Otto Müller - Wir

Wir lagen 12 Jahre in Zwang und Pein
und schufen Kanonen, Granaten.
Zu Tode gehetzt unser Menschlichsein,
von allen und allem verraten.
Die Schatten des Kerkers auf unserem Gesicht
schrie qualvoll die Seele nach Freiheit und Licht.

Wir standen im Grauen der mordenden Schlacht,
kein Pfifferling galt unser Leben.
Wir haben gar manchen zu Grabe gebracht,
das letzte Geleit ihm gegeben.
Und mancher verkam in die Erde verkrallt,
zerfetzt und zerschossen im Feld und im Wald.

Wir sahen gesammeltes Menschenglück
im Rauch und in Flammen vergehen.
Die Mauern zerbarsten vor unserem Blick,
ein ragendes Kreuz nur blieb stehen.
Ein feuerversengter, geschundener Hund
schlich winselnd und klagend um's Trümmerrund.
 
Wir liefen auf Straßen in drängender Flut
von Furcht und von Schrecken getrieben
in Bündeln das letzte gerettete Gut,
das letzte, das uns geblieben.
Ein Kindlein verlassen am Wege stand
Wer hat seinen Vater, die Mutter gekannt.

Doch endlich der grausige Wahn zerstob,
Vom Urteil des Schicksals getroffen.
Und bleibt auch noch immer ein Wenn und ein Ob
Wir wagen doch wieder zu hoffen,
daß endlich von Zwietracht und Krieg belehrt
die Menschheit zur Einheit, zum Lichte sich kehrt.

Und wie nach dem eisigen Winter der Saft
in Busch und in Baum drängt zum Leben,
so wollen wir neu und mit frischer Kraft
das Banner der Menschheit erheben.
Und schützend wollen wir bei ihm stehen,
daß es nimmer und nimmer soll untergehen.
 
Anmerkung: Das vorangegangene Gedicht schrieb der Mechaniker Otto Müller (geboren 1902 in Göppingen). 1918 gehörte er der Sozialistischen Arbeiterjugend an und war bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten Mitglied der FAUD. Wegen illegaler Tätigkeit wurde er 1935 verhaftet und 13 Monate in Untersuchungs- und Schutzhaft gehalten. Das Gedicht "Wir" schrieb er 1947.

Aus: Theissen / Walter / Wilhelms: Anarcho-Syndikalistischer Widerstand an Rhein und Ruhr. Zwölf Jahre hinter Stacheldraht und Gitter. Originaldokumente. Ems-Kopp-Verlag 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at