Verquere Fronten. Zur Kritik der nationalrevolutionären Ideologie

Dass Neonazis sich immer öfter einer „linken“ Symbolik bedienen, ist längst nichts Neues. „Autonome Nationalisten“ bilden auf Demonstrationen „Schwarze Blöcke“, Palitücher und Che-Guevara-T-Shirts gehören fast schon zum guten Ton. Und auch bei Freien Kameradschaften und NPD wird eifrig „Kapitalismuskritik“ betrieben und der „nationale Sozialismus“ gefordert.

Das müsste kein Grund zur Beunruhigung sein – trotz aller scheinbaren Neuerungen hat sich das Weltbild der Neonazis nicht geändert. Dennoch haben Linke oft Probleme, auf diese äußerliche Annäherung angemessen zu reagieren, auch weil sich die eigenen Forderungen von denen der Neonazis mitunter nur schwer unterscheiden lassen – schließlich ist auch nicht alles, was irgendwie „links“ ist, gleich besonders menschenfreundlich oder emanzipatorisch.

Um zu einer Klärung der Fronten beizutragen, sollen hier deswegen die zentralen Punkte der faschistischen – oder besser: „nationalrevolutionären“ – Ideologie und deren Herkunft näher beleuchtet werden. Der Begriff „nationalrevolutionär“ scheint mir hier angemessener, da er weiter gefasst und gleichzeitig präziser ist als das im politisch-diskursiven Handgemenge recht inflationär gebrauchte Wörtchen „faschistisch“. So hat dieser Begriff den Vorteil, dass er auch gewöhnlich als „links“ definierte Denkweisen und Bewegungen einschließt und zugleich Inhalt und Form des Faschismus näher bestimmt. Denn dieser war immer eine auf den Nationalstaat hin ausgerichtete Bewegung, dabei aber nicht nur konservativ auf eine Rückkehr zu einem früheren Zustand aus. Der Faschismus war insofern „revolutionär“, als er auf eine weitgehende (auch gewaltsame) Neuordnung der Gesellschaft abzielte.

„Multikultur von rechts“

Die liebste fixe Idee aller Nationalrevolutionäre ist das „Volk“, das nicht als vom Menschen geschaffene, staatlich umhegte, sondern quasi naturwüchsige Einheit gedacht wird. Der letzte Aufguss dieser Idee ist der sog. „Ethnopluralismus“.

Der Begriff entstammt dem Umfeld der Ende der 60er Jahre entstandenen „Neuen Rechten“ (1), die damit den Rassismus der „alten“ Rechten ansprechender verpacken wollte. Der Kern des Konzepts ist die Behauptung eines „Rechts auf Differenz“ zwischen den als natürliche Einheiten gedachten „Volksgemeinschaften“ (Ethnien). Werde dieses Recht durch Vermischung der einzelnen „Ethnien“ verletzt, drohe also die Einwanderung von Angehörigen einer fremden „Ethnie“ die Kultur der Alteingesessenen zu zerstören, führe das automatisch zu Rassismus. Wenn Rassisten also MigrantInnen zusammenschlagen oder töten, ist das in dieser Sichtweise nur eine natürliche Abwehrreaktion des „Volkskörpers“ gegen Überfremdung – also müsse man sich für eine säuberliche Trennung der Volksgruppen einsetzen.

Die biologistische Argumentation des herkömmlichen Rassismus´ wird durch die stärkere Betonung des Kulturellen bei der Unterscheidung „naturwüchsiger“ Volksgruppen freilich nur übertüncht. Der Hauptunterschied ist, dass nicht mehr die Überlegenheit einer bestimmten (natürlich der eigenen) „Ethnie“ oder „Rasse“ behauptet wird, sondern diese als prinzipiell gleichwertig, wenn auch grundverschieden, gelten. Der intellektuelle Kopf der „neuen Rechten“, Alain de Benoist, formuliert es so: „Der wahre Reichtum der Welt liegt vor allem in der Vielfalt ihrer Kulturen und ihrer Völker.“ (2) Die Völker seien „nämlich keine bloße Addition individueller Atome, sondern Wesenheiten mit eigener Persönlichkeit (...)“. (3) Es ließe sich fragen, ob es ohne diesen Zwang zur Unter- und Einordnung in homogene „Volksgemeinschaften“ nicht noch weit mehr Vielfalt gäbe.

