Junge Linke - Grundlage der Kapitalismuskritik

Grundlage jeder Gesellschaftskritik ist die Beantwortung der Frage, welches die Prinzipien der betrachteten Gesellschaft sind. Die Grundlage einer Kapitalismuskritik ist dementsprechend die Untersuchung der Funktionsweise des Kapitalismus. Diese Untersuchung entscheidet darüber, worauf Erscheinungen wie Armut, Erwerbslosigkeit, Umweltverschmutzung und “Bildungsabbau”, Erscheinungen, an denen fast jeder etwas auszusetzen hat, zurückzuführen sind: auf Charaktermängel und Fehlentscheidungen von Politikern oder auf die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft, die sich selbst dann durchsetzen, wenn ehrenwerte Staatenlenker nur “das Beste” wollen und tun.

Dieser Text heißt nicht zufällig Grundlagen der Kapitalismuskritik: Daß an dieser Gesellschaft nicht einfach irgendwas zu kritisieren ist, sondern nicht weniger als ihr ökonomisches Prinzip, ist diesem Text von Anfang an vorausgesetzt. Damit auch, daß Gesellschaft nicht durch irgendetwas bestimmt ist (nicht durch “Kultur”, nicht durch “Information” und schon gar nicht durch die Gene derjenigen, die darin leben), sondern durch die Ökonomie: Man kann deshalb mit gutem Grund von kapitalistischen Gesellschaften reden.(1) Bei diesen Voraussetzungen und Behauptungen wollen wir aber selbstverständlich nicht stehen bleiben, sondern im folgenden Argumente für sie anführen.(2)

Natur, Ökonomie und Gesellschaft

Egal, um was für eine Gesellschaftsordnung es sich handelt: Menschen sind auf einen Stoffwechsel mit der Natur angewiesen: Sie müssen das, was sie zum Leben brauchen – darin sind sie von anderen Lebewesen gar nicht unterschieden – ihrer Umwelt abtrotzen. Im Unterschied zu anderen Lebewesen ist der Stoffwechselprozeß des Menschen aber kein reiner Naturprozeß. Menschen sind in der Lage, Zwecke zu setzen und ihre Handlungen als Mittel zur Erreichung dieser Zwecke zu wissen. Sie erkennen manche Mittel als tauglich und andere als weniger tauglich. Und mit ihrem zweckgerichteten Handeln nehmen Menschen nicht nur in der Natur Gegebenes auf, um sich am Leben zu erhalten, sondern verändern Naturstoffe. Zweckgerichtete Tätigkeit, die dazu dient, Gebrauchsgegenstände, Gebrauchswerte herzustellen, ist der abstrakte Begriff der Arbeit. Und die Produktivkraft der Arbeit ist das Maß dafür, wie viele Gebrauchswerte gleicher Art pro “Arbeitsmenge” hergestellt werden: Je höher die Produktivkraft, desto höher die Gebrauchswertmenge.

Einfache Methoden zur Steigerung der Produktivkraft der Arbeit sind Kooperation und Arbeitsteilung. Wenn Viele zusammenarbeiten, dann schaffen sie mehr, als wenn sie das isoliert voneinander tun. Und wenn sie sich auf wenige verschiedene Handlungen beschränken und diese dafür perfektionieren, so steigert das die Produktivkraft im Vergleich zu einer Gemeinschaft, wo alle alles machen. Wenn aber nicht alle alles machen, sondern Arbeitsteilung herrscht, dann müssen sie ihre Produkte wechselseitig benutzen. Die Produkte werden ausgetauscht oder verteilt.

Zur Herstellung von Gebrauchswerten benötigen die Arbeitenden Produktionsmittel: einen Arbeitsgegenstand (z.B. einen Rohstoff) und (soll die Produktivkraft nicht auf dem Niveau von Fallobstsammeln stehenbleiben) Werkzeuge, mit denen sie auf den Arbeitsgegenstand einwirken können (und außerdem noch Boden auf dem das ganze stattfindet, Hilfsstoffe usw.). Werkzeuge, die eine Erhöhung der Produktivkraft ermöglichen, liegen nicht herum, sondern müssen selbst hergestellt werden. Auch dies geschieht arbeitsteilig und kooperativ. Die Produzenten sind also auf viele andere Produzenten anderer Güter angewiesen. Das resultierende System von Beziehungen der Menschen in einer Gesellschaft ist allerdings nicht rein stofflich, also sozusagen “natürlich” bestimmt. Wesentlich für die Bestimmung einer Gesellschaft ist die Art, in der diese Beziehungen organisiert sind, wer über die Produktionsmittel verfügt, wie diese Verfügung gesichert wird und was das für Nichtbesitzer von Produktionsmitteln bedeutet.

