Was ist Faschismus? Teil 5.1: Außereuropäische faschistische Bwegungen und Regime 1

Vorbemerkung: Innerhalb der Faschismusforschung wird die Frage, inwieweit sich das Attribut „faschistisch“ zur Einstufung außereuropäischer Gruppierungen und Herrschaftssysteme überhaupt eignet, kontrovers diskutiert. Im Laufe des folgenden Streifzuges durch drei Kontinente sollen einige der in diesem Zusammenhang besonders häufig genannten Bewegungen und Regime auf den Grad ihrer Vergleichbarkeit mit den als klassisch geltenden europäischen Faschismen hin beleuchtet werden.

Teil 5.1 - Beispiele für die Verbreitung und Wirksamkeit faschistischen Gedankenguts in Lateinamerika

Brasilien

Unter portugiesischer Herrschaft

Mit der Landung einer unter dem Kommando des Seefahrers Pedro Álvares Cabral (1467-1526) stehenden Flotte an der Küste des Südatlantiks begann am 22. April 1500 die koloniale Inbesitznahme des späteren brasilianischen Territoriums im Namen der portugiesischen Krone. Erstes Ausfuhrprodukt war Brasilholz, nach dem die Kolonie benannt wurde. Bald löste Zucker das in Europa als Färbemittel begehrte Brasilholz als wichtigstes Exportgut ab. Mit gefangenen Angehörigen der indigenen Bevölkerung ließ sich allerdings der Arbeitskräftebedarf auf den Zuckerrohrplantagen nicht decken. So entstand zwischen Subsahara-Afrika und Brasilien ein blühender Sklavenhandel. Insgesamt rund 3,5 Millionen Menschen wurden von Angola, dem Sudan und dem Kongo aus in die südamerikanische Kolonie verschleppt, wo sie sich oftmals buchstäblich zu Tode schufteten. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts sollten die Deportationen andauern, die endgültige Abschaffung der Sklavenarbeit erfolgte erst 1888.

Gründung eines unabhängigen Kaiserreiches

Bestrebungen zur Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit wurden seitens der Kolonialmacht ebenso strikt unterbunden wie Tendenzen in Richtung einer Industrialisierung Brasiliens. Anfang des 19. Jahrhunderts jedoch geriet Portugal mit dem Einfall französischer Truppen in sein Kernland in akute Bedrängnis. Der portugiesische Königshof wich 1808 nach Brasilien aus und ließ sich in Rio de Janeiro nieder. 1815 erklärte João VI. (1767-1826) die formale Gleichstellung der Kolonie mit dem Mutterland im Rahmen des „Vereinigten Königreiches von Portugal, Brasilien und den Algarven“. Während der Regent 1821 nach Lissabon zurückkehrte, blieb sein Sohn Pedro (1798-1834) in Brasilien, dessen Loslösung von Portugal er im Spätsommer des darauf folgenden Jahres verkündete. Am 12. Oktober 1822 ließ er sich als Dom Pedro I. zum brasilianischen Kaiser krönen. Mit der Unabhängigkeit verstärkte sich die Einwanderung aus Europa. Hauptherkunftsländer waren Portugal, Spanien, Italien und Deutschland.

Ausrufung der Republik unter Wahrung traditioneller Machtstrukturen

Das brasilianische Kaisertum stand und fiel mit dem Rückhalt der sich in zunehmendem Maße auf die Kaffee- und Kautschukerzeugung spezialisierenden Agrareliten. Die staatliche Ächtung von Sklavenarbeit zog die Aufkündigung dieser Unterstützung nach sich. So zwang ein von Marschall Manuel Deodoro da Fonseca (1827-1892) angeführter Militärputsch 1889 Dom Pedro II. ins Exil. Zwei Jahre später erfolgte die Ausrufung einer föderativen Republik, deren Verfassung an jene der USA angelehnt war. Faktisch blieb allerdings die Macht der GroßgrundbesitzerInnen ungebrochen. Daher kam es zur Ausbildung einer Oligarchie, d. h. eine kleine Gruppe privilegierter Personen und Familien kontrollierte die Entwicklung Brasiliens. Hieran änderte sich über den Ersten Weltkrieg hinaus, in den das lateinamerikanische Land nach der Torpedierung brasilianischer Frachtschiffe durch deutsche U-Boote im Herbst 1917 auf der Seite der Alliierten eintrat, wenig. Erst als sich die ökonomischen Modernisierungsdefizite und sozialen Gegensätze im Laufe der 1920er Jahre immer heftiger bemerkbar machten, schwand der Einfluss der traditionellen Eliten zusehends. Mit dem dramatischen Einbruch der Weltmarktpreise für Kaffee während der globalen Wirtschaftskrise verschob sich die Machtbalance endgültig zugunsten der brasilianischen Armee. In dieser innenpolitischen Umbruchphase wurde eine Reihe extrem rechter Organisationen gegründet, von denen einer der Aufstieg zu einer Massenbewegung gelang.