Ohnehin sind diese „naturwüchsigen“ Gemeinschaften reine Fiktion. Denn nicht die Völker schaffen sich ihren Nationalstaat, sondern die Nationalstaaten (bzw. die gesellschaftlichen Eliten) produzieren „ihre“ Völker. „Volkszugehörigkeit“ ist nur die Folge willkürlicher staatlicher Einsortierung von Menschen. (4) Zuerst ist der Staat da, der ein bestimmtes Gebiet kontrolliert, die gemeinsame „Kultur“ der in diesem Gebiet lebenden Menschen ist nur eine Folge davon. Die Entstehung einer gemeinsamen Landessprache z.B. wäre ohne die staatlichen Institutionen von Armee und Schulwesen oft kaum denkbar gewesen. So wurde die italienische Sprache zum Zeitpunkt der Entstehung des italienischen Nationalstaats (1860) nur von einer verschwindend kleinen Minderheit im Alltag benutzt – ganze 2,5% der Bevölkerung. (5)

Während die Sprache zumindest noch praktische Bedeutung hat, sind „rassische“ Merkmale, die als vermeintlich „objektiv“, weil „natürlich“ gelten, komplett willkürlich gewählt. Denn warum soll gerade eine andere Hautfarbe oder die Form der Nase der wesentliche Unterschied sein? Wenn es um biologische Merkmale geht, könnte man Menschen mindestens genauso gut nach ihrer Blutgruppe oder ihrer Schuhgröße sortieren.

Die organische Nation

Die „ethnopluralistische“ Idee ist keineswegs neu, sondern nur eine Neuauflage des völkischen Nationalismus´. Dieser entstand nicht ohne Grund zur gleichen Zeit wie der moderne bürgerliche Nationalstaat, Anfang des 19. Jahrhunderts. Die bürgerliche Klasse hatte sich damals dank ihrer ökonomischen Macht zu einem wichtigen Faktor im gesellschaftlichen Gefüge entwickelt. Dem gegenüber verlor der Adel, dessen Machtbasis Agrarwirtschaft und Leibeigenschaft waren, an Bedeutung. Die politischen Verhältnisse entsprachen der neuen Realität aber nicht. Die Leibeigenschaft, die die Bauern an die adeligen Großgrundbesitzer band, widersprach z.B. dem Bedürfnis des Bürgertums nach Arbeitskräften, die absolutistische Monarchie dem Bedürfnis nach Mitbestimmung. Theoretisch schlug sich dieser Konflikt in der Philosophie der Aufklärung nieder. Die Legitimation der Feudalherrschaft – die Idee des Gottesgnadentums – wurde angezweifelt, der Religion Rationalismus und Naturwissenschaft entgegengestellt. Die Monarchie sollte durch ein „vernünftiges“ Staatsmodell ersetzt werden, die königliche Willkür durch eine Verfassung und eine parlamentarische „Volksvertretung“ beschränkt oder gleich ganz dadurch ersetzt werden. Der Staat wurde als großes, nach rationalen Maßstäben konstruiertes Uhrwerk gedacht.

Diese Ideen wurden vom deutschen Bürgertum nur zum Teil übernommen. Das Erklärungsmodell, dass man zur Begründung des Strebens nach einem eigenen Nationalstaat wählte, unterschied sich deutlich von dem der englischen und französischen Aufklärung. Statt als von Menschenhand konstruierte Maschine wurde der Staat als natürlicher Organismus betrachtet, als institutioneller Körper der ewigen „Volksseele“. Zwei Gründe gab es dafür: Einerseits war der Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft zwischen 1806 und 1813 der Startpunkt der Entstehung der deutschen Nationalbewegung. Ein Rückgriff auf die Ideen der französischen Aufklärung war darum nur schwer möglich. Zudem war das Gebiet des künftigen deutschen Nationalstaats in viele Fürstentümer zersplittert – im Gegensatz z.B. zu Frankreich mußte ein einheitliches Staatsgebiet erst hergestellt werden. Um diese erstrebte Einheit zu begründen, berief man sich auf ein ewiges, unwandelbares Wesen der Deutschen.

Während die Burschenschaften, die aus den im Kampf gegen die Franzosen gebildeten Freikorps entstanden waren, eher die aktivistische Seite des Strebens nach nationaler Einheit repräsentierten, wandten sich die Romantiker auf der Suche nach dem „deutschen Wesen“ der Vergangenheit zu – die Märchensammlungen der Brüder Grimm gehören z.B. in diesen Kontext. Die „deutsche Volksseele“ wurde so freilich nicht gefunden, sondern eher erfunden.

