Victor Yarros -  Individualistischer oder philosophischer Anarchismus

Anmerkung: Der folgende, über 100 Jahre alte Text, entspricht nicht meiner Auffassung von Anarchismus. Er entstammt einer amerikanischen Anarchismustradition, die stärker als die sozialistisch orientierte europäische Tradition von einem individualistischen und marktorientierten Standpunkt ausgeht.

Die individualistischen oder philosophischen Anarchisten streben die Abschaffung des "Staates" und der Herrschaft von Menschen über Menschen an. Sie versuchen einen Zustand vollkommener Freiheit zu verwirklichen - von Herrschaftslosigkeit. Um die wirkliche Bedeutung dieser Aussage zu verstehen, ist es notwendig zu begreifen und im Gedächtnis zu behalten, wie die Anarchisten die Begriffe definieren, die sie in ihren Erläuterungen verwenden. Die umlaufenden Mißverständnisse der anarchistischen Lehren sind hauptsächlich bedingt durch die beharrliche, obwohl größtenteils unbewußte Gewohnheit, sie im Sinne der volkstümlichen Definitionen der Begriffe "Staat", "Herrschaft" (oder auch "Regierung") u.s.w. auszulegen, statt in dem Sinne, wie sie selbst diese Begriffe fachlich und sachlich begründet verwenden. Der Durchschnittsmensch, dem man sagt, daß die Anarchisten alle staatlichen Beschränkungen abschaffen möchten, zieht daraus begreiflicherweise die Schlußfolgerung, daß der Vorschlag auch die Beseitigung der Beschränkungen verbrecherischen Benehmens einschließe, den Verzicht auf die organisierte Verteidigung des Lebens, der Freiheit und des Eigentums. Jene, die vertraut sind mit der Lehre des "Widerstehet nicht dem Übel",wie sie von den frühen Christen und den modernen Tolstoianern gepredigt wird, setzen den Anarchismus damit gleich.

Aber solche Auslegungen sind ohne jede Grundlage. Die Anarchisten befürworten nachdrücklich Widerstand und organisierten Schutz gegen Verbrechen und Aggression jeder Art; es ist nicht größere Freiheit für den Verbrecher, sondern grössere Freiheit für den Nicht-Verbrecher, die zu sichern ihr Ziel ist; und mit der Abschaffung der Herrschaft (oder Regierung) meinen sie die Beseitigung der Beschränkungen eines Benehmens, das wirklich ethisch und rechtmäßig ist, das jedoch von einer unwissenden Gesetzgebung als strafbar untersagt wurde.

Der anarchistische Grundsatz der persönlichen Freiheit stimmt völlig überein mit dem berühmten "ersten Grundsatz menschlichen Glücks" von Spencer, dem Grundsatz der "gleichen Freiheit", den Herbert Spencer in der Formel ausgedruckt hat:  "Jedermann ist frei zu tun,was er will vorausgesetzt, daß er nicht die gleiche Freiheit irgendeines anderen Menschen verletzt". Tatsächlich ist es so, daß der Anarchist sich als Gegner des Staates und der Herrschaft (Regierung) erklärt, gerade weil er diesem Grundsatz ohne Vorbehalt zustimmt und auf der Unterdrückung und Beseitigung jeder Aggression und jeden Überfalls - jedes Benehmens, das unvereinbar mit Gleichheit der Freiheit ist - besteht. Er definiert den "Staat" als "die Verkörperung des Faustrechtsprinzips der Aggression gegen eine Einzelperson oder eine Gruppe von solchen, gestützt auf die Anmaßung, dabei als Beauftragte oder Herren des ganzen Volkes innerhalb eines bestimmten Gebiets zu handeln". (Die hier gegebenen Begriffsbestimmungen sind formuliert und konsequent verwendet von Benjamin R.Tucker, dem Herausgeber von LIBERTY, dem Sprachrohr der Bewegung des philosophischen Anarchismus.) Herrschaft oder Regierung definiert er als "die Unterwerfung des nicht-aggressiven Individuums unter einen fremden Willen"; und "Aggression" als ein Verhalten, das die gleiche Freiheit aller verletzt, und zwar gewaltsam.