Die „Brasilianische Integralistische Aktion“ Gewiss nicht abträglich war der Verbreitung faschistischen Gedankenguts in Brasilien das Vorhandensein zahlreicher EinwohnerInnen mit italienischen und deutschen Wurzeln, deren Gesamtzahl sich 1940 auf annähernd vier Millionen belief. Die Meinungsführerschaft innerhalb des rechten Lagers erlangte mit der „Brasilianischen Integralistischen Aktion“ („Açao Integralista Brasileira“ = AIB) jedoch keineswegs ein bloßes Importprojekt, obwohl ihr Vordenker, der Journalist Plínio Salgado (1895-1975), behauptete, anlässlich eines Treffens mit Mussolini sei in ihm „ein heiliges Feuer aufgelodert“. Gegründet wurde die „klassisch“ faschistische mit speziell brasilianischen Positionen und Erscheinungsmerkmalen verschmelzende AIB 1932. Ähnlich wie im Fall der meisten europäischen faschistischen Organisationen stützte sie sich auf eine bürgerlich geprägte Anhängerschaft, frönte dem Führerprinzip, lehnte entschieden jegliche Form von Kommunismus sowie Liberalismus ab und transportierte judenfeindliche Vorurteile. Als Leitwerte, denen im Zuge der Etablierung einer berufsständischen Ordnung zum Durchbruch zu verhelfen sei, dienten die Familie, der Katholizismus und die Nation. Im Gegensatz zum faschistischen Italien und „Dritten Reich“ zählten territoriale und imperiale Ansprüche nicht zu den Kernforderungen der AIB. Salgado zeigte sich zur Abwehr der von ihm beklagten „wachsende(n) Überfremdung von außen“ vielmehr an einer inneren Mobilisierung Brasiliens interessiert. Der AIB-Chefideologe schwärmte zwar von einer neuen brasilianischen „Rasse“, der „Brasilidade“, doch anders als Nazi-TheoretikerInnen wusste er ethnische Vielfalt durchaus zu schätzen. So betrachtete Salgado das indigene Erbe als wertvolles Element der „Brasilidade“, was u. a. darin Ausdruck fand, dass die mit „Du bist mein Bruder“ übersetzbare AIB-Begrüßungsformel „Anauê“ der Sprache der Tupi entlehnt war.

Obwohl die AIB bis zu 200.000 Mitglieder zu rekrutieren vermochte, blieb ihr Erfolg bei Wahlen relativ bescheiden. Daher setzte die Partei zunehmend auf die Schlagkraft ihrer nach der Farbe ihrer Uniformen als „Grünhemden“ bezeichneten Parteimiliz. Durch ihre Beteiligung an einem Staatsstreich wähnte sich die AIB 1937 auf direktem Weg an die Macht, ließ sich hierbei aber auf ein Bündnis ein, das ihrem Aufstieg ein abruptes Ende bereiten sollte.

Der „Neue Staat“ des Getúlio Dornelles Vargas

Mit einem im Herbst 1930 durchgeführten Militärputsch war der nationalistische Politiker Getúlio Dornelles Vargas (1883-1954) an die Staatsspitze gelangt. Nachdem er sich vier Jahre später in einer Wahl als brasilianischer Präsident hatte bestätigen lassen, gelang ihm 1935 im Zuge der Niederschlagung eines kommunistischen Aufstandsversuches eine nachhaltige Schwächung der linken Opposition. Kurz vor dem Auslaufen seiner Amtszeit initiierte Vargas im November 1937 unter dem Vorwand abermaliger kommunistischer Umsturzplanungen einen erneuten Putsch. Unterstützung erhielt er seitens der AIB, die darauf baute, hierfür mit einer Art politischen Monopolstellung belohnt zu werden. Im Anschluss an den geglückten Staatsstreich verfügte Vargas jedoch ein allgemeines Parteienverbot, unter das auch die AIB fiel. Enttäuschte „Grünhemden“ antworteten im Mai 1938 mit einer kläglich scheiternden Erhebung, die systematische staatliche Verfolgungsmaßnahmen nach sich zog. Die „integralistische“ Bewegung zerfiel, ihre Leitfigur Salgado floh ins Exil nach Portugal, wo seit knapp fünf Jahren eine faschistische Anklänge aufweisende autoritäre Diktatur unter der Führung von António de Oliveira Salazar (1889-1970) herrschte. So besaß Vargas freie Hand bei der Festigung des von ihm unter begrifflicher Anleihe bei Salazar ausgerufenen „Neuen Staates“ („Estado Novo“).

Anders als die Machthaber Italiens und Deutschlands hielt er die Gründung einer Massenpartei zur Etablierung seiner Herrschaft für unnötig und verknüpfte sein politisches Schicksal umso enger mit dem brasilianischen Militär. Noch rigoroser als das Mussolini-Regime und die Führung des „Dritten Reiches“ ging Vargas bei der Beseitigung parlamentarisch-demokratischer Strukturen vor. So ordnete er kurzerhand die Auflösung des Abgeordnetenhauses und das Inkrafttreten einer neuen, autoritären Verfassung an, um fortan mittels von ihm erlassener Dekrete zu regieren. Durch die drastische Beschneidung bundesstaatlicher Kompetenzen zugunsten eines strikten Zentralismusforcierte Vargas zusätzlich die Errichtung eines in hohem Maße auf ihn persönlich zugeschnittenen Herrschaftssystems. Hierbei konnte er an die in Lateinamerika bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende Tradition des „Caudillismo“, also ohne Formen institutioneller Verankerung auskommender, allein auf dem Charisma und der Autorität politisch-militärischer Führerfiguren beruhender Staats- und Gesellschaftsordnungen, anknüpfen. Gravierende Eingriffe wurden auf ökonomischem Gebiet vorgenommen. Zum Leidwesen der Agrareliten setzte das Vargas-Regime einen staatlich gelenkten Industrialisierungsprozess in Gang. Sozialpolitische Zugeständnisse wie die 1940 vollzogene Einführung eines Mindestlohns dienten der Abfederung der hierdurch verursachten gesellschaftlichen Umbrüche und sicherten der Diktatur bei weiten Teilen der Bevölkerung beachtliche Popularität. In Anlehnung an die innerhalb Europas praktizierten „nationalsyndikalistischen“ Modelle wurde ein sich je zur Hälfte aus VertreterInnen der Unternehmen und der Arbeiterschaft zusammensetzendes Wirtschaftskonzil installiert, das zur Verabschiedung von Gesetzen befugt war, so sie denn die Zustimmung des Diktators fanden. Gewerkschaften waren nur erlaubt, wenn sie sich mit einer reinen Alibifunktion begnügten.

