Judith Suissa - Anarchie im Klassenzimmer

Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Presse beiläufig mit den Worten “anarchistisch” oder “Anarchismus” um sich wirft, wann immer sie einen scheinbar unerklärlichen Akt der Gewalt erklären oder eine idealistische Theorie des sozialen Wandels verspotten möchte. Allerdings haben sich einige Intellektuelle gleichermaßen der Falschdarstellung schuldig gemacht. Sie bestehen darauf, dass der Anarchismus keinen Anspruch darauf hat als eine schlüssige oder seriöse politische Theorie angesehen zu werden. Er wird als ‘utopisch’ oder ‘naiv’ gebrandmarkt, da er behaupte, dass Menschen von Natur aus gut sind, und dass diese natürliche Güte ganz und gar ausreicht, um eine staatenlose Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Hier ist Max Beloff schwer damit beschäftigt in diese altbekannte Kerbe zu schlagen. Anarchismus, so schreibt er: “basiert auf einem grundlegenden Missverständnis der menschlichen Natur, auf der unbewiesenen Annahme, dass unter völliger Abwesenheit von Beschränkungen, beziehungsweise materiellem Überfluss durch Kommunismus, menschliche Gesellschaften ohne jeden Zwang existieren könnten.” Oder betrachten wir Jonathan Wolffs pauschale Behauptung: “Sich dermaßen auf die natürliche Güte des Menschen zu verlassen erscheint extrem utopisch.”

Kaum verwunderlich, dass der Anarchismus in der zeitgenössischen Gesellschaft so wenig beachtet wird. Er ist fast endgültig verunglimpft worden durch solche ganz und gar irreführenden und parteiischen Darstellungen seines zentralen Argumentes. Wenn diese Ansicht eine grobe Falschdarstellung ist, was ist dann die anarchistische Konzeption der menschlichen Natur? Sowohl Proudhon als auch Bakunin bestanden darauf, dass diese von Natur aus zweifältig ist, und sowohl ein egoistisches als auch ein geselliges, altruistisches Potential beinhaltet. Wie Bakunin es bildlich ausdrückt: “Der Mensch hat zwei entgegengesetzte Instinkte, Egoismus und Geselligkeit. Er ist gleichzeitig grausamer in seinem Egoismus als die wildesten Tiere und geselliger als die Bienen und Ameisen.”

Eine sehr ähnliche Auffassung von der Komplexität der menschlichen Natur finden wir bei Kropotkin, dessen monumentale Abhandlung ‘Mutual Aid’, geschrieben zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Versuch interpretiert werden kann sich dem extremen Sozialdarwinismus von Theoretikern wie Huxley entgegenzustellen. Kropotkin sah das simplistische Konzept vom ‘Überleben der Stärkeren’ als irreführende Interpretation der Evolutionstheorie an, und wies darauf hin, dass Darwin selbst die sozialen Qualitäten des Menschen als essenzieller Faktor seines evolutionären Überlebens bemerkt hatte. ‘Origin of the Species’ ist voll von verweisen auf die soziale Natur des Menschen, ohne die, so Darwin, es sehr warscheinlich ist, dass “die Evolution des Menschen, wie wir sie kennen, niemals stattgefunden hätte”.

Kropotkins beispielhafter Fall von ‘gegenseitiger Hilfe’ als Faktor in der Evolution tierischer Spezies ist der der Ameisen. Während es aggressive Kämpfe ums Überleben zwischen Spezies geben kann, setzen sich innerhalb der Ameisengemeinschaft gegenseitige Hilfe und Kooperation durch: “Die Ameisen und Termiten haben dem Hobbes’schen Krieg entsagt, und sind deshalb besser geeignet für ihn.” Obwohl Kropotkin das Prinzip des Kampfes um die Existenz als Naturgesetz nicht leugnete, hielt er schließlich das Prinzip der geenseitigen Hilfe für wichtiger aus evolutionärer Sicht, da dieses Prinzip “die Entwicklung solcher Gewohnheiten und Charaktereigenschaften fördert, die die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der Spezies, sowie das Höchstmaß an Wohlstand und Lebensfreude für das Individuum und die geringste Energieverschwendung sicherstellen.”

Der Gedanke, dass der Anarchismus an der Entwicklung von “Gewohnheiten und Charaktereigenschaften” interessiert sein sollte, ist offensichtlich inkompatibel mit dem Gedanken an einen ursprünglichen, altruistischen Gnadenzustand. Aber Kropotkin wurde noch deutlicher. In einem besonders kraftvollen Artikel für ‘Freedom’ von 1888 mit dem Titel ‘Are We Good Enough?’ konfrontierte Kropotkin direkt das verbreitete Argument, die Menschen seien ‘nicht gut genug’, oder ‘noch nicht reif für den freien, anarchistischen Kommunismus’, indem er prägnant fragte: “Aber sind sie denn gut genug für den Kapitalismus?” Wären Menschen von Natur aus und vorwiegend gütig, selbstlos und gerecht, so Kropotkin, bestände die Gefahr von Ausbeutung und Unterdrückung gar nicht. Eben weil sie es nicht sind ist das bestehende System untragbar und muss geändert werden.

