Ludwig Unruh - Widerstand gegen die Arbeit (ein kleiner Rückblick)

Trotz der geschilderten Entwicklungen konnte eine vollständige Akzeptanz des Arbeitsprinzips nie erreicht werden. Der gleichzeitig mit der Industrialisierung einsetzende aktive Widerstand gegen den Entzug der Lebensgrundlagen und die Zumutungen der Fabrikarbeit war zunächst noch aus den Traditionen der „moralischen Ökonomie“ gespeist. Besonders die in die Fabriken gezwungenen ehemaligen Handwerker entwickelten einen lebhaften Widerstand, dessen Motivation vor allem durch ihren Verlust an Status und Unabhängigkeit sowie die Erinnerung an ihr „goldenes Zeitalter“ geprägt war. So war beispielsweise die Ludditenbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England, die als eine der Keimzellen der Arbeiterbewegung gilt, vor allem eine Bewegung von ehemaligen und Noch-Handwerkern. Deren Widerstand richtete sich nicht, wie immer wieder behauptet, gegen die Maschinen an sich, sondern in erster Linie gegen den mit der Einführung der Maschinen verbundenen Verlust an Arbeits- und Produktqualität ebenso wie gegen die Verdrängung der Erwerbsmöglichkeiten der Handweber. Dem Übergang von der Manufaktur- zur höher arbeitsteiligen Fabrikarbeit wurde lange Zeit erfolgreich Widerstand entgegengesetzt. Gerade die vielfach hochqualifizierten Handwerker-Arbeiter wehrten sich hartnäckig gegen die Dequalifizierung ihrer Arbeit. Auf Grund ihres umfangreichen Wissens um den Produktionsprozeß insgesamt waren sie in der Lage, die Rationalisierungsbestrebungen der Unternehmer effektiv zu sabotieren. In Deutschland gelang es erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts mittels einer umfassenden Mechanisierung der Produktion, dieser Widerspenstigkeit mit Erfolg zu begegnen. Infolgedessen wurden die bisher die Produktion dominierenden Handwerker-Arbeiter zunehmend durch un- und angelernte Arbeiter und Arbeiterinnen verdrängt. Letztere (die sogenannten Massenarbeiter und -arbeiterinnen) bildeten dann meist auch die Basis für den radikalen Widerstand gegen die entstehende Fabrikgesellschaft.

In Berlin entwickelten Arbeitslose (die legendär gewordenen Rehberger), die um 1848 vom Magistrat zu Erdarbeiten herangezogen wurden, damit sie sich von den Straßenunruhen fernhielten, ein ausgeklügeltes System der Arbeitsverweigerung. Darin war sogar „die Zahl der Karren bestimmt, die bei schwerer Strafe niemand, aus allzu großem Fleiß, überschreiten durfte“. Eine vom Magistrat aufgestellte Tafel mit Ermahnungen zu mehr Fleiß wurde noch am selben Abend unter großem Pomp feierlich beerdigt, das Grab wurde anschließend zwei Wochen lang durch eine Schildwache „bewacht“. Als ihr zentrales Motto hatten sie sich die Parole „Müßiggang hat Gold im Mund und Morgenstund‘ ist aller Laster Anfang“ erwählt.

Ein Beispiel aus der organisierten Arbeiterbewegung ist der us-amerikanische, revolutionär-syndikalistische Gewerkschaftsverband Industrial Workers of the World (IWW) mit seiner Forderung „We want bred and roses too!“ Von diesem wird berichtet, daß unter den dort organisierten Arbeitern und Arbeiterinnen Lafargues „Recht auf Faulheit“ zum meistgelesenen Buch avancierte. Deren Widerstand richtete sich nicht allein gegen die Ausbeutung der Arbeit, sondern auch gegen das System der Arbeit selbst. Der Hamburger Sozialhistoriker Karl Heinz Roth bezeichnete die IWW als „erste und einzige Arbeiterorganisation von damals (...), die mit der ideologischen Kette, die die Arbeiterbewegung so lange an die Mehrwertdynamik gefesselt hat – (...) der Arbeitsmoral“ gebrochen hatte. Erst nach deren Niederlage in den Kämpfen Anfang der 1920er Jahre konnte auch in den USA das „sozialistische Arbeitsethos des Bolschewismus“ in der Arbeiterklasse – bis in die Reihen der IWW – Einzug halten.