Im Gegensatz zu den IdeologInnen vieler europäischer Faschismen hegte das Vargas-Regime keine außenpolitischen Expansionsgelüste. Nichtsdestotrotz zeigte es sich unter erheblichem Propagandaaufwand um die Stärkung des brasilianischen Nationalismus bemüht, was ein gewisses Konfliktpotenzial im Verhältnis zu den Führungen Italiens und des „Dritten Reiches“ barg. Der auf die italienisch- und deutschstämmigen BrasilianerInnen zunehmend ausgeübte Assimilationsdruck kollidierte nämlich mit der Haltung der beiden europäischen Regime, die MigrantInnen als der eigenen „Volksgemeinschaft“ zugehörig zu betrachten und sich ihrer bei Bedarf entsprechend zu bedienen. Während des Zweiten Weltkrieges wahrte Brasilien zunächst Neutralität. Nach Operationen deutscher und italienischer U-Boote vor der brasilianischen Küste erklärte das Land im Spätsommer 1942 den „Achsenmächten“ schließlich den Krieg. Mit diesem Schritt zog Vargas sich den Unmut hochrangiger Militärvertreter zu. Darüber hinaus verlieh der Kriegseintritt an der Seite der USA den demokratischen und liberalen Kräften Brasiliens neuen Aufwind. So endete mit dem Zweiten Weltkrieg auch die Herrschaft des Diktators, den im Oktober 1945 ein Militärputsch zum Rücktritt zwang. 1950 feierte Vargas mit seiner Wahl zum brasilianischen Präsidenten ein politisches Comeback. Als das Militär ihn 1954 ein weiteres Mal zum Rücktritt aufforderte, beging er Selbstmord.

Auf seinen 1945 wieder nach Brasilien zurückgekehrten „integralistischen“ Widersacher Plínio Salgado entfielen bei den im Herbst 1955 abgehaltenen Wahlen um Vargas` Nachfolge immerhin rund 540.000 Stimmen.

Argentinien

Problematische Integration in das spanische Kolonialreich

Als erster Europäer soll Anfang 1516 der bald darauf von Angehörigen eines indigenen Stammes getötete spanische Seefahrer Juan Díaz de Solís (geboren 1470) argentinischen Boden betreten haben. Die Kolonisierung jener Teile Südamerikas, aus denen später Argentinien und Chile entstanden, gestaltete sich für Spanien wegen äußerst wehrhafter einheimischer Bevölkerungsgruppen schwierig. Das Herrschaftsgebiet der europäischen Eindringlinge beschränkte sich über einen längeren Zeitraum auf eine überschaubare Anzahl an Ansiedlungen und Forts. Besonders hartnäckigen Widerstand leistete das Volk der Mapuche, was die Kolonialmacht 1641 zur vertraglichen Anerkennung eines unabhängigen Territoriums bewog. In verwaltungstechnischer Hinsicht gehörte Argentinien dem Vizekönigreich Peru an, bis es 1776 mit Bolivien, Paraguay und Uruguay zum Vizekönigreich des Río de la Plata zusammengefasst wurde.

Erlangung der Unabhängigkeit

Die Invasion napoleonischer Verbände in Spanien führte im Vizekönigreich des Río de la Plata zu einem Erstarken der Unabhängigkeitsbewegung(en). Ein am 25. Mai 1810 im argentinischen Buenos Aires einberufener Kongress von VertreterInnen kreolischer, d.h. mehrheitlich von spanischen EinwanderInnen abstammender Bevölkerungskreise beschloss die Absetzung des Vizekönigs. Die endgültige Loslösung Argentiniens von Spanien erfolgte am 9. Juli 1816 in San Miguel de Tucumán.

Föderationskriege

Die Nationalstaatsbildung wurde in Argentinien von massiven Auseinandersetzungen bürgerkriegsartiger Natur begleitet. Der Konflikt entbrannte um die Frage der zukünftigen Staatsform. Während die durch liberale Kaufleute aus Buenos Aires dominierte Gruppe der so genannten Unitarier eine zentralistische Lösung befürwortete, pochte die von konservativen GroßgrundbesitzerInnen beherrschte föderalistische Fraktion auf ein Höchstmaß an Autonomie für die argentinischen Provinzen. Unter Einsatz terroristischer Methoden schwang sich Mitte der 1830er Jahre der Föderalist Juan Manuel de Rosas (1793-1877) zum Diktator auf, dessen Macht erst 1852 gebrochen werden konnte. Zehn weitere Jahre vergingen, bis es auf Basis einer republikanischen Verfassung zur Gründung eines Einheitsstaates kam.