Organisationsformen menschlichen Zusammenlebens sind nur dann kritisierbar, wenn in ihnen eine teilweise Freiheit vom Naturzwang verwirklicht ist. Ihrer natürlichen Seite nach, der Seite des Naturwesens, müssen Menschen atmen, essen und sich wärmen. Sie sind in dieser Hinsicht nicht frei, sondern unterliegen einer Notwendigkeit, einem Zwang. Nur insoweit es den Menschen gelungen ist, sich von diesem Naturzwang wenigstens so weit zu emanzipieren, daß sie über die Art und Weise entscheiden, wie sie ihm nachgehen, kann ihr Tun Gegenstand der Kritik werden. Dem Begriff Gesellschaft ist vorausgesetzt, daß die Produktivkraft der Arbeit in einem Maße entwickelt ist, das Entscheidungsbereiche eröffnet, so daß die Handlungen der Beteiligten nicht durch die Naturnotwendigkeiten determiniert sind. Die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit fand in der Vergangenheit allerdings unter der Bedingung von Unfreiheit statt, der Herrschaft von Menschen über Menschen. Die Leute wurden gezwungen, nicht nur sich, sondern ebenso die jeweilige Herrschaft und deren Gewaltapparat zu erhalten. Wissenschaftler und Techniker (das beginnt schon bei den Flußregulationssystemen in Ägypten und Mesopotamien) wurden von der Mehrheit der Bevölkerung nicht freiwillig ernährt – und auch die Umsetzung ihrer Ergebnisse in Technologie fand unter Zwang statt. Herrschaft ist so Freiheit in der Gestalt der Unfreiheit.

Wird von Gesellschaft gesprochen, so ist unterstellt, daß eine Notwendigkeit für die Einzelnen besteht, sich den gesellschaftlichen Prinzipien zu unterwerfen – andernfalls ließe sich über Gesellschaft gar nichts bestimmtes aussagen.(3) Gesellschaft ist nicht eine Summe Einzelner, sondern vor allem der Zusammenhang dieser Einzelnen bzw. das Prinzip, nach dem sie miteinander umgehen. In vorkapitalistischen Zeiten wurde dieser Zusammenhang in der Regel durch herrscherliche Gewalt hergestellt. Eine Gesellschaft im engeren Sinn bildet ein Herrschaftsbereich aber nur dann, wenn der Zusammenhang der Einzelnen permanent, notwendig und inhaltlich bestimmt ist. Ein mittelalterliches Territorium z.B., das nur durch den Gewaltapparat eines Herrschers zusammengehalten wurde, während Bauern und Handwerker in einem sehr viel engeren Umkreis vor sich hinwerkelten, hatte keinen bestimmenden Einfluß auf das Leben der Menschen und war keine Gesellschaft im strengen Sinn. Solange die Herrschaft personal ist, entspricht die Gesellschaft ihrem eigenen Begriff, eine den Einzelnen gegenüber sich notwendig durchsetzende Gesamtheit zu sein, nicht vollständig, sondern hat ein Moment von Zufälligkeit.(4) In Gesellschaften mit kapitalistischer Produktionsweise ist das anders. Der Zwang zur Unterwerfung ist durch die ökonomischen Verhältnisse selbst gesetzt, die sich aus sich heraus stetig erhalten. Auch wenn dazu nach wie vor eine politische Gewalt erfordert ist, handelt es sich hier um apersonale Herschaft: Das gesellschaftliche Prinzip und damit der Charakter der Herrschaft selbst wird nicht durch das politische Personal bestimmt, sondern ist dessen Handlungen als ein System von “Sachzwängen” vorausgesetzt. Deshalb ist es auch möglich, die kapitalistische Gesellschaften nicht nur historisch zu beschreiben, sondern in strengem Sinn wissenschaftliche Aussagen über sie zu machen. Das wird im folgenden ausgeführt.

