucht Untertanen und Steuerzahler. Je größer die Staatsmacht, umso kleiner die Freiheit des Einzelnen. Gerade die Notverordnungen der Brüningregierung zeigen deutlich den Weg, den die Gewalthaber beschritten haben. Der Einzelne gilt nichts mehr, wenn das Räderwerk der zentralistischen Staatsmaschinerie in Bewegung gesetzt wird. In dieser Richtung bewegt sich zur Zeit die Entwicklung. Staatsknechtstum, wohin wir blicken!

Der Anarchismus will demgegenüber einen Gesellschaftszustand errichten, der dem Einzelnen die größtmöglichste Freiheit garantiert. Dies ist nur möglich nach Beseitigung des Staates, er mag einen Namen führen wie er will. Aus diesem Grunde geraten wir auch in Widerspruch mit den Marxisten, die genau so wie das Bürgertum dem alten Herrschaftsgedanken anhängen.

Es ist der Glaube, daß irgend ein Diktator oder eine Partei einem Volke oder auch der ganzen Menschheit die Freiheit bringen könnten. Die Freiheit kann keinem gebracht werden, sie will erkämpft sein. Und hier muß jeder Einzelne versuchen, bei sich selbst anzufangen, sich selbst erst einmal zu befreien. Dann kommen wir auch weiter. Und dieser Befreiung muß die Erziehung zur Persönlichkeit folgen. Was sehen wir in der Geschichte der Menschheit? Welche Kräfte waren in ihr wirksam, wenn ein Schritt in der Entwicklung vorwärtsgetan wurde? Persönlichkeiten befruchteten die Menschen mit neuen Gedanken, neuen Ideen. Diese Persönlichkeiten wurden von den Machthabern verfolgt, eingekerkert und getötet. Aber die Ideen hatten Wurzel gefaßt. Den Gemordeten erstanden Nachfolger, die denselben Weg gingen und oftmals dasselbe Schicksal erlitten. Aber der neue Gedanke setzte sich durch und wurde häufig, wenn auch widerwillig, von den Machthabern aufgegriffen und anerkannt, wenn auch nur, wie beim Christentum, um ihn seiner Gefährlichkeit zu entkleiden und ihn so zur Stützung der wankenden Herrschaft zu gebrauchen. Wir müssen also auch heute - und heute vielleicht mehr als je - Persönlichkeiten erziehen, die im Kampf gegen die herrschenden Gewalten beispielgebend vorangehen.

Kampf gegen den Staat und damit verbunden: Kampf dem kapitalistischen System. Wenn wir den Kapitalismus beseitigen wollen, so meinen wir natürlich damit nicht Ablehnung vervollkommneter Arbeitsmethoden, sowie der Technik. Auch die genossenschaftliche Zusammenarbeit in der anarchistischen Kommune kann auf viele maschinelle Einrichtungen und auf eine hochentwickelte Technik nicht verzichten. Was wir aber unter allen Umständen ablehnen, ist die Übernahme des kapitalistischen Systems mit allen seinen menschenentwürdigenden und gesundheitsschädigenden Auswüchsen. Darin unterscheiden wir uns von Sozialdemokraten sowohl wie von Kommunisten, die gerade diese schlimmsten Auswüchse nicht nur bewundern, sondern sie als unentbehrliche Stufe in der Entwicklung des Kapitalismus und in dessen Umschlagen in den Sozialismus betrachten. Aus diesem Grunde auch erblicken beide Abarten des Marxismus in der Forderung der Anarchisten auf Sabotage so etwas wie Hochverrat. Zur Sabotage eines Systems kann nur der kommen, der es vernichten, nicht aber der, der es erhalten, oder doch für seine Zwecke gebrauchen will. Vernichtung des Kapitalismus und Abkehr von ihm. Die Richtigkeit dieser alten anarchistischen Auffassung ist in unseren Kreisen noch nie angezweifelt worden.

Bei der staatsgläubigen Masse und auch bei den Bewunderern des heutigen Ausbeutungssystems stoßen wir bei unserer Propaganda auf Widerspruch oder Unverständnis. Hier müssen wir versuchen, unsere Arbeit gründlicher zu verrichten als früher, müssen versuchen, den Arbeiter in seiner Totalität zu erfassen. Wir dringen selten in ihn ein, sondern bleiben meist an der Oberfläche haften. An der Hand von Beispielen muß man zeigen, wie die Gutgläubigen zu allen Zeiten betrogen wurden und wie man sie heute betrügt, wie Staat und Kirche, Parteien und dergleichen Gebilde mehr, ihre Existenz der Lüge verdanken, die wiederum nur erfolgskräftig ist, weil eben so unendlich viel Dumme vorhanden sind. Gerade in jetziger Zeit ist es nicht schwer, Beweismaterial in dieser Beziehung in Hülle und Fülle zusammenzubringen.

