Das wird aber auch Zeit!

In den letzten Jahren habe ich eine reichliche Menge Vorträge gehalten, meistens vor jungen Leuten, und es ging um Syndikalismus, Klassen und Klassenunterdrückung. Das war schön. Und anstrengend. Aber meistens schön und spannend.

Aber leider muss ich feststellen, dass in diesem Lande eine enorme Verwirrung herrscht. Dass die Klassengesellschaft etwas ist, das irgendwann in den 40er Jahren verschwunden ist. Dass wir heute alle Mittelklasse sind. Und so weiter....

Es gibt viele, meist ältere Leute, die mir von oben herab erklären: "Ach meine Kleine, du weißt doch nicht einmal, was die Arbeiterklasse ist... es gibt keine... keine richtigen Arbeiter mehr..." Als ich neulich einen Mann fragte, was seiner Meinung nach ein Arbeiter ist, sprach er nostalgisch von alten Männern mit faltigen Gesichtern, Blaumann, großen Händen und Butterbrotdosen, so wie er sie als Kind gesehen hatte.

Ich kratzte mich am Kopf und überlegte hin und her. Ich dachte an meinen Freund, den U-Bahn-Fahrer, an einen anderen, der Altenpfleger ist, an eine, die den größten Teil ihres Lebens mit der harten Arbeit der Kinderaufzucht beschäftigt war, der wichtigsten Arbeit der Welt! An Sophie, die unser Treppenhaus putzt. An alle meine arbeitslosen Freunde, die seit Jahreswechsel gezwungen sind, Zwangsarbeit zu verrichten, um weiterhin Stütze zu bekommen. An die Frau, die in der Bäckerei steht und Teig knetet, was ich früher auch einmal tat. Und an jenen lieben Freund, der alle Tage (und Nächte!) am schrauben ist. Und viele, viele andere...

Schluss mit den Stereotypen! Die schaden nur. Aber macht verdammt noch mal weiter damit, die Strukturen zu betrachten! Sonst ist das Ding gelaufen. Sicher, eine Menge Sachen haben sich verändert, vieles ist ins Ausland verlagert worden und die Industrie wurde rationalisiert. Aber andererseits: Nichts würde geschehen, alles würde stillstehen, wenn wir uns nicht jeden Morgen aus dem Bett bequemten!

Ist es vielleicht so, dass diejenigen, die mit derartigen Äußerungen ankommen, sich damit schwer tun zu begreifen, wie wenig sich für die Allgemeinheit verändert hat, weil sie selbst vorangekommen sind? Liebe und Respekt allen, die mit 17 noch nicht angefangen haben, sich selbst zu verleugnen. Allen, die ihre Augen und Ohren gebrauchen und einen Dreck auf Mythen und bürgerliche Propaganda geben.

Hin und wieder meinen Leute, dass ich die Arbeiterklasse glorifiziere. Ich habe dann einen Anflug von schlechtem Gewissen und fange an, mich zu entschuldigen: Ja sicher, es gibt eine Menge schlimmer Sachen, Glorifizierung von Leid und Schmerz, wer sich am meisten ausgebeutet wird, ist der Größte undsoweiter (Ja nun, das ist doch gar nicht so merkwürdig, habe ich dabei gleichzeitig im Hinterkopf.).

Aber ein Gespräch mit Dan, einem fantastischen smarten Mann aus den USA, der sich die letzten zehn Jahre im Klassenkampf engagierte, brachte mich zum Umdenken. Wir sind die Mehrheit der Bevölkerung, ohne uns und die vor uns wäre überhaupt nichts passiert. Ich glaube es ist höchste Zeit, dass wir damit beginnen, einander aufzuwerten und zu schätzen, in jeder Situation.

Küsschen für alle, die im Dunkel des Winters weiterkämpfen. Ich bin so stolz auf uns! Oder wie Dan sagte: "Glorifizierung der Arbeiterklasse! Das wird ja auch höchste Zeit!"

Liv Marend

Originaltext: http://www.libertaeres-zentrum.de/fau/zeit.htm