Kropotkin glaubte letztendlich daran, dass die altruistischen Aspekte der menschlichen Natur die Kraft haben sich durchzusetzen. Er behauptete, im Gegensatz zu Rousseau, dass sogar eine korrupte Gesellschaft nicht in der Lage ist, individuelle menschliche Güte zu vernichten: selbst ein kapitalistischer Staat kann “das Gefühl menschlicher Solidarität, tief verwurzelt in Verstand und Herz des Menschen, nicht ausrotten”. Nichtsdestoweniger räumte er ein, dass Menschen “nicht durch plötzliche Verwandlung zu Anarchisten werden”. Selbst nach einer erfolgreichen Revolution, die den Staat niederreißt, wird es immer noch den dringenden Bedarf an einer Bildung geben, die die sozialen Tugenden fördern kann, auf denen sich eine anarchistische Gesellschaft gründet. Das ist ein zentrales Thema.

Kein Wunder: Eben weil Anarchisten - insbesondere Sozialanarchisten - die menschliche Natur nicht als etwas essenziell Gutes annahmen, sprachen sie dem Thema Bildung eine so wichtige Rolle zu.

Aber was genau ist anarchistische Bildung und Erziehung? Bildungshistoriker und -theoretiker werfen sie oft mit ‘libertärer Erziehung’ zusammen, ein Ansatz, der die traditionellen Modelle von Lehrerautorität und hierarchischer Schulstruktur ablehnt, und der maximale Freiheit für das individuelle Kind innerhalb des Erziehungsprozesses befürwortet - im Extremfall auch die Möglichkeit aus dem Prozess ganz auszusteigen. Auch Autoren mit Sympathien für anarchistische Bildungsgedanken fassen Beschreibungen anarchistischer Schulen (wie die Escuela Moderna, 1907 durch Francisco Ferrer in Spanien gegründet, und die Modern School Bewegung in den USA, die ihr nachfolgte) mit libertären Schulen wie A.S. Neills Summerhill zusammen.

Dies ist ein weiteres Missverständnis. Die schiere Masse an anarchistischer Literatur, die der Bildungsproblematik gewidmet ist, und die Anstrengungen, die Anarchisten in Bildungsprojekte investiert haben, zeigt sehr deutlich, dass für den Sozialanarchisten Schulen und Bildung allgemein ein wichtiger Aspekt des Projektes für sozialen Wandel sind, anstatt etwas, was zusammen mit der restlichen Maschinerie der Staatsbürokratie demontiert werden sollte.

Es ist wahr, dass anarchistische Schulen oft strukturelle Eigenschaften mit Freien Schulen teilen, beispielsweise zwangfreie Pädagogik, demokratische Verwaltung, von Schülern gestaltete Stunden- und Lehrpläne, und ein ungezwungenes Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern. Aber es gibt entscheidende Unterschiede. Typische anarchistische Schulen haben substantielle Lehrinhalte mit klaren antistaatlichen, antimilitaristischen und antireligiösen Botschaften. Eine besondere Betonung liegt auf den gemeinschaftlichen Aspekten des Schullebens und der Beteiligung an breiteren politischen Anliegen.

Im Kontrast dazu macht die libertäre Position, die mit pädagogischen Experimenten wie Summerhill verbunden ist, genau die Art von optimistischen oder naiven Annahmen über die menschliche Natur, die oft fälschlicherweise dem Anarchismus zugeschrieben werden. John Darling zitiert A.S. Neill mit der Aussage, dass Kinder “von Natur aus gut” sind und zu “guten Menschen heranwachsen, wenn sie nicht in ihrer natürlichen Entwicklung durch Einmischung verkrüppelt und ausgebremst werden.”

Neill hatte beträchtliche Sympathien für Homer Lanes Idee der ‘ursprünglichen Tugend’ - was sich in seinem Beharren darauf widerspiegelte, dass jede Art von moralischer Belehrung die angeborene Güte des Kindes verdirbt. Diese reine libertäre Ansicht steht klar der anarchistischen Ansicht entgegen, die besagt, dass an dem Versuch von Erziehern substantielle Ansichten oder moralische Prinzipien an Kinder weiterzugeben nichts moralisch anstößig ist. Anarchistische Schulen, anders als Schulen wie Summerhill, machten keine Anstalten in ihrem Ethos und ihrem Lehrplan neutral zu erscheinen.

Für Anarchisten ist die ideale Gesellschaft etwas, was geschaffen werden muss. Und Bildung ist in erster Linie ein Teil dieses schöpferischen Prozesses. Er beinhaltet die radikale Herausforderung aktueller Praktiken und Institutionen, und doch gleichzeitig das Vertrauen in die Idee, dass Menschen bereits die Eigenschaften und Tugenden besitzen, die notwendig sind um eine derart andere Gesellschaft zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Sie müssen deshalb weder eine radikale Verwandlung durchmachen noch das marxistische ‘falsche Bewusstsein’ ablegen. Bildung ist kein Mittel, um eine andere politische Ordnung zu schaffen, sondern ein Raum, in dem wir mit Visionen einer neuen politischen Ordnung experimentieren - ein Prozess, der selbst eine lehrreiche und motivierende Erfahrung für Lehrende wie Lernende darstellt.

In vielen Standardwerken zum Anarchismus wird Bildung gerade einmal im Vorbeigehen erwähnt. Schade. Denn die Einsicht der Anarchisten in die Notwenigkeit eines substanziellen Bildungsprozesses, entworfen entlang klarer ethischer Prinzipien, geht Hand in Hand mit ihrer kontextualistischen Darstellung der menschlichen Natur. Dadurch macht sie etwas, was andernfalls nichts als naiver Optimismus sein könnte, zu einer komplexen und inspirierenden gesellschaftlichen Hoffnung.

Dr. Judith Suissa ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institute for Education, University of London.

Original: Anarchy in the Classroom, Übersetzung: Libertäre Gruppe Karlsruhe

Originaltext: http://lka.tumblr.com/post/431171398/anarchie-im-klassenzimmer