Die völkische Idee wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts von vielen Nationalisten übernommen und ist bis heute nicht ausgestorben. In Deutschland prägt sie z.B. immer noch die Einwanderungspolitik – während sich z.B. in Frankreich die Staatsbürgerschaft am Geburtsrecht orientiert (wer in Frankreich geboren ist, gilt als Franzose), gilt in Deutschland noch immer das Abstammungsrecht: „Deutsch ist nur, wer deutsche Eltern hat.“ Darauf können sich Nazis und CDU-Politiker wie Wolfgang Schäuble problemlos einigen – die Zugehörigkeit zum deutschen Staatsvolk leitet sich aus einer mysteriösen Qualität des „deutschen Blutes“ ab.

Aus der weiten Verbreitung völkischer Ideen erklärt sich auch, warum auch manche Linke Probleme haben, der ethnopluralistischen „Multikultur von rechts“ inhaltlich etwas entgegenzusetzen oder sogar Positionen vertreten, die dieser auf´s Haar gleichen. Die bloße Forderung nach Toleranz „Fremden“ gegenüber greift zu kurz, wenn diese dabei in ihrem „Fremdsein“ festgeschrieben werden, also z.B. MigrantInnen unveränderlich nur als Repäsentanten ihres jeweiligen „Kulturkreises“ gesehen werden. Ein wirksamer Antirassismus kann nicht ohne die Kritik am Nationalstaat auskommen. Die nationalstaatliche Logik ist immer strukturell rassistisch (unabhängig davon, wie sie begründet wird), da sie stets zwischen „uns“ und dem Rest der Welt trennt.

Der nationale Sozialismus

Der Fiktion der „Volksgemeinschaft“ stand in der bürgerlichen Gesellschaft freilich stets die Realität des Klassenkampfs entgegen. Dies sahen auch viele Nationalisten, die sich der Notwendigkeit bewusst waren, auch die Arbeiterklasse in ihre Pläne einzubeziehen. Andererseits war auch ein Großteil der sozialistischen und kommunistischen Theoretiker und Funktionäre fest in nationalistischen Denkweisen verfangen. Aus der Verbindung beider Seiten entstand das Konzept des „nationalen Sozialismus“. Der I. Weltkrieg markierte dabei den entscheidenden Punkt. Die wichtigste Neuerung des Krieges war, dass sich nicht mehr nur Armeen gegenüberstanden, sondern das Ausmaß des Konfliktes eine weitgehende Mobilisierung der Gesamtbevölkerung nötig machte. Die Notwendigkeiten der Kriegsführung zwangen die beteiligten Regierungen auch zu einer verstärkten Kontrolle der Wirtschaft, um die ökonomischen Ressourcen bestmöglich nutzen zu können. Das war vor allem eine pragmatische Antwort auf die Sachzwänge des modernen Krieges mit seinen riesigen Materialschlachten und den damit verbundenen logistischen Anforderungen. Doch sahen das nicht alle so - die deutschen Sozialdemokraten z.B. betrachteten diesen „Kriegssozialismus“ als Vorzeichen einer künftigen Überwindung des „anarchischen“ Konkurrenzkapitalismus. Hatten sie noch 1914 nur widerwillig den Kriegskrediten zugestimmt, so fanden sie sich bald nicht nur mit dem Krieg ab. Manche von ihnen überhöhten den Konflikt gar zum „Weltrevolutionskrieg“, bei dem Deutschland die Seite des Fortschritts, die Entente (6) mit Großbritannien an der Spitze die „Weltreaktion“ verkörperte.

Der preußische Obrigkeitsstaat erschien in den Augen dieser Sozialdemokraten nicht mehr nur als Relikt der Vergangenheit, sondern als Vorform einer höheren Stufe der Organisation der Produktivkräfte, d.h. des Fortschritts der Geschichte auf ihr vorbestimmtes Ziel zu. Diese Einschätzung wurzelte in einem seit den Tagen des Gründervater Ferdinand Lassalles (7) in der SPD vorherrschenden Staatsfetischismus „Sozialismus“ wurde gleichgesetzt mit staatlicher Organisation der Wirtschaft und der Gesamtgesellschaft. Der Krieg ebnete diesem Fortschritt den Weg. Er erzwang nicht nur eine verstärkte staatliche Kontrolle der Wirtschaft (freilich unter Bewahrung des Privateigentums an den Produktionsmitteln), er machte auch eine zeitweilige Befriedung der Klassenkonflikte und die stärkere Einbindung der Arbeiterschaft in die „Volksgemeinschaft“ mittels sozialstaatlicher Maßnahmen nötig – und lieferte so das Modell für den „nationalen Sozialismus“.