Ware, Wert und Geld

Die Produktion im Kapitalismus ist eine arbeitsteilige Produktion durch Privatproduzenten. Das heißt erstens, daß die Produzenten nicht nach einem gemeinsamen Plan produzieren, sondern für einen Markt, und zweitens, daß die Produktionsmittel ebenso wie das Produktionsergebnis Eigentum freier Rechtspersonen ist.(5) Die Güter sind nicht Gebrauchswert für den, der sie herstellt, sondern werden für den Austausch produziert, es findet Warentausch unter der Bedingung der Konkurrenz statt. Die im Kapitalismus produzierten Waren unterscheiden sich von Produkten früherer Zeiten darin, daß sie nicht nur Gebrauchswerte sind, sondern außerdem einen Wert haben. Das erscheint darin, daß die Waren neben ihrer stofflichen Gestalt immer auch Repräsentanten eines Allgemeinem sind: Eines Erlöses, der mit ihnen zu erzielen ist.

Der Wert erscheint nur im Austausch mit anderen Waren bzw. mit Geld. Der Warenwert und damit auch die Austauschverhältnisse der verschiedenen Waren werden dabei nicht beliebig von den Beteiligten festgelegt. Der Wert ist bestimmt durch den zur Produktion einer Ware insgesamt notwendigen Aufwand. Die Privatproduzenten wissen nichts vom Wert (und wüßten sie es, dann würde das nichts ändern), sondern das Maß stellt sich als blind wirkender Durchschnitt hinter ihrem Rücken her. Als Voraussetzung der individuellen Handlungen erscheinen die gesellschaftlichen Verhältnisse den Menschen notwendig als natürliche, als naturgesetzlich vorhandene, weil sie für die Einzelnen unverrückbar wie Naturgesetze sind.

Der Preis erscheint in der Kalkulation der Warenverkäufer als Summe verschiedener Kosten und eines recht beliebigen Profitaufschlages. Der Sache nach aber ist der Wert einer Ware Resultat einer bestimmten Menge gesellschaftlich durchschnittlich notwendiger und dadurch wertbildender Arbeit. Diese kann direkt in die Wertbildung eingehen oder in bereits vergegenständlichter Form, als im Produktionsprozeß verbrauchte Produktionsmittel.(6)

Das Maß der Werte und der Maßstab der Preise ist das Geld, eine Ware, die anders ist als alle anderen. Während die übrigen Waren ein besonderes Bedürfnis befriedigen müssen (das macht ihren Gebrauchswertcharakter aus), befriedigt Geld das allgemeine Bedürfnis, gegen alle anderen Waren austauschbar zu sein. Oder: Weil alles dafür zu haben ist, nimmt es jeder.(7) Im Kapitalismus werden nützliche Dinge hergestellt und verkauft. Entscheidend dafür, was hergestellt wird, ist es allerdings, wieviel Geld damit im Verhältnis zur Auslage zu erzielen ist; kein Unternehmer wird eine Investition tätigen, weil die herzustellende Ware ihm so nutzbringend erscheint. Ihr Gebrauchswert interessiert nur als Nachfrage überhaupt. Geld wird für Produktionsprozesse ausgelegt, um nach Beendigung dieser Prozesse mehr in Geld gemessenes Eigentum zu haben als vorher. Geld, das in dieser Weise die Bestimmung hat, sich zu verwerten, ist die Grundgestalt von Kapital. Es muß das Ziel der Kapitaleigentümer sein, ihre Ware zu verkaufen und eine größtmögliche Geldmenge dafür zu erhalten, mit dem dann bestimmte andere Waren (Produktions- und Konsumtionsmittel) zu kaufen sind. Es ist weiter unten zu zeigen, warum es dazu keinen Bereicherungstrieb braucht, sondern die kapitalistische Konkurrenz die Kapitaleigner dazu zwingt, sich im wesentlichen als Vertreter ihres Kapitals zu betätigen. Der Wert ist der Zweck der kapitalistischen Produktion, der Gebrauchswert bloßes Mittel.