Der vielleicht beste Weg zur Darstellung des politischen Programms der Anarchisten dürfte sein, auf dessen Verhältnis zu anderen besser bekannten Theorien einer Regierung (oder Herrschaft) hinzuweisen. Die Anarchisten, in Übereinstimmung mit den echten Jefferson'schen Demokraten, daß die beste Regierung diejenige ist, die am wenigsten regiert, und sympathisierend mit der Haltung der alten Manchester-Individualisten und Laissez-faire-Anhänger, die ein Minimum an Einmischung von Regierungsseite für das Beste hielten, ebenso wie mit den weniger unbestimmten Lehren der radikaleren modernen Individualisten aus der Schule Spencers, der den Staat einzig auf die Funktion des Schutzes der Menschen gegen auswärtige und inländische Aggressoren beschränken wollte, gehen noch einen Schritt weiter und verlangen die Auflösung dessen,was dann noch von "Regierung" (oder Herrschaft) bleibt - nämlich Zwangsbesteuerung und militärischen Dienstzwang. Es besteht keine größere Notwendigkeit, behaupten die Anarchisten, daß eine Regierung die militärischen und polizeilichen Schutzfunktionen übernimmt und dabei die Menschen zwingt, ihre Dienste zu akzeptieren, als dafür, daß eine Regierung (Herrschaft) sich einmischen sollte in Produktion, Handel, Bankwesen, Erziehung und andere menschliche Tätigkeitsbereiche. Durch freiwillige Organisation und freiwillige Besteuerung ist es vollkommen möglich, Freiheit und Eigentum zu schützen und Verbrechen abzuwehren. Es ist zweifellos leicht, sich eine Gesellschaft vorzustellen, in der eine Regierung sich um nichts anderes kümmert als um die Aufrechterhaltung der Ordnung und Bestrafung des Verbrechens, in welcher es keine öffentlichen Schulen gibt, die durch Zwangsbesteuerung unterhalten werden, keine Einmischung in die Schaffung von Tauschmitteln und Geld, sowie in das Bankwesen, keine Zollämter oder Zölle auf auswärtige Importe, keinen staatlichen Postdienst, keine Zensur von Literatur und Theater, keinen Versuch, Sonntags-Gesetze zu erzwingen u.s.w.

Die Laissez-faire-Anhänger der verschiedenen Schulen haben das öffentliche Denken mit dieser Art sozialer Organisation vertraut gemacht. Jetzt schlagen die Anarchisten vor, den Zwangscharakter der einzigen Funktion abzuschaffen, die von den radikalen Laissez-faire-Anhängern noch für die Regierung (Herrschaft) reserviert war. Mit anderen Worten, sie bestehen auf dem Recht des nicht-aggressiven Individuums, "den Staat unbeachtet zu lassen, ihn zu ignorieren", auf die Schutzdienste der Verteidigungsorganisation zu verzichten und außerhalb von ihr zu bleiben. Dies würde jene nicht hindern, die einen planmäßigen und organisierten Schutz seitens einer Interessengemeinschaft wünschen, um eine Verteidigungseinrichtung zu schaffen, aber solch eine Einrichtung würde keine Regierung (Herrschaft) sein, weil niemand gezwungen wäre ihr anzugehören und für ihre Aufrechterhaltung zu zahlen. Anarchie kann deshalb als der Zustand einer Gesellschaft definiert werden, in dem das nicht-aggressive Individuum nicht zur Mitwirkung am Schutz seiner Nachbarn gezwungen ist und in welchem jeder den höchsten Grad an Freiheit genießt, der mit Gleichheit der Freiheit aller vereinbar ist.