Nach dem I. Weltkrieg war diese Idee weit verbreitet und wurde mit gewissen Variationen von Vertretern fast des gesamten politischen Spektrums geteilt. Walther Rathenau (der gemeinhin als Liberaler galt) wäre hier ebenso zu nennen wie etwa die „Nationalbolschewisten“ innerhalb KAPD (8). In der Rechten nahm die NSDAP die Idee in ihr Programm, den Begriff in ihren Namen auf.

Von einer ganz anderen Seite näherten sich auch die italienischen Syndikalisten einer ähnlichen Position. Während die deutsche Sozialdemokraten auf Reformen und den gesetzmäßigen Gang der Geschichte setzten, war für sie nur der Wille zum Umsturz entscheidend. Prägend waren dabei vor allem die Ideen George Sorels (1847-1922).

Sorel hatte es als Theoretiker (vor allem mit der Schrift Über die Gewalt (9)) zu einigem Einfluss in der französischen Abeiterbewegung gebracht. Anfangs dem orthodoxen Marxismus verpflichtet, unterzog er diesen bald einer weitgehenden Neuinterpretation, die außer der Idee des Klassenkampfs kaum etwas übrigließ. Dabei ging es Sorel nicht um eine Überwindung des Kapitalismus. Was er kritisierte, war die „Dekadenz“ der bürgerlichen Gesellschaft, Rationalismus und Demokratie. Das Proletariat sollte gegen das Bürgertum in Stellung gebracht werden und so die moralische Erneuerung, die Rückkehr des „Heroischen“ einläuten. Das Mittel, um die Arbeiter zu mobilisieren, sollte dabei nicht die Vernunft, sondern der „Mythos“ sein. Diesen Mythos, der die Kampfbereitschaft des Proletariats entfachen sollte, glaubte Sorel im Generalstreik gefunden zu haben.

Die Hoffnungen, die er in das Proletariat setzte, erfüllten sich freilich nicht. Enttäuscht wandten Sorel und seine Anhänger sich 1912 der nationalistischen Action Francaise zu. Ein Teil der italienischen Syndikalisten bwegte sich derweil in eine ähnliche Richtung. Nachdem die verschiedenen Anläufe zum Umsturz mißlungen waren, kamen diese Syndikalisten zu dem Schluss, dass Proletariat sei nicht der geeignete Träger einer Revolution und ersetzten es durch die Nation.

Diese Haltung ging nahtlos in den Faschismus über. Am 1. Oktober 1914 wurde in Mailand der Fascio rivoluzionario d´azione internazionalista (Revolutionäres Bündnis internationaler Aktion) gegründet. Im Gründungsmanifest hieß es: „Wir (...) sind überzeugt, dass es unmöglich ist, nationale Revolutionen ins Ausland zu tragen, ohne zuvor das Stadium der eigenen nationalen Revolution durchlaufen zu haben. (...) Wo ein Volk nicht im Rahmen seiner natürlichen Grenzen lebt, die durch Sprache und Rasse gezogen werden, wo die nationale Frage nicht gelöst ist, kann es das zur normalen Entwicklung der Klassenbewegung notwendige Klima nicht geben.“ (10) Vor der „sozialen“ galt es also die „nationale Frage“ zu lösen – dazu musste nach Ansicht der Nationalsyndikalisten der Krieg gewonnen und so Italien ein angemessener Platz unter den europäischen Nationen gesichert werden.