Was Reichtum konkret ist, verändert sich mit den Veränderungen der gesellschaftlichen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten. Immer aber ist Reichtum der Überschuß, der über den permanenten Verbrauch hinaus produziert wurde. Auch der Reichtum kapitalistisch produzierender Gesellschaften ist ein Überschuß. Er besteht wesentlich allerdings nicht in einer Ansammlung überschüssiger Gebrauchswerte. Er besteht in der Produktion von Wert, von mehr Wert als verbraucht wird. Als Überschuß ist auch der kapitalistische Reichtum nicht damit zu erklären, daß einige den anderen etwas wegnehmen, indem sie beim Tausch betrügen. Das mag vorkommen, unterstellt aber den Reichtum, der auf diese Weise umverteilt wird, bereits. Eine Erklärung der Herkunft dieses Reichtums muß also auch dann greifen, wenn ein Austausch gleicher Werte vorausgesetzt wird, Äquivalententausch. Wird vom Äquivalententausch ausgegangen, ist die Frage, wie aus dem “gleichwertigen” Austausch von Waren mehr Wert herauskommen kann als zu ihrer Produktion eingesetzt wurde. Aus dem Ziel der einzelnen Kapitalisten, möglichst viel Geld einzunehmen, ist nicht zu erklären, wieso das Kapital insgesamt gewinnen kann, wie sich das Gesamtkapital verwertet.

Die Arbeiter – und wozu sie gut sind

Der weitaus größte Teil der unter dem Kapitalismus lebenden Menschen besteht aus Nichtbesitzern von Produktionsmitteln, “doppelt freien Lohnarbeitern”. Sie sind nicht nur frei vom Besitz an Produktionsmitteln, sondern auch frei Zunftzwängen und Leibeigenschaft, sie können frei über sich verfügen. Beides ist das Resultat eines historischen Prozesses, der gewaltsamen Trennung der Landbevölkerung vom Boden.(8) Die Freiheit der Lohnarbeiter schließt die Unmöglichkeit ein, das für ihr Leben Notwendige selbst herzustellen (geschweige denn es sich auf eigene Rechnung von anderen herstellen zu lassen): Sie sind nicht Eigentümer der dafür notwendigen Bedingungen. Das für den Kauf ihrer Lebensmittel erforderliche Geld wird den Arbeitern nicht in die Wiege gelegt, sondern sie müssen es auf dem Warenmarkt erst “verdienen”. Sie haben aber nichts zu verkaufen – außer ihrer eigenen Arbeitskraft, und dies ist der Inhalt des Arbeitsvertrages: Verkauf der Ware Arbeitskraft gegen Lohn, um das eigene Überleben zu sichern. Daß die Arbeitskraft so allgemein Warenform annimmt, ist die eigentliche Besonderheit des Kapitalismus.

Der Wert der Ware Arbeitskraft ist bestimmt durch die zu ihrer Reproduktion erforderte Arbeitsmenge oder, anders gesagt, durch den Wert der gesellschaftlich zu ihrer Reproduktion notwendigen Lebensmittel. Reproduktion bedeutet hier sowohl die tägliche Wiederherstellung des einzelnen Arbeiters als auch die Erhaltung der Arbeiterklasse (es müssen genügend zukünftige Arbeiter aufwachsen, um die verschlissenen Arbeiter zu ersetzen). In der Regel bekommen die Arbeiter diesen Wert ihrer Ware, den Wert der Arbeitskraft, ausgezahlt. Auch hier handelt es sich dementsprechend nicht um Betrug, sondern um Äquivalententausch; es geht alles mit Recht und Gesetz zu. Im Einzelfall mag es vorkommen, daß der Lohn vom Wert der Arbeitskraft abweicht, allgemein ist das mit der kapitalistischen Produktionsweise nicht vereinbar: Bekämen die Arbeiter weniger als zu ihrer normalen Reproduktion notwendig, wären irgendwann keine (arbeitsfähigen) mehr da (9); bekämen sie mehr, dann hätten sie irgendwann Reichtum angehäuft, den sie statt ihrer Arbeitskraft verkaufen könnten, und auch dann wären sie als Arbeiter nicht mehr verfügbar, was in einer auf Lohnarbeit basierenden Gesellschaft nicht funktionieren kann.