Besonders umkämpft war die beginnende umfassende Taylorisierung der industriellen Fertigung, die einen weiteren Entfremdungsschub zur Folge hatte. In Deutschland wandelte sich die zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehäuft auftretende Vagabundage vor allem der Arbeiterjugend in vielfältige aktive Widerstandsformen innerhalb der neuen Großbetriebe – bis hin zu Massenstreiks am Vorabend des ersten Weltkrieges, auf die das Kapital mit ebenso massenhaften Aussperrungen und Entlassungen reagierte. Bei Neueinstellungen wurden dann oft Frauen und Kinder bevorzugt eingestellt, da man von denen keine Rebellion erwartete. In Rußland setzte sich der bereits vor dem ersten Weltkrieg aufkommende Widerstand gegen das Taylor-System auch nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki fort. Der Leiter des sowjetrussischen Zentralinstituts für Arbeit beklagt zu Beginn der 1920er Jahre, daß nicht – wie oft behauptet – die Bourgeoisie die Industrialisierung sabotieren würde, sondern man es vor allem mit „proletarischer Sabotage (...) und einem gewaltigen Widerstand seitens der Arbeitermasse“ gegen die Einführung der Arbeitsnormierung zu tun habe. Diese entwickelte eine breite Palette von Widerstandsformen – von der Verspottung Taylors in Prosa und Versen bis hin zur Ermordung von Stachanow-Aktivisten in der Sowjetunion.

Jedoch ließ sich der Taylorisierungsprozeß überall nur verlangsamen, verhindert werden konnte er letztendlich nicht. Die Folge war die „Enthirnung und Atomisierung“ (Roth) der Arbeiterklasse, „deren Ideologie die herrschende Ideologie ist“. Ausnahmen gab es vor allem an den „Rändern“ der Gesellschaft. So propagierte beispielsweise die Vagabundenbewegung in der Weimarer Republik den „Generalstreik ein Leben lang“. Selbst in der Nazizeit wurde von unorganisierten Arbeiterinnen und Arbeitern kollektiver Widerstand entwickelt, der sich in „einem Lohndruck, einer Lebensgier und gleichzeitig einem Haß auf die Arbeit, der in dieser Intensität und in seinen Artikulationsformen völlig neu ist“, äußert. In den 50er Jahren stellten die Situationisten, eine Gruppe von Intellektuellen in Frankreich, die Forderung „Ne travaillez jamais!“ (Arbeitet nie!) auf. Deren Ideen wurden dann auch – vorrangig unter Studentinnen und Studenten - bei den Revolten Ende der 60er Jahre aufgegriffen. Gleichzeitig begann aber auch die erste größere Revolte gegen die Arbeit in den Fabriken. Die Verweigerung der Arbeit nahm vor allem in Italien Massencharakter an. Aber auch in anderen Ländern, einschließlich Westdeutschlands, zeigte sich zunehmender Widerstand gegen die extrem entfremdete Arbeit. „...dem Massenarbeiter (ist) durch die Organisation der Produktion jede Möglichkeit der Identifikation mit dem Produkt, und deshalb mit dem Arbeitsprozeß selbst genommen (...). In den ständig wiederkehrenden Handgriffen ist weder Selbstverwirklichung noch Naturaneignung erfahrbar – die geisttötende Monotonie und ständige Hetze, die im Fließprozeß sehr viel einfacher als beim Facharbeiter durchzusetzen ist, macht die Arbeit endgültig zur Qual, die zur „Sicherung des Lebensunterhalts“ ausgehalten werden muß“, analysierte Anfang der 1970er Jahre die Proletarische Front, der deutsche Ableger der italienischen Operaisten. Wiederentdeckte Widerstandsformen wie Absentismus, Sabotage an den Bändern, Bummelstreik griffen um sich, in Italien kam es gar zu bewaffnetem Widerstand in den Fabriken. Wohl erstmals in der Geschichte der Arbeiterbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging es nicht mehr um die bloße „Befreiung der Arbeit“, sondern „Gegen die Arbeit“ an sich, eine Losung, der von den Operaisten „systemsprengender Charakter“ zugeschrieben wurde. Sie suchten vor allem nach den Traditionen des Kampfes gegen die Arbeit in der Geschichte der Arbeiterbewegung und stießen damit auf schroffe Ablehnung bei den Epigonen der orthodox-marxistischen Parteien und Gewerkschaften. „Noch immer ist das marxistische Denken von der Arbeitsideologie geprägt: die Arbeit wird als Naturkonstante jeder Gesellschaftsformation verstanden, und im Kommunismus soll aus dieser Not eine gerecht verteilte Tugend werden. (...) Dieser Glaube ist eine der mächtigsten Zwecklügen dieses Jahrhunderts, (...) sie sehen nicht, daß die Arbeit per se Gewalt, Elend, Knechtung ist, daß sie der Herausbildung menschlicher Sozialität im Wege steht...“ , lautet dann auch das Resümee der Operaisten zur Situation der etablierten marxistischen Linken.