Eliminierung verbliebener indigener Herrschaftsgebiete

Ein Dorn im Auge waren der argentinischen Staats- und Militärführung die Regionen indigener Selbstverwaltung. Im Rahmen der Züge eines Genozids tragenden „Wüstenkampagne“ unterwarfen von General Julio Argentino Roca (1843-1914) befehligte Truppen zwischen 1878 und 1884 die in der Pampa und Patagonien lebenden Stammesgemeinschaften der Mapuche und Tehuelche. Die Nutzung des hierdurch erschlossenen riesigen Reservoirs an Weidegründen und Getreideanbauflächen blieb wenigen privilegierten Familien vorbehalten.

Einwanderungswelle und ökonomischer Boom

Die Ausfuhr von Weizen und Rinderfleisch fungierte als Motor einer Jahrzehnte währenden Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Ein weiterer Faktor der nachhaltigen konjunkturellen Belebung war der vermehrte Zustrom europäischer EinwanderInnen, die insbesondere aus Italien, Spanien, Frankreich, Großbritannien sowie dem deutschsprachigen Raum den Weg nach Argentinien fanden und dort die Entwicklung von Industrie und Handwerk entscheidend prägten. Die Möglichkeit der politischen Einflussnahme blieb ihnen jedoch wie dem Großteil der übrigen Bevölkerung verwehrt.

Durchbruch und Niedergang der repräsentativen Demokratie

Um das Machtmonopol der Landoligarchie zu überwinden, formierte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus den Reihen des bürgerlichen Mittelstands die „Radikale Bürgerunion“ („Unión Cívica Radical“ = UCR), die wesentlichen Anteil an der Einführung des allgemeinen Männerwahlrechtes 1912 besaß. Die politische Ernte ihrer diesbezüglichen Bemühungen fuhr die UCR 1916 ein, als ihr Kandidat Hipólito Yrigoyen (1852-1933) die Präsidentschaftswahlen gewann. Der Erste Weltkrieg, in den das Land militärisch nicht eingriff, tat der ökonomischen Erfolgsgeschichte Argentiniens keinerlei Abbruch. Wenig änderte sich allerdings auch an der ungleichen Verteilung der erwirtschafteten Reichtümer. Eine maßgeblich durch die anarchosyndikalistische Arbeiter-Föderation der Region Argentinien (Federación Obrera Regional Argentina= FORA) organisierte Streikbewegung vermochte 1919 das System der Ausbeutung nur kurzfristig zu erschüttern, ließ aber Industrie- wie Agrareliten ernsthaft um den Erhalt ihrer Besitzstände fürchten. Noch empfindlicher traf die argentinische Ökonomie der mit der Weltwirtschaftskrise einhergehende Absturz der Agrarpreise.

Auf die wirtschaftliche folgte die politische Destabilisierung. So verdrängte 1930 ein Staatsstreich Yrigoyen von der Macht und leitete eine als „schändliche Dekade“ („década infame“) bezeichnete Periode der Herrschaft eines in sich zerstrittenen Militärapparates ein.

Jahrzehnt der scheiternden Generäle

Ihren Anfang nahm die „schändliche Dekade“ mit dem Aufstieg des Generals José Félix Uriburu (1868-1932) zum faktischen Staatsoberhaupt Argentiniens im September 1930. Der Putschist plante den Aufbau einer berufsständisch organisierten Wirtschaftsordnung nach italienischem Vorbild. Da ihm aber weder Armee noch Zivilgesellschaft ausreichenden Rückhalt boten, konnte sich Uriburu lediglich bis Mitte Februar 1932 an der Macht behaupten. Nach dem Uriburu-Regime versuchten sich verschiedene weitere Militärdiktaturen ähnlich erfolglos an der Errichtung eines stabilen Herrschaftsapparates. Aus 1938 abgehaltenen Präsidentschaftswahlen ging schließlich der Jurist Roberto María Ortiz (1886-1942) als Sieger hervor. Obwohl es bei der Abstimmung zu den üblichen Unregelmäßigkeiten gekommen war, setzte sich Ortiz für eine Demokratisierung des Landes ein. Eine schwere Erkrankung zwang ihn jedoch 1942 zum Rücktritt, woraufhin der autoritärer eingestellte Vizepräsident Ramón Castillo (1873-1944) seinen Platz einnahm. In außenpolitischer Hinsicht sympathisierte Castillo mit den „Achsenmächten“, sah sich aber mit starkem Druck der US-Regierung konfrontiert, den argentinischen Neutralitätskurs aufzugeben und auf Seiten der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Hiergegen bezog ein Zusammenschluss nationalistischer Offiziere entschieden Position.