Im Hinblick auf die Aggressionsabwehr würde die Gerichtsbarkeit der freiwilligen Verteidigungsorganisation sich natürlich auf Außenstehende erstrecken und nicht auf die Mitglieder beschränkt sein. Die Verbrecher sollen sich nicht Immunität dadurch sichern können, daß sie es ablehnen, sich Verteidigungsorganisationen anzuschließen. Da die Freiheit eines jeden begrenzt ist durch die gleiche Freiheit aller, würde der Aggressor einer Bestrafung unter dem Anarchismus nicht weniger ausgesetzt sein als unter einer Regierung(Herrschaft). Verbrecher würden auch weiterhin verhört durch Gerichte und bestraft durch Vollstreckungsfunktionäre. Ihnen würde nicht erlaubt sein, Verhaltensnormen für sich selbst aufzustellen und zu tun, was nach ihrer eigenen Ansicht richtig ist. Denn eine solche Doktrin schließt nicht die Abschaffung der Regierung(Herrschaft) ein, sondern ihre weitestmögliche Ausdehnung. Sie erkennt keine ethischen Grundsätze an und verwirft alle Versuche, Gerechtigkeit zu erzwingen und Rechte zu schützen. Jedermann darf danach seine Mitmenschen beherrschen, wenn er den Willen und die Macht dazu hat, und der Kampf ums Dasein in seinen primitivsten und grausamsten Formen wird dann wiederbelebt. Der Anarchismus, im Gegensatz, stellt den Grundsatz der gleichen Freiheit als bindend für alle auf und besteht nur darauf, daß jene, die diesen Grundsatz nicht verletzen, in keiner Weise gestört werden sollten,weder durch Einzelherrscher, noch durch Verbindungen von Möchte-gern-Herrschern.

Anarchisten lehnen Regierung und Herrschaft ab, weil sie keine ethische Vollmacht und keine praktische Notwendigkeit dafür finden können. Es erscheint ihnen als selbstverständlich, daß die Gesellschaft oder die Gemeinschaft keine weitergehenden Ansprüche auf die Einzelperson haben kann, als die einzelnen Mitglieder sie haben, aus denen sie sich zusammensetzt. Die metaphysischen und irreführenden Analogien zwischen Gesellschaft und Organismus, worauf sich gewöhnlich die Theorie der Regierungs- und Herrschaftsanhänger von den Vorrechten des Staates stützt, weisen die Anarchisten mit unverhohlener Verachtung zurück. Die "Gemeinschaft" oder der "Staat" ist eine Abstraktion und eine Abstraktion hat weder Rechte noch Pflichten.

Einzelpersonen, und nur Einzelpersonen, können Rechte haben. Dieser Vorschlag ist der Eckstein der anarchistischen Lehre und wer dem zustimmt, ist gebunden an alle Konsequenzen des Anarchismus. Denn wenn die Gemeinschaft nicht rechtmäßig jemand zwingen kann, etwas zu tun oder zu unterlassen, was private und einzelne Mitglieder von ihr als Tun oder Unterlassen ihm gesetzmäßig nicht aufzwingen können, dann sind auch Zwangsbesteuerung und Zwangszusammenarbeit für irgendeinen Zweck falsch im Prinzip und Regierung(Herrschaft) ist nur ein anderer Name für Aggression. Es wird ja nicht beansprucht, daß eine private Einzelperson das Recht hat, eine andere private Einzelperson ohne deren Zustimmung zu besteuern. Wie kann dann die Mehrheit der Mitglieder einer Gemeinschaft das Recht erhalten, die Minderheit ohne deren Zustimmung zu besteuern? Nachdem sie das Dogma vom göttlichen Recht der Könige überwunden haben, errichten demokratische Länder unbewußt das Dogma vom göttlichen Recht der Majoritäten zur Herrschaft. Die Absurdität eines solchen Glaubens ist offensichtlich.

Mehrheiten, Minderheiten und andere Verbindungen von Einzelpersonen sind berechtigt, auf Achtung ihrer Rechte zu bestehen, aber nicht auf der Respektierung ihrer Verletzung der Rechte anderer. Es gibt nur eine ethische Norm, nicht zwei; und es kann nicht rechtmäßig sein für eine Regierung, das zu tun, was verbrecherisch, unmoralisch wäre, wenn es von Einzelpersonen begangen würde. Die Gesetze des sozialen Lebens dürfen nicht willkürlich durch Abstimmungen oder in gesetzgebenden Versammlungen gemacht werden; sie müssen entdeckt werden in derselben Weise, in der die Gesetze anderer Wissenschaften entdeckt werden. Nachdem sie entdeckt, sind Majoritäten nicht weniger als Einzelpersonen verpflichtet, sie zu beachten.

