Die frisch erschienene Ausgabe der Lateinamerika-Nachrichten hat als Schwerpunkt das Thema “Anarchismus in Lateinamerika”. Er hat einen Umfang von 42 Seiten (das gesamte Heft 64 Seiten) und kann zum Preis von 5,00 Euro bei der ila (Heerstraße 205, 53111 Bonn, Tel. 0228-658613, Fax 0228-631226, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!, Internet: www.ila-web.de) bestellt werden.

Editorial ila 354, April 2012

Nun sind sie also gefallen, die großen Entscheidungen, die die deutsche Öffentlichkeit in den letzten Monaten so intensiv bewegt haben: Ein neuer Moderator für die Fernsehshow „Wetten dass?“ wurde gefunden und – ähnlich bedeutsam – ein neuer Bundespräsident. So heftig aber in Talkshows, Interviews und Internetforen auch über diese weltbewegenden Personalfragen diskutiert wurde, so richtig erklären, wofür solche Ämter eigentlich gut sind, konnte keineR der aufgeregten DiskutantInnen. Womit wir beim Schwerpunktthema dieser ila wären: Zahlreiche Menschen teilen die Überzeugung, die Existenz von Nationalstaaten und politischer Herrschaft sowie die Kontrolle weniger über die gesellschaftlichen Reichtümer seien dafür verantwortlich, dass sehr viele Menschen schlecht oder sehr schlecht leben müssen. Um zu einem guten Leben für alle zu kommen, müsse man nicht nur den Kapitalismus, sondern auch die Staaten und ihre Herrschaftsstrukturen abschaffen. Leute, die das so sehen, bezeichnen sich als Libertäre, oder, wenn sie organisiert dafür kämpfen, als AnarchistInnen.

Anders als in den Ländern Mitteleuropas waren die anarchistischen GewerkschafterInnen (AnarchosyndikalistInnen) zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer Reihe von Ländern Lateinamerikas sowie in Spanien und Italien die wichtigste Strömung in der ArbeiterInnenbewegung. Ihr Selbstverständnis und ihre Aktionsformen haben die Widerstandskultur in Ländern wie Argentinien, Brasilien, Bolivien, Cuba oder Uruguay maßgeblich geprägt. Spätestens ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts ging ihr Einfluss dann rapide zurück, und nationalistische bzw. sozialistisch/kommunistische Organisationen übernahmen die Führungsrolle in der Gewerkschaftsbewegung. Offensichtlich hat sich die Einschätzung des Charakters von Staaten und darüber, ob diese ein Hindernis oder ein Instrument im Emanzipationskampf der Unterdrückten darstellen, in dieser Zeit grundsätzlich gewandelt.


Sahen die AnarchistInnen in der Zerschlagung und Abschaffung der Staaten eine Voraussetzung für die Herstellung sozialer Verhältnisse, wiesen die nationalistischen und sozialistischen Organisationen den Staaten eine zentrale Rolle in der sozialen Umgestaltung der Gesellschaften zu. In den letzten beiden Jahrzehnten erlebt libertäres Denken in Lateinamerika eine Renaissance. Das zeigt sich zum einen in der Wieder- bzw. Neugründung anarchistischer bzw. anarchosyndikalistischer Organisationen, vor allem aber in den sozialen Bewegungen. Die betonen und – das ist viel wichtiger – praktizieren vielerorts Selbstorganisation und verteidigen ihre Autonomie gegenüber staatlichen Strukturen. Bekanntestes Beispiel für diese Abkehr von staatszentrierten Emanzipationsentwürfen sind die ZapatistInnen im mexikanischen Chiapas.

In der vorliegenden Ausgabe der ila geben wir erstmalig in deutscher Sprache eine breitere Darstellung der Geschichte und Gegenwart der anarchistischen Bewegungen in Lateinamerika. Auch wenn sich viele der Artikel und Interviews auf historische Organisationen und Kämpfe beziehen, interessiert uns bei diesen ebenso wie bei den aktualitätsbezogenen Beiträgen vor allem die Frage, was die Erfahrungen der anarchistischen GenossInnen und ihre gesellschaftlichen Entwürfe für uns heute bedeuten und was wir davon für unsere politische Praxis lernen können. Schließlich haben sich die AnarchistInnen schon vor mehr als 100 Jahren von der Tradition der Erlösungsreligionen (irgendwann kommt der Messias, das Reich Gottes, der Kommunismus) verabschiedet und gehen vielmehr davon aus, dass wir Menschen uns unser solidarisches Zusammenleben selbst organisieren und die Konditionen dafür stets neu demokratisch aushandeln müssen.

Am 11. März ist unser langjähriger Mitarbeiter und Freund Ernesto Kroch im Alter von 95 Jahren in Frankfurt/ M. gestorben. Ernst war sicher kein Anarchist, er war zeitlebens ein kritischer Kommunist. Aber weil er stets sein selbstständiges Denken und seine Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse über das Nachbeten von Parteilinien gestellt hat, hatte er auch nie Probleme, mit AnarchistInnnen gut zusammenzuarbeiten – sowohl in Uruguay als auch in Deutschland. Deshalb widmen wir ihm diese Ausgabe der ila. Wir sind uns sicher, dass ihm das gefallen hätte. Er hätte in sich hineingelächelt und sich gefreut. Auf immer, Ernesto!

Inhalt zum Schwerpunkt "Anarchismus in Lateinamerika"