Bildung einer profaschistischen Militärjunta und Aufstieg Peróns

Mitte 1943 putschte sich in Argentinien eine militärische Geheimorganisation, die„Gruppe der Vereinten Offiziere“ („Grupo de Oficiales Unidos“ = GOU), an die Macht. Zu ihren Mitgliedern zählte Oberst Juan Domingo Perón (1895-1974), ein erklärter Bewunderer des italienischen Faschismus. Trotz ihrer profaschistischen Haltung setzte das GOU-Regime die offizielle Neutralitätspolitik fort, unterstützte aber nicht zuletzt auf Betreiben Peróns, der in einer Allianz mit dem „Dritten Reich“ die Chance zur Erlangung der argentinischen Vorherrschaft in Südamerika erblickte, insgeheim die deutsche Auslandsspionage. Auch wenn sich Argentinien kurz vor Kriegsende doch noch dem Lager der Alliierten anschloss, avancierte Perón zur zentralen Figur der Militärjunta. Den Grundstein für seinen Aufstieg legte er im Amt des Ministers für Arbeit und Wohlfahrt. Perón „säuberte“ die argentinische Gewerkschaftsbewegung von linken Einflüssen, sorgte für die Einbeziehung bislang nicht gewerkschaftlich vertretener ArbeiterInnen und ordnete die Gründung staatlich finanzierter Einheitsorganisationen für jeden Wirtschaftssektor sowie eines seiner Kontrolle unterliegenden Dachverbands, der „Confederación General del Trabajo“ (CGT), an. Da diese Maßnahmen mit substanziellen Verbesserungen der allgemeinen Arbeitsbedingungen verbunden wurden, stießen sie innerhalb proletarischer Kreise auf einen hohen Grad an positiver Resonanz.

Eine zusätzliche Steigerung erfuhr Peróns Popularität durch den propagandistischen Einsatz seiner Geliebten und späteren Ehefrau Eva Duarte (1919-1952), einer aus armen Verhältnissen stammenden, regelmäßige Radioauftritte absolvierenden Schauspielerin. Das Anwachsen seiner Anhängerschaft beunruhigte die übrige Militärjunta ebenso wie die Regierungen der Alliierten. So wurde Perón, inzwischen zum Kriegsminister und Vizepräsidenten aufgerückt, im Herbst 1945 seiner Posten enthoben und verhaftet. Daraufhin strömten am 17. Oktober hunderttausende Streikende in die Innenstadt von Buenos Aires. In der brütenden Hitze entledigte sich eine Reihe von ihnen ihrer Hemden und suchte in Springbrunnen Abkühlung. Die Legende von den peronistischen „Hemdlosen“ („descamisados“) war geboren. Zur Besänftigung der protestierenden Massen wurde Perón umgehend frei- und zu den Präsidentschaftswahlen des folgenden Jahres zugelassen.

Herrschaftssystem und ideologische Leitgedanken des Perónismus

Die Ende Februar 1946 abgehaltenen Wahlen zum Staatsoberhaupt gewann Perón mit einem Stimmenanteil von 56 Prozent. Zielstrebig begab sich der Wahlsieger an die Installierung eines zentrale Herrschaftstechniken und weltanschauliche Elemente der „klassischen“ europäischen Faschismen aufgreifenden Machtapparates. Die Loyalität der CGT sicherte dem Perón-Regime ein für Diktaturen faschistischer Prägung eher unübliches Maß an proletarischer Zustimmung. Weite Teile des Offizierskorps und der industriellen Unternehmerschaft sowie die 1947 von ihm aus der Taufe gehobene „Gerechtigkeits-Partei“ („Partido Justicialista“ = PJ) vervollständigten Peróns Machtbasis. Der Parteiname besaß durchaus programmatischen Charakter, denn neben nationalistischen Botschaften zählten sozialreformerische Postulate und Projekte zu den Kernanliegen der peronistischen Bewegung. So blieb zwar das grundsätzliche Gefüge der Eigentumsverhältnisse während Peróns Präsidentschaft unangetastet, doch der zwischen 1946 und 1948 zu verzeichnende Anstieg ihrer Reallöhne um 35 Prozent sowie für sie vorteilhafte Eingriffe in den Unfallschutz und das Rentensystem wurden von der argentinischen Arbeiterschaft als Indikatoren einer sprunghaften Verbesserung ihrer sozialen Lagemehrheitlich freudig begrüßt. Zusätzliche Popularität verschaffte dem Regime die karitative Tätigkeit der nach der „First Lady“ („Primera Dama“) benannten „Eva Perón“-Stiftung.

Zur Bildung einer Einparteiendiktatur kam es trotz entsprechender Tendenzen letztlich nicht. Die intensive, Peróns Wiederwahl im Herbst 1951 massiv unterstützende Nutzung der staatlich gelenkten Massenmedien zu Propagandazwecken schränkte aber den gesellschaftlichen Pluralismus stark ein. Regte sich dennoch offener Widerstand, wie z.B. 1951 im Zuge eines Eisenbahnerstreiks, reagierte das Perón-Regime mit blanker Gewalt und Repression. Mit besonderem Aufwand wurde die Stilisierung Peróns zum nationalen „Führer“ („conductor“) betrieben. Deckte sich der die Figur des Präsidenten überhöhende Personenkult mit dem faschistischen Führerprinzip, so fiel die Verklärung seiner Gattin „Evita“, die sich mit Eva Peróns Krebstod 1952 in Richtung einer Heiligenverehrung zu entwickeln begann, aus dem ideologischen Bezugsrahmen des Faschismus mit seiner ausgeprägten Männlichkeitsfixierung. Antisemitische und rassistische Positionen waren innerhalb der Anhängerschaft des Peronismus verbreitet, bestimmten dessen offiziellen Kurs aber deutlich weniger als etwa die Politik des untergegangenen „Dritten Reiches“. Auf eine unverändert starke Affinität Peróns zum „Nationalsozialismus“ deutet aber die Tatsache hin, dass Argentinien unter seiner Herrschaft zu einem der Hauptzufluchtsstaaten untergetauchter NS-Verbrecher wurde.