Wie schon festgestellt, sind die Anarchisten der Meinung, daß das Gesetz der gleichen Freiheit aller, das in positiver Form von Spencer und in negativer von Kant formuliert wurde, ein wissenschaftliches soziales Gesetz ist, das die Menschen in ihren mannigfaltigen Handlungen und gegenseitigen Beziehungen leiten sollte. Die logischen Konsequenzen dieses Gesetzes zeigen uns zugleich unsere Rechte und unsere Pflichten. Die Regierung (Herrschaft) verletzt dieses große Gesetz nicht nur durch die Tatsache ihrer bloßen Existenz, sondern in tausendfältiger anderer Weise. Regierung (Herrschaft) bedeutet die Nötigung der Nicht-Aggressiven, die Besteuerung derjenigen, die gegen den Zwang protestieren, sich der politischen Organisation anzuschließen, die von der Mehrheit errichtet ist. Sie verordnet Gesetze und auferlegt Beschränkungen, die keine Billigung im Gesetz der gleichen Freiheit finden, und bestraft Menschen für Ungehorsam gegenüber solch willkürlichen Vorkehrungen.

Gewiß, die Regierungen geben vor, sie hätten die allgemeine Wohlfahrt im Auge und sie erzwängen nur das, was die Moral und die Gerechtigkeit erfordern. Gerechtigkeit jedoch wird von Regierungen immer mit Gesetzmäßigkeit verwechselt und mit Durchsetzung der Gerechtigkeit meinen sie oft die Erzwingung gerade der Gesetze, die sie in Verletzung der Gerechtigkeit verordnen. So werden Gesetze zur Beschränkung des Handels und des Austausches im Namen der Gerechtigkeit erzwungen, während Gerechtigkeit die vollste Freiheit des Handels und des Austausches verlangt. Genau genommen kann die Durchsetzung der Gerechtigkeit überhaupt nicht durch eine Regierung (Herrschaft) erfolgen, weil eine Regierung, die versuchen würde, Gerechtigkeit zu verwirklichen, damit beginnen müßte, daß sie ihr eigenes Todesurteil unterzeichnet. Eine Regierung, die gleiche Freiheit für alle durchsetzen und die Nicht-Aggressiven unbehelligt lassen wollte, würde keine Regierung mehr sein, sondern eine freiwillige Vereinigung zum Schutz von Rechten.

In republikanischen Ländern sprechen die Menschen liederlicherweise von ihrer "freien Regierung", ihrer "Regierung durch Zustimmung". In Wirklichkeit gibt es so etwas wie eine Regierung (Herrschaft) durch Zustimmung nicht. Mehrheiten herrschen und die Minderheiten sind gezwungen sich zu fügen. Das Prinzip der Zustimmung ist eindeutig tödlich für Herrschaft und Regierung, denn es schließt das Recht für den Nicht-Aggressiven ein, den Staat zu ignorieren und es abzulehnen, von seinen Dienstleistungen gebrauch zu machen. Vom ethischen Standpunkt hat jedermann ein absolutes Recht so zu handeln, denn die bloße Weigerung, sich einer politischen Organisation anzuschließen (die bloß eine Sicherheits-Vereinigung ist), ist keine Verletzung des Prinzips der gleichen Freiheit aller. Unser "freien" Regierungen leugnen dieses Recht und deshalb sind sie unmoralisch. Sie können moralisch nur dadurch werden, daß sie aufhören, Regierungen (Herrschaft) zu sein und bloße freiwillige Vereinigungen zu Verteidigungszwecken werden.