Mit der Entwicklung der strukturellen Massenarbeitslosigkeit wurde aber auch dem Widerstand gegen die Arbeit ein Stück weit der Boden unter den Füßen weggezogen. Aber gerade bei den Arbeitslosen entwickeln sich in jüngster Zeit neue Ansätze, die die Erwerbslosenbewegung von ihrer Forderung nach „Arbeit für alle“ lösen wollen. Bei den Arbeitslosenprotesten in Frankreich 1997 wurde eben auch diese Forderung kritisiert. „Nur Kämpfe, die eine radikale Kritik der Arbeitsideologie in sich tragen, können mit dieser archaischen Sichtweise brechen“, heißt es beispielsweise in einem Flugblatt des „Kollektivs der hundert Stimmen“, eines spontanen Zusammenschlusses von Protestierenden. Auch in Deutschland thematisieren Arbeitsloseninitiativen abseits der Gewerkschaften die scheinbar alles beherrschende Arbeitsideologie. Bekannt wurden hierzulande die „Glücklichen Arbeitslosen“, die mit ihrer Kritik der Arbeitsgesellschaft in Form eines satirischen Manifestes gerade in einer Zeit neuer Rekorde in der Statistik der Arbeitslosigkeit an die Öffentlichkeit traten.

Insgesamt betrachtet ist festzustellen, daß die Kämpfe abseits der etablierten Organisationen der Arbeiterbewegung i.d.R. nicht nur radikaler in ihrer Form, sondern auch in ihrer Zielsetzung waren. Oft begnügte man sich nicht damit, den „vollen Ertrag“ der Arbeit einzufordern, sondern stellte das System der Arbeit, die Fabrikgesellschaft, insgesamt zur Disposition. Der nicht-organisierte oder revolutionär-syndikalistische Flügel der Arbeiterbewegung teilte nicht (bzw. nicht im vollen Umfang) die fortschrittsgläubige Geschichtsauffassung des Marxismus, was auch zu einer wesentlich kritischeren Einstellung zu den „Segnungen“ der Entwicklung der Produktivkräfte im Kapitalismus führte. Bereits in den 20er Jahren wurden von FAUD, der deutschen Sektion der anarchosyndikalistischen Internationale (IAA), der 6-Stunden-Tag und das Kropotkinsche Recht auf Wohlstand anstelle des Rechtes auf Arbeit propagiert. Die weniger euphorische Arbeitsauffassung äußerte sich dann auch in den Kampfformen, wie z.B. der Sabotage, die bei den sozialdemokratischen oder kommunistischen Kollegen auf Grund ihrer von der bürgerlichen Arbeitsideologie geprägten Einstellungen zumeist auf strikte Ablehnung stießen.

Letztere entwickelten sich immer mehr zu systemstabilisierenden Kräften, die die aus dem üblichen Rahmen der Lohnkämpfe ausbrechenden Kämpfe stets wieder in ungefährliche Bahnen zu bewegen versuchten. Kein Wunder, daß in der Geschichtsschreibung dieser Organisationen der Widerstand der oft als „Lumpenproletariat“ oder kleinbürgerlich diffamierten Schichten der Arbeiterklasse nahezu vollständig verschwiegen oder als Überreste „archaischer Sozialbewegungen“ (Hobsbawm) abgehandelt wurde.

Originaltext:
Der Text stammt aus der sehr lesenswerten Broschüre "Ludwig Unruh - Hauptsache Arbeit?" (Syndikat A). Aus der PDF-Version entnommen und bearbeitet von Anarchismus.at. Der Originaltext enthält Fußnoten.