In wirtschaftspolitischer Hinsicht nahm Perón für sein Regime in Anspruch, einen „dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus zu beschreiten. Als wichtige Etappe erschien ihm in diesem Zusammenhang der Aufbau einer durch die faschistischen Bewegungen Italiens und Spaniens inspirierten Ständeordnung. Zudem verfolgte er das Ziel, durch die Verstaatlichung bestimmter Schlüsselsektoren, etwa des Eisenbahnwesens, und einen forcierten Industrialisierungsprozess ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu erreichen, was tendenziell an den im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges seitens der Nazi-Führung verfolgten Autarkiekurs erinnerte. Mitte der 1950er Jahre ließ sich jedoch nicht mehr verbergen, dass Perón zwischen allen Stühlen saß: Die Ablehnung der ihn ohnehin skeptisch betrachtenden Agrareliten wuchs, die Spitzen der auf dem Weltmarkt noch nicht etablierten argentinischen Industrie drängten auf Senkung des Lohnniveaus, die peronistische Gewerkschaftsbewegung forderte inmitten einer konjunkturellen Talfahrt das Gegenteil und wartete vergeblich auf vollmundig angekündigte Erfolge im Kampf gegen den US-Kapitalismus, Papst Pius XII. (1876-1958) exkommunizierte 1955 den Präsidenten nach einer Reihe den Vatikan alarmierender laizistischer Maßnahmen und selbst der Rückhalt des Militärs bröckelte zusehends.

Sturz und politisches Comeback

Im September 1955 bereitete ein Militärputsch Peróns Herrschaft ein vorläufiges Ende. Fast zwei Jahrzehnte verbrachte der gestürzte Machthaber im Exil, bevor er 1973 die Erlaubnis zur Rückkehr von Spanien nach Argentinien erhielt. Perón wurde im Oktober erneut zum Präsidenten gewählt, erwies sich allerdings als nicht in der Lage, die durch eine wirtschaftliche Dauerkrise und bürgerkriegsartige Auseinandersetzungen geprägte innenpolitische Situation zu stabilisieren, zumal selbst innerhalb der peronistischen Bewegung längst heftige Flügelkämpfe entbrannt waren. Am 1. Juli 1974 verschied der Präsident.

Neue Amtsinhaberin wurde seine dritte Ehefrau Isabel Perón (geboren 1931). Trotz verstärkten Einsatzes staatsterroristischer Methoden entglitt dem nominell von ihr geführten Regime immer mehr die Kontrolle über die Entwicklung des Landes, so dass sie im Frühjahr 1976 im Zuge eines weiteren Staatsstreiches entmachtet wurde.

Im Laufe der daraufhin errichteten, bis 1983 andauernden Militärdiktatur erreichte die staatliche Unterdrückung eine neue Qualität, bis zu 30.000 Oppositionelle wurden umgebracht bzw. „verschwanden“. Nach Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie beriefen sich mit dem Neoliberalen Carlos Menem (geboren 1930) sowie dem eher linksnationalistisch orientierten Ehepaar Néstor Kirchner (1950-2010) und Cristina Kirchner (geboren 1953) bislang drei argentinische Staatsoberhäupter auf die Werte des Peronismus.

Chile

Der Weg in die Unabhängigkeit

Ähnlich wie im benachbarten Argentinien stieß die im 16. Jahrhundert beginnende koloniale Inbesitznahme Chiles durch die spanische Krone auf erbitterte Gegenwehr indigener Stammesgemeinschaften. Zunächst gehörte Chile dem Vizekönigreich Peru an, bevor es 1778 den Status eines eigenständigen Generalkapitanats erhielt. Am 12. Februar 1818 erfolgte die Ausrufung der chilenischen Unabhängigkeit.

Etablierung und Ablösung der „Autoritären Republik“

Erster Präsident Chiles wurde der Liberale Bernardo O’Higgins (1778-1842). Letzterer konnte sich aber nicht gegenüber den konservativen GroßgrundbesitzerInnen behaupten, welche die Loslösung von Spanien unterstützt hatten, aber die gesellschaftliche Vormachtstellung der Oberschicht zementiert wissen wollten. So kam es zur Bildung einer „Autoritären Republik“, die erst 1891 im Zuge eines Bürgerkrieges durch eine parlamentarisch-demokratische Ordnung ersetzt wurde.

Gewaltsame Zurückdrängung indigener Lebensformen

Die indigenen Bevölkerungsgruppen Chiles sahen sich mit einer brutalen Vertreibungs- und Auslöschungspolitik konfrontiert. Ihre Rückzugsgebiete im Süden des Landes wurden ihnen zwischen 1845 und 1925 entrissen und europäischen EinwanderInnen, von denen zahlreiche aus dem deutschsprachigen Raum stammten, zur Ansiedlung überlassen.

Salpeter- und Kupferabbau als Quelle wirtschaftlicher Prosperität

Im so genannten Salpeterkrieg, einer von 1879 bis 1884 mit Bolivien und Peru geführten militärischen Auseinandersetzung, verleibte sich Chile die weltweit wichtigsten Vorkommen für die Produktion von Dünger und Sprengstoff unentbehrlichen Nitrats ein. Die Ausbeutung dieser Lagerstätten und der ab Anfang des 20. Jahrhunderts in großem Stil betriebene Kupferbergbau bescherten Chile einen Wirtschaftsboom.