Unabhängig von der Frage der Zwangsbesteuerung und des Zwangs-Wehrdienstes, auf deren Abschaffung allein die Anarchisten Nachdruck legen (obwohl sie bereitwillig zugeben, daß die Polizeifunktionen der Regierung die letzten sein werden, die zu verschwinden haben), gibt es wenig, wenn überhaupt, Unterschied zwischen Anarchisten und Spencer'schen Individualisten in der Frage einer Regierungseinmischung. Das Aufhören solcher Einmischung in wirtschaftliche Beziehungen - in die Ausgabe von Geld, in Bankwesen, Lohn, Handel, Produktion u.s.w. - wird mit der Begründung verfochten, daß die Lösung der sozialen Probleme in Freiheit besser gefunden wird als durch Vorschriften, in freiem Wettbewerb eher als durch Staats-Monopol. Über öffentliche Erziehung, Postmonopol,Armengesetze, Gesundheitskontrolle u.s.w. sind Anarchisten gemeinsam mit fortschrittlichen Individualisten der Meinung, daß Regierungseinmischung praktisch ebenso verderblich wie ethisch unbegründet ist. Korruption und Unfähigkeit sind mit regierungsseitiger Lenkung untrennbar verbunden und bei dem, was eine Regierung (Herrschaft) tut, gibt es nichts, was nicht besser als Privatunternehmen bei freiem Wettbewerb getan werden könnte.

Kurz gesagt, wenden sich die Anarchisten gegen Regierung und Herrschaft, weil die unethisch sind, ebenso wie unnötig und unratsam. Regierung (Herrschaft) ist entweder der Wille eines einzelnen Mannes oder der Wille einer größeren oder geringeren Anzahl von Menschen. Nun, der Wille eines einzigen oder von vielen ist kein Prüfstein von Recht und Gerechtigkeit, während für die Schlichtung widerstreitender Interessen der Mitglieder der Gesellschaft solch ein Prüfstein eine absolute Notwendigkeit ist. Herrschaft der Mehrheit, und sogar die Herrschaft eines Despoten, mag unter gewissen Bedingungen dem Zustand eines bürgerlichen Chaos vorzuziehen sein; aber sobald die Menschen Fortschritte machen und die Tatsachen ihrer eigenen Entwicklung studieren, fangen sie an die Wahrheit einzusehen, daß es keinerlei Beziehung irgendwelcher Art zwischen Recht und Zahlen gibt, zwischen Gerechtigkeit und Gewalt. Mehrheitsherrschaft ist in schlechten Ruf geraten, ebenso wie despotische Herrschaft, und die Wissenschaft von der Ethik wird die einzige Richtschnur und Autorität. Die gesellschaftlichen Gesetze erfordern ihre Anwendung und Erzwingung so lange, wie räuberische Instinkte und aggressive Neigungen fortfahren, sich in den menschlichen Beziehungen zu zeigen, und dies nötigt zur Aufrechterhaltung von Vereinigungen zum Schutz der Freiheit und zur Bestrafung von Aggressoren. Aber die Regierungs-(Herrschafts-)Methode ist nicht geeignet, dieses Ziel zu fördern. Regierung(Herrschaft) beginnt damit, daß sie die nicht-aggressive Einzelperson in eine Mitwirkung bei Verteidigung und Angriff hineinzwingt, ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß ein wohlwollender Despotismus nicht um ein Jota mehr verteidigenswert ist als ein selbstsüchtiger Despotismus.

Im allgemeinen kann festgestellt werden, daß alle Methoden, die nicht ihrem Wesen nach aggressiv sind, von den Anarchisten als rechtmäßig zur Förderung ihrer Sache betrachtet werden. Aber sie vertrauen hauptsächlich, wenn nicht gänzlich, auf die Methoden der Erziehung - theoretische Propaganda ihrer Ansichten - und auf passiven Widerstand gegen die Regierung(Herrschaft). An Gewalt, die sogenannte Propaganda der Tat, und geheime Komplotte gegen bestehende Einrichtungen glauben sie nicht. Politische Änderungen können durch Revolutionen zustande gebracht werden, und möglicherweise auch solche wirtschaftliche Änderungen, wie sie von den Staatssozialisten angestrebt werden. Aber Freiheit kann sich nur auf Ideen und Gefühle stützen, die sie begünstigen, und revolutionäre Kundgebungen können niemals die Unwissenheit und den Geist der Tyrannei abschaffen.