Was vor allem ins Auge zu fassen ist, ist das Kleben der Arbeiterschaft an den Gesetzen. In einer Zeit, wo Gesetze und Verfassung von der Regierung durch einen Federstrich beseitigt werden, wo Staat und Ausbeuter im gesetzlosen Zustand geradezu das Fundament ihrer Existenz erblicken, ist der Arbeiter noch immer der Hüter der Gesetzlichkeit. Als Engels einst das Wort prägte, der deutsche Arbeiter habe bei seiner Gesetzlichkeit pralle Muskeln und rote Backen gekriegt und sehe aus wie das blühende Leben, da hatten die Massen noch nicht die Erfahrung hinter sich und man mußte vielen diese Tatsache zugute halten. Heute aber sind die prallen Muskeln welk und die roten Backen eingefallen und bleich, und das blühende Leben ist nur noch da zu finden, wo die Ungesetzlichket gepflegt, wo gegen die Gesetze und ohne dieselben regiert wird. Heute ist den gesetzestreuen Arbeitern nicht nur der Brotkorb höher, sondern auch der Maulkorb umgehängt worden und zwar so eng anliegend, daß manchem vor Überraschung der Atem weggeblieben ist. Gesetzlichkeit? Jawohl, für die Dummen, die mit ihren Stricken gehängt werden sollen.

Wenn wir in unserer Tätigkeit bisher nur bescheidene Erfolge zu verzeichnen hatten, so liegt das u.a. auch an einem Umstand, dem bis jetzt eine zu geringe Bedeutung beigemessen wurde. Wir haben die organisatorische Arbeit zu wenig gefördert. Wir haben insbesondere die Gruppenbildung sehr vernachlässigt. Die Zahl unserer Gruppen ist viel zu gering, als daß wir in der Lage wären, einen nennenswerten Einfluß auf die Arbeiterschaft ausüben zu können. Überall, wo auch nur zwei Genossen vorhanden sind, muß eine Gruppe gebildet werden. Der Anfang muß gemacht werden. Erst wenn diese Gruppen sich tausendfach verzweigt über das ganze Land wie ein Spinnennetz hinziehen, wenn unsere Propaganda, die heute fast nur in Großstädten bemerkbar ist, bis in das entlegenste Dorf dringt, erst dann wird der anarchistische Gedanke Boden fassen, besonders da, wo noch unberührte Kreise vorhanden sind, wo die parteipolitische Verseuchung noch nicht soweit vorgeschritten ist wie in den Städten. 

Wenn diese Voraussetzung geschaffen, lassen sich auch spielend andere Probleme lösen, so z.B. die Forderung nach Herausgabe einer anarchistischen Tageszeitung. Heute muß ein solcher Antrag achselzuckend beiseitegelegt werden. Es liegt an uns, diesen Plan und noch manchen andern spielend zu erfüllen, wenn der Zusammenschluß aller Anarchisten im Rahmen einer Föderation Wirklichkeit wird. 

Es gilt, heute mehr als sonst, organisatorische Kleinarbeit zu leisten. Nichts ist heute so wertlos und nichts wirkt abstoßender als die Phrase. Gewiß, wir können die Arbeiter auch heute zum Generalstreik und zur Revolution aufrufen. Es bleibt uns unbenommen. Erzielen würden wir damit nichts. Es richtet sich kein Teufel danach, die Situation wie auch die Menschen, beide sind zur Zeit nicht revolutionär. Schaffen wir dazu die Voraussetzung; leisten wir die vorbereitende Arbeit, damit die revolutionäre Situation komme. In diesem Sinne:

Sammelt die Kräfte!
Auf zur Arbeit!
Auf zur Tat!

Anmerkung:  Ein Vortrag von Rudolf Oestreich, gehalten auf dem Berliner Kongreß der Anarchisten im Dezember 1931

Originaltext: Rudolf Oestreich - Die Anarchisten zur gegenwärtigen Lage. Verlag "Der freie Arbeiter", 1931. Digitalisiert von www.anarchismus.at (bearbeitet - Ue zu Ü usw.) an Hand der Originalbroschüre (PDF)