Soziale Spannungen

Die mit dem Export der Bodenschätze erzielten Profite kamen in erster Linie der chilenischen Oberschicht sowie US-Firmen zugute, während die Arbeiterschaft für Hungerlöhne ihre Gesundheit riskierte. Gegen die soziale Ungleichheit begannen die Betroffenen um die Jahrhundertwende Widerstand zu organisieren, der wiederum staatliche Repressalien nach sich zog. So richteten Ende 1907 Soldaten im nordchilenischen Iquique ein zirka 3.000 Todesopfer forderndes Blutbad an Streikenden und ihren Familien an. Nach dem Ersten Weltkrieg, in dem Chile Neutralität wahrte, ließ der internationale Bedarf an Salpeter aufgrund der Entwicklung innovativer Verfahren zur Stickstoffgewinnung stark nach. Der hierdurch verursachte Abwärtstrend der chilenischen Wirtschaft ging mit einem Prozess innenpolitischer Destabilisierung einher. Mitte der 1920er Jahre hebelte eine von General Carlos Ibáñez del Campo (1877-1960) angeführte Militärjunta die parlamentarisch-demokratische Ordnung aus. Die für Chile gravierenden Folgen der Weltwirtschaftskrise sorgten jedoch für eine Verschärfung der sozialen Spannungen, die sich im Sommer 1931 in Form eines Ibáñez von der Macht vertreibenden Aufstands Bahn brachen.

Politische Polarisierung

Im Lauf der 1930er Jahre prägten zunehmende Polarisierungstendenzen die Entwicklung der chilenischen Parteienlandschaft. Innerhalb des linken Lagers formierten sich 1936 die Sozialistische Partei Chiles (Partido Socialista de Chile = PS) und die Kommunistische Partei Chiles (Partido Comunista de Chile = PC) gemeinsam mit der eher bürgerlichen „Radikalen Partei“ (Partido Radical= PR) zur „Volksfront“ (Frente Popular), die zwei Jahre später die Regierungsgeschäfte übernahm. Aus den Kräften des rechten Spektrums stach mit der 1932 gegründeten „Nationalsozialistischen Bewegung Chiles“ (Movimiento Nacional-Socialista de Chile = MNS) eine sich revolutionär gebärdende Partei hervor, deren Ausrichtung an der Weltanschauung und Organisationsstruktur der Nazi-Bewegung bereits in der Namenswahl anklang. Auf diese Orientierung deutete auch die Tatsache hin, dass mit dem Chefideologen Carlos Keller Rueff (1897-1974) und ihrem „Führer“ („Jefe“) Jorge González von Marées(1900-1962) die beiden Leitfiguren der MNS deutsche Wurzeln besaßen. Obwohl ihre Mitgliederzahl nur etwa 20.000 betrug, wagte die MNS im September 1938 einen zudem dilettantisch vorbereiteten Putschversuch, nach dessen blutiger Niederschlagung sie in der politischen Versenkung verschwand.

Vom Ende der „Volksfront“ bis zur christdemokratischen Reformregierung

Im Zweiten Weltkrieg blieb Chile nicht zuletzt aus Rücksicht auf die deutschstämmige Minderheit lange neutral, um sich 1944 doch noch den Alliierten anzuschließen. Bereits drei Jahre zuvor war es zwar zum Bruch der „Volksfront“ gekommen, aber unter Duldung der ehemaligen Koalitionspartner konnte die PR weiterhin regieren. Als Sieger der Präsidentschaftswahlen feierte 1952 der einstige Diktator Ibáñez eine politische Wiederauferstehung. Auf ihn folgte 1958 der konservative Unternehmer Jorge Alessandri (1896-1986). Nachdem ihre Amtszeiten ohne Überbrückung der noch immer eklatanten sozialen Gegensätze verstrichen waren, schien 1964 die Regierungsübernahme seitens der sieben Jahre vorher aus der Taufe gehobenen Christdemokratischen Partei (Partido Demócrata Cristiano = PDC) einen echten Politikwechsel einzuläuten. So signalisierte der christdemokratische Präsident Eduardo Frei Montalva (1911-1982) ernsthafte Reformbereitschaft, indem er z.B. eine wesentlich gerechtere Verteilung des vorhandenen Agrarbesitzes in die Wege leitete. Die linke Opposition hielt allerdings radikalere Maßnahmen für geboten. Zur Bündelung ihrer Kräfte bildeten PS, PC und diverse andere Gruppen Ende 1969 ein als „Volkseinheit“(„Unidad Popular“ = UP) bezeichnetes Wahlbündnis.

Das Pinochet-Regime

Präsidentschaft und gewaltsamer Sturz Salvador Allendes

Bei einem im September 1970 abgehaltenen Urnengang setzte sich die UP mit ihrem sozialistischen Spitzenkandidaten Salvador Allende (1908-1973) durch. Umgehend startete die marxistisch geprägte Regierung einen Prozess sozialer Umwälzung. Zum diesbezüglichen Maßnahmenbündel zählten etwa eine deutliche Erhöhung der Löhne sowie das Einfrieren der Miet- und Lebensmittelpreise.