Benito Mussolini, der bis dahin in der Sozialistischen Partei Italiens (SPI) Karriere gemacht hatte, schloß sich bald dem Bündnis an und übernahm schließlich die Führung. Die Revolution, die Mussolini nun forderte, war nationalistisch, antiliberal und antimarxistisch. 1917 schrieb er: „Aber das Vaterland darf nicht verleugnet werden (...), besonders wenn es in einen Überlebenskampf verwickelt ist. Wer Vaterland sagt, sagt Disziplin; wer Disziplin sagt, anerkennt eine Hierarchie der Autorität, der Funktionen, der Intelligenzen. Und wo diese Disziplin nicht freiwillig akzeptiert wird, (...) muss sie aufgezwungen werden (...).“

Und an anderer Stelle: „Die Wörter Republik, Demokratie, Radikalismus, Liberalismus haben genausowenig Sinn wie das Wort Sozialismus. Morgen wird es einen haben, aber das wird jener sein, den ihm die Millionen Frontheimkehrer geben. Dieser Sinn kann ein ganz anderer sein, zum Beispiel ein antimarxistischer, nationaler Sozialismus. Die Millionen Arbeiter, die zu den Furchen der Äcker zurückkehren, nachdem sie in den Furchen der Schützengräben gelebt haben, werden die Synthese der Antithese Klasse und Nation bewerkstelligen.“ (11)

Der unverstandene Kapitalismus

Der Kapitalismus war für die Nationalsyndikalisten ein rein moralisch-psychologisches Problem. Der materielle Kern der kapitalistischen Produktionsweise, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die darauf basierende Wertschöpfung durch Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, wurde so verkannt. Diese Wendung hin zur Psychologie lässt sich z.B. bei Arturo Labriola (12) erkennen, wenn er schreibt: „Das Organisationsprinzip des Kapitalismus lässt ihn [den Kapitalisten] als Chef erscheinen (...). Dies ist der Hauptgrund, der die Arbeiter gegen die Kapitalisten aufbringt.“ (13)

Der Teufel steckt hier im Detail: Das Problem ist für Labriola nicht, dass der Fabrikbesitzer wirklich der Chef ist, der über die Arbeitskraft der Proletarier verfügt und diese gewinnbringend nutzen will –das Problem ist nur, dass der Kapitalist den Arbeitern als Chef erscheint.

Aus solcher Kapitalismuskritik folgt logisch ein Verständnis von Sozialismus, dass es gar nicht mehr für nötig hält, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und die Lohnarbeit anzutasten. Nur die geistige Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen musste geschlossen werden. Die Trennlinie zwischen Proletariat und Bourgeoisie wurde durch die zwischen „Produktiven“ und „Parasiten“ ersetzt. So forderten die italienischen Faschisten am Ende des I. Weltkrieges eine „partielle Enteignung“ des „parasitären“ Finanzkapitals. Die „produktiven“ Teile der Gesellschaft (was Fabrikbesitzer, Geschäftsleute usw. einschloss) sollten in nach Wirtschaftszweigen getrennten Korporativen zusammengefasst werden, die in Zusammenarbeit mit dem Staat das organische Ganze der Nation bilden sollten – ein Programm, das nach der Machtübernahme auch umgesetzt wurde.

In der Ideologie der NSDAP verband sich die Unterscheidung von „schaffendem“ und „raffendem“ Kapital mit der antisemitischen Rassenlehre, die das mittelalterliche Stereotyp vom wuchernden „Geldjuden“ aufgriff. Die abstrakte Qualität kapitalistischer Herrschaft – die nicht mehr an Personen gebunden ist, sondern an den Besitz – wurde so völlig verkannt, der unsichtbare Zwang des Marktes im „Juden“ personifiziert. Im Rückgriff auf antisemitische Verschwörungstheorien, wie sie u.a. in den „Protokollen der Weisen von Zion“ (14) formuliert worden waren, halluzinierte man sich diesen als teuflische Macht hinter den Kulissen. Der „Jude“ war zum einen Inbegriff des raffgierigen Spekulanten, er trat aber auch in Gestalt des Bolschewismus auf. Zudem bedrohte er die „arische Art“, indem er als parasitäres Anhängsel des „Volkskörpers“ dessen „rassische Reinheit“ untergrub. Die Folgen dieser paranoiden Ideen sind bekannt – sie führten zur Ermordung unzähliger Menschen in den KZs. (15)

Selbst ohne gleich die Antisemitismus-Keule auszupacken, kann man feststellen, dass auch bei vielen linken „Kapitalismuskritikern“ dieser Mechanismus der Personifizierung wirkt. Dass der Kapitalismus als System, als besondere Form der Organisation, das Problem ist und nicht das moralische Ungenügen einiger Unternehmer, geht vielen nicht in den Kopf. Kapitalist ist man nicht dadurch, dass man besonders gierig ist, sondern dadurch, dass man Kapital besitzt und so Produktionsmittel und Arbeitskräfte kaufen kann – und auch dann ist man den Zwängen des Marktes unterworfen.