Freiheit kann nicht erzwungen werden von jenen und für jene, die nicht tauglich für sie sind. Die Befreiung des Volkes von der Aggression der Regierung(Herrschaft) muß durch seine eigene wohlerwogene Wahl und Bemühung erfolgen. Anarchisten können nur die Wahrheit über politische Lehren verbreiten und die Natur und das Wesen der Regierung(Herrschaft) erläutern. Anarchisten glauben jedoch nicht, daß es notwendig sei, das ganze Volk dazu zu bekehren, ihre Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Eine starke und entschlossene Minderheit könnte, in passivem Widerstand, erfolgreich dem Versuch der Regierung(Herrschaft) begegnen, sie zu besteuern und auf andere Weise noch deren Willen ihr aufzuzwingen. Die öffentliche Meinung würde nicht billigen einen gewaltsamen Feldzug der Regierung gegen eine Anzahl intelligenter und vollkommen ehrenhafter Einzelpersonen, die sich zu dem einzigen Zweck verbündet haben, ihr berechtigtes Handeln fortzusetzen und ihr Recht zur Nichtbeachtung von Befehlen und Verboten zu behaupten, die von einem ethischen Gesichtspunkt keinerlei Autorität haben. Selbst wenn Anarchisten an den Gebrauch gewaltsamer Methoden glaubten und wenn sie dächten, daß gewaltsamer Widerstand gegen die Regierung(Herrschaft) ihre Befreiung beschleunigen würde, würden sie gewiß ihre Zuflucht zu ihm nehmen, da es weder unmoralisch noch aggressiv ist, Zwang gegen Aggressoren zu gebrauchen - es würde dann immer noch ein wichtiger Unterschied zwischen ihnen und anderen Reformer-Richtungen bestehen.

Anarchisten würden nicht andere hindern, unter einer Regierung(Herrschaft) zu leben, Seite an Seite mit ihnen, während andere Reformer bestrebt sind, ihre Systeme der ganzen Gemeinschaft aufzuzwingen, in der sie leben. So beabsichtigen die Staatssozialisten, gemäß ihrem Programm des Staatsmonopols, allen Wettbewerb und alle Konkurrenz zwischen Einzelpersonen, die Kapitaleigner sind, zu unterdrücken. Demgegenüber würden die Anarchisten, wenn ihnen gestattet würde, außerhalb der Regierungs-(Herrschafts-)Organisation zu bleiben, niemanden zwingen, sich ihnen anzuschließen oder ihrem Beispiel zu folgen. Ruhig und nüchtern schwören die Anarchisten der Gewalt ab, selbst in ihren eigenen Interessen, indem sie die Wahrheit in sich lebendig werden lassen, daß der Fortschritt der Gerechtigkeit und Freiheit in einem Zustand des Krieges aufgehalten wird. Frieden ist eine Grundbedingung für die Ausbreitung vernünftiger Ideen und das Wachstum des Gefühls der Toleranz. Indem sie an die Ideen und Gefühle der Gerechtigkeit appellieren, würde es selbstmörderisch für Anarchisten sein, wenn sie Gewalt ermutigen und die niedrigsten Leidenschaften der Menschen durch revolutionäre Taktiken aufstacheln würden.

Die Anarchisten sind auch dagegen, mittels der gewöhnlichen politischen Methoden zu reformieren, schon gar nicht unter gegenwärtigen Bedingungen. Da sie nicht eine neue bestimmte Gesetzgebung anstreben, können sie nichts von dem erwarten, was als Politik gilt. Sie verlangen die Aufhebung der Gesetzgebung, die in ungehöriger Weise die menschliche Handlungsfreiheit beschränkt und solche Aufhebung können sie nicht erreichen, solange sie sich in der Minderheit befinden. Ob sie mit anderen Parteien zusammenarbeiten würden beim Versuch, spezielle Maßnahmen solcher Aufhebung durchzusetzen, würde weitgehend von den Umständen abhängen. Es sei daran erinnert, daß die Anarchisten, während sie entschieden in ihrer Gegnerschaft zu jeder Spur von Regierung(Herrschaft) sind, nicht die Realisierung ihres gesamten Programms auf einen Schlag erwarten. Sie sind vorbereitet auf eine sehr langsame und allmähliche Reform und würden den Erfolg jedes einzelnen freiheitlichen Vorschlags begrüßen. Sie würden sich freuen über den Sieg der Freihandelsidee, über die Aufhebung der Gesetze, die das Bodenmonopol verewigen und über die Abschaffung von Sonderprivilegien. Wenn sie sich nicht selbst zu einer politischen Partei formen, um eines oder mehrere dieser Ziele zu erreichen, geschieht dies, weil sie mehr auf andere Weise tun können. Überdies bedeutet der Eintritt in die politische Arena stillschweigende Anerkennung des Prinzips der Regierung(Herrschaft). Wählen und abstimmen bedeutet zwingen oder Zwang androhen. Hinter der Abstimmung steht die Kugel des Soldaten bereit, um die geschlagene Minderheit in die Unterwerfung zu zwingen. Der Wähler und Abstimmende bekräftigt nicht nur sein Recht auf Selbstbestimmung; er erhebt darüber hinaus den Anspruch, andere regieren(beherrschen) zu wollen. Der Anarchist kann keine Methode anwenden, die ihn in ein solch falsches Licht setzen würde.