Die Finanzierung sollte u. a. durch die Verstaatlichung der chilenischen Kupfervorkommen und die entschädigungslose Enteignung in- wie ausländischer Industriebetriebe erfolgen. Aufgrund des sozialrevolutionären Kurses der UP kündigte die mittelschichtsorientierte PDC ihre anfängliche Unterstützung Allendes auf. Der Druck auf die UP wuchs enorm im Zuge des gegen sie gerichteten Engagements der US-Regierung, die das in Chile begonnene sozialistische Experiment als inakzeptable Bedrohung ihrer außenpolitischen und wirtschaftlichen Interessen begriff.

So verhängte die Führung der Vereinigten Staaten unter Präsident Richard Nixon (1913-1994) wirtschaftliche Sanktionen, schnitt Chile vom internationalen Finanzmarkt ab und ließ der extrem rechten Terrorgruppe „Vaterland und Freiheit“ (Patria y Libertad) über den US-amerikanischen Auslandsnachrichtendienst CIA Geld und militärisches Know-how zukommen. Um sich des Rückhalts der eigenen Armee zu versichern, ernannte Allende den regierungsloyalen General Carlos Prats (1915-1974) zum Innenminister.

Auf Empfehlung Prats’ betraute Allende Ende August 1973 Augusto Pinochet (1915-2006), der als ehemaliger Militärattaché in Washington über beste Kontakte zu den Spitzen der US-Streitkräfte und zur CIA verfügte, mit dem Oberbefehl über das chilenische Heer. Wenige Wochen später, am 11. September, kommandierte Pinochet einen Militärputsch, der trotz erbitterter Gegenwehr der UP-AnhängerInnen den Sturz der Allende-Regierung erzwang. Das Staatsoberhaupt selbst starb im von Luftwaffen- und Panzereinheiten attackierten Präsidentenpalast.

Der Staatsstreich war Auftakt einer Welle blutiger Verfolgung, in deren Verlauf zahlreiche Angehörige und SympathisantInnen der UP in improvisierte Lager, allein um die 40.000 in das Nationalstadion der Hauptstadt, gepfercht und in vielen Fällen gefoltert wurden. Erst allmählich wich der massenhafte Terror gezielteren Formen der Repression, wobei parteipolitische und gewerkschaftliche Aktivitäten einem generellen Verbot unterlagen. Insgesamt wurden während der Militärdiktatur zirka 4.000 Oppositionelle ermordet, knapp ein Zehntel der rund zehn Millionen Menschen umfassenden chilenischen Bevölkerung emigrierte. Pinochets hervorgehobene Stellung innerhalb des Kreises der Putschisten erhielt 1974 mit seiner Ausrufung zum „Obersten Führer der Nation“ (Jefe Supremo de la Junta) offizielle Weihen. Doch trotz des Vorhandenseins einer Führerpersönlichkeit und eines unter Einsatz terroristischer Mittel praktizierten Antikommunismus sollte sich das Pinochet-Regime nur bedingt zu einem Herrschaftsapparat faschistischer Prägung entwickeln. So wurde z B. auf die „klassische“ Faschismen auszeichnende Gründung einer entsprechenden Partei verzichtet. Stattdessen stützte Pinochet seine Macht allein auf Polizei- und Militärkräfte sowie die für „Sonderaufgaben“ vorgesehene Terrororganisation „Nationale Geheimdienstbehörde“ (Dirección de Inteligencia Nacional = DINA). Auf ökonomischem Gebiet wurde ebenfalls kein für faschistische Bewegungen typischer Weg beschritten. Anstatt etwa den Aufbau einer berufsständischen Gesellschaftsordnung zu betreiben oder Autarkiebestrebungen zu verfolgen, ließ sich das Pinochet-Regime von der neoliberalen Lehre des US-Wirtschaftstheoretikers Milton Friedman (1912-2006) leiten, was sich u.a. in der Reprivatisierung sämtlicher Betriebe sowie einer drastischen Senkung der Sozial- und Bildungsausgaben niederschlug.

War etwa in Argentinien während der Hochphase des Peronismus der Versuch einer nationalistischen Mobilisierung auf Kosten der Vereinigten Staaten unternommen worden, arrangierte sich Chile unter Pinochet bereitwillig mit der US-amerikanischen Vorherrschaft. Im Gegenzug gewährte die US-Regierung intensive Wirtschaftshilfe und vermittelte internationale Kredite. Auf Dauer war aber die in beträchtlichem Ausmaß von Armut und Unterernährung betroffene Bevölkerung nicht allein mit Zwang und Unterdrückung ruhigzustellen. 1987 weichte Pinochet daher das Parteienverbot auf, ein Jahr später gestattete er die Abhaltung eines Plebiszits über die Fortsetzung seiner Herrschaft. Der Diktator beugte sich dem für ihn negativen Votum und machte, nachdem er sich aus Furcht vor strafrechtlicher Verfolgung zum Senator auf Lebenszeit hatte berufen lassen, einem parlamentarisch-demokratischen Neuanfang Platz.

Erst 2005, ein Jahr vor seinem Tod, erfolgte die Aufhebung seiner Immunität, doch medizinische Gründe bewahrten ihn vor einem Prozess.

fpf

Quellen:


Originaltext: Gai Dao Nr. 7, Zeitung der anarchistischen Föderation FdA- IFA (2011). Die Gai Dao ist im Downloadbereich oder auf der Homepage des Projekts jeweils als PDF downloadbar. Buch: Pfeiffer, Frank - Kurze Weltgeschichte des Faschismus