Auch der Arbeitsfetisch, der die „produktive“ Seite der kapitalistischen Wirtschaft von jeder Kritik ausnimmt, ist in der heutigen Linken weit verbreitet, sei es bei Attac, der Linken oder der SPD, die, wenn sie überhaupt Kritik am Kapitalismus üben, meist nur das Finanzkapital meinen. Erinnert sei hier an die „Heuschrecken“-Rede von Franz Müntefering, in der er sagte: „Manche Finanzinvestoren verschwenden keinen Gedanken an die Menschen, deren Arbeitsplätze sie vernichten. (...) Sie bleiben anonym, haben kein Gesicht, fallen wie Heuschreckenschwärme über Unternehmen her, grasen sie ab und ziehen weiter.“ Indem das Problem einer bestimmten Personengruppe (Juden, Amerikaner, Spekulanten) zugeschrieben wird, wird die eigene Mitverantwortung verdrängt. Für Müntefering dürfte daraus nur business as usual folgen – noch schlimmer ist es, wenn man meint, zur Lösung des Problems diese Leute ausrotten zu müssen. Emanzipation kann auf dieser Grundlage nicht funktionieren.

Fazit

Diese ideologischen Überschneidungen zwischen „links“ und „rechts“ bedeuten freilich nicht, dass beide letztlich dasselbe seien, wie gängige Extremismustheorien behaupten. Diese Gemeinsamkeiten kommen nur dadurch zustande, dass die Linke den gesellschaftlichen Normalzustand von Kapitalismus, Lohnarbeit, Nationalstaat usw. als naturgegeben akzeptiert, wie es die Nazis ohnehin die ganze Zeit tun. Der Kern des Problems liegt in der „polititischen Mitte“, in dem Bestreben, die bürgerliche Herrschaft in all ihren Erscheinungsformen als natürliche Ordnung der Dinge zu legitimieren.

Was es bräuchte, wäre also eine Radikalisierung linker Kritik. Volk, Nation, Kapitalismus usw. sind nichts Ewiges, sondern von Menschen geschaffen, lassen sich also auch verändern und gegebenenfalls abschaffen. Die Forderung nach einer Gesellschaftsordnung, die es allen Menschen ermöglicht, ihr Leben gemäß ihren Bedürfnissen zu organisieren, ist bis heute nicht erfüllt. Genau das wäre ein Ziel für eine Revolution, die diesen Namen wirklich verdient – eine Umwälzung, die die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft ebenso wie die nationalstaatliche Einsortierung von Menschen beendet.

justus

Fußnoten:
(1) Deren wichtigstes Publikationsorgan in Deutschland die Zeitschrift Junge Freiheit ist
(2) Zitat aus de Benoist, „Aufstand der Kulturen“, 1999, S. 36
(3) Ebenda, S. 41
(4) Siehe auch FA! 24, „Ihre Papiere bitte!“
(5) Angabe nach Eric J. Hobsbawm, „Nationen und Nationalismus“, 1991, S. 75
(6) Das gegnerische Bündnis von Frankreich, England, Italien, Rußland und später den USA
(7) Ferdinand Lasalle war 1863 Mitbegründer des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), aus dem 1869 die Sozialdemokratische Abeiterpartei Deutschlands hervorging, deren Führung Lasalle übernahm. Zu Lasalles Staatsbegriff siehe Willy Huhn, „Der Etatismus der Sozialdemokratie“, 2003.
(8) Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands, eine rätekommunistisch orientierte Abspaltung der KPD
(9) Erschienen erstmals 1906
(10) Zitat nach Zeev Sternhell, „Die Entstehung der faschistischen Ideologie“, 1999, S. 259
(11) Ebenda, S. 277
(12) Italienischer Sozialist, 1843-1904, gründete 1902 die Zeitschrift Avanguardia Socialista,an der ab 1903 auch Mussolini mitarbeitete.
(13) Zitat nach Sternhell, 1999, S. 133
(14) Eine Ende des 19. Jahrhunderts vom russischen Geheimdienst fabrizierte Fälschung
(15) Rassistische Ideen spielten aber in allen faschistischen Bewegungen eine wichtige Rolle. So errichteten die italienischen Faschisten z.B. Internierungslager für „Zigeuner“.

Aus: Feierabend Nr. 28 (2008)

Originaltext: http://www.feierabendle.net/index.php?id=241