Daher ist der Anarchist weder ein Bombenwerfer im Regierungs-(Herrschafts-) Interesse, noch ein revolutionärer Bombenwerfer. Er hat etwas gegen den Gebrauch der Gewalt durch die Regierung(Herrschaft), ebenso wie ihr gegenüber. Er beschränkt sich auf die Methode der Aufklärung und Erziehung und solchen passiven Widerstand,wie er beispielsweise in Verweigerung der Steuer-, Grundrente- und Zinszahlung oder der von Importzölle auf Waren aus fremden Ländern in Erscheinung tritt.

Anmerkung des Übersetzers:

Die vorstehende rund 100 Jahre alte Darstellung erfolgte zu einer Zeit, als der Staat, zumal in den USA, noch bei weitem nicht so umfassend wie heute sich in sämtliche Lebensbereiche eingemischt hatte. Es war richtig von Yarros, die grundsätzliche Defensivhaltung und die Gewalt-Abscheu der Anarchisten zu betonen. Aber mit passivem Widerstand in den erwähnten Bereichen allein ist es unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr getan. Es muß zumindest eine organisierte aktive Tätigkeit hinzukommen, mit dem Ziel, sich von staatlichen Einrichtungen nach Möglichkeit zu emanzipieren, was auf dem Gebiet des Rechtswesens und dem der Erziehung, aber sogar auf dem des Austausches (Geldwesens) in beträchtlichem Umfang möglich ist. Auch Yarros' Ablehnung, die anarchistischen Ziele im Rahmen einer Partei zu verfolgen, hat einiges für sich; da jedoch die Anarchisten der gewaltsamen Aggression des Staates und aller ihn Bejahenden ausgesetzt sind, wäre es nur eine (freilich nur eine) sinnvolle Form der Abwehr, auch die bescheidenen Rechte zu nutzen, welche der Staat ihnen dazu läßt; dies könnte gesehenen, indem sie - unter konsequenter Betonung, daß ihre Teilnahme am Parlamentarismus unter strikter Ablehnung des Herrschafts-, Gewalts- und Mehrheitsprinzips erfolgt - sich darauf beschränken, Einengungen der Staatsmacht zu erreichen und deren Ausdehnung zu verhindern, d.h. also keiner Maßnahme zuzustimmen, die eine Verletzung der gleichen Freiheit aller bedeutet. Dabei entstünden auch beachtliche propagandistische Möglichkeiten. Zu bemerken ist noch, daß die wissenschaftliche Begründung des Anarchismus heute mit besseren Argumenten und exakter erfolgen kann, als dies in vorstehender Darstellung geschehen ist, die in der Ethik noch eine Wissenschaft vom Sollen sieht, während es keine Wissenschaft davon geben kann, was geschehen soll, sondern nur die wissenschaftliche Feststellung dessen, was die Menschen zu verschiedenen Zeiten als sein sollend (und aus welchen Gründen) angesehen haben. Warum es keine zweckmäßigere Gesellschaftsordnung als die auf der Basis der gleichen Freiheit aller geben kann, hat Yarros nicht deutlich genug gemacht.

Aus dem Amerikanischen übersetzt von K.H. Z. Solneman

Originaltext: Zeitgeist Nr. 20/1972 (14. Jahrgang). Digitalisiert von www.anarchismus.at