Ebenso wie jede andere Ware hat die Arbeitskraft einen Wert und einen Gebrauchswert. Und ebenso wie bei jeder anderen Ware zahlt der Käufer (in diesem Fall Käufer auf Zeit) den Wert, um den Gebrauchswert zu erhalten. Der besondere Gebrauchswert der Arbeitskraft besteht darin, arbeiten zu können und zwar länger arbeiten zu können als zur Reproduktion des eigenen Wertes erforderlich ist. Das ist dann gelungen, wenn der Wert des hergestellten Produkts höher ist, als der Wert der verausgabten Arbeitskraft und der verbrauchten Produktionsmittel.

Die Arbeitskraft ist jedoch keine Ware wie jede andere. Während es bei den übrigen Waren den Verkäufer in der Regel nichts angeht, was der Käufer mit ihnen anstellt, kann der Arbeiter seine Ware nur mit sich als Anhängsel verkaufen, kann sich also nicht aufs Sofa legen, während in der Fabrik seine Arbeitskraft genutzt wird. Die Dauer und die Intensität der Nutzung der Arbeitskraft berühren ihren Verkäufer selbst und verändern die Menge der zu seiner Reproduktion erforderten Lebensmittel. Es ist deshalb ein besonderer Vertrag erforderlich, der Arbeitsvertrag, der die Dauer und die Art der Nutzung festschreibt und das dafür zu zahlende Entgelt festlegt. Der Käufer der Arbeitskraft hat das Interesse, sein Kapital zu vermehren und pocht auf das Recht jedes Käufers an einer unbeschränkten Nutzung des von ihm erworbenen Gebrauchswerts: Arbeitstag verlängern!. Die Arbeiterklasse erfährt am eigenen Leib, was das bedeutet: Vernutzung im Dienst am Kapital. Sie besteht demgegenüber auf dem Recht jedes Verkäufers, nur seine Ware zu verkaufen und davon in seiner Freiheit als Eigentümer nicht weiter eingeschränkt zu werden: Arbeitstag begrenzen und, wenn möglich, verkürzen. Beide Standpunkte können sich darauf berufen, in den Prinzipien des Warenhandels verankert zu sein. Und “zwischen gleichen Rechten entscheidet die Gewalt.” (10) Der Arbeitsvertrag löst den Interessenkonflikt zwischen Arbeiterklasse und Kapital nicht auf, sondern bringt ihn in eine Verlaufsform: Welches ein angemessener Lohn für einen angemessenen Arbeitstag ist, wird immer wieder neu ausgehandelt – unter Zuhilfenahme von Drohungen mit Streik bzw. Aussperrung. Diese latent immer vorhandene Gewalt ist die Grundform des Klassenkampfes.

Werden im gesellschaftlichen Durchschnitt mit einer Maschine insgesamt 1000 Waren hergestellt, dann kann das Kapital nur dann kontinuierlich produzieren, wenn der Verkauf jeder einzelnen dieser Waren durchschnittlich 1/1000 des Maschinenwerts in die Kassen des Anwenders zurückbringt – und ebenso den entsprechenden Anteil der Auslage für Roh- und Hilfsstoffe usw. Dieses “konstante Kapital” überträgt seinen Wert auf das Produkt. Der Erlös für dieses Produkt, der Wert der neu produzierten Ware, enthält also einen Wertteil, der die Produktionsmittel ersetzen kann. Darüber hinaus enthält das Produkt einen Wertteil, der von der direkt am Produktionsprozeß beteiligten lebendigen Arbeit (dem “variablen Kapital”) geschaffen wurde. Die mögliche Höchstlänge des Arbeitstages ist gesetzt durch einen vorzeitigen Verschleiß der Arbeiter, wodurch deren Reproduktion auf die Dauer verhindert würde. Die Mindestlänge ist in dem Zweck gegeben, zu dem der Käufer sein Geld in Arbeitskraft auslegt: Es soll sich vermehren. Dafür ist es erforderlich, daß die Arbeiter nicht nur so lange arbeiten, bis der von ihnen neu geschaffene Wert dem Lohn entspricht (notwendige Arbeit), sondern daß sie Mehrarbeit leisten, Mehrwert produzieren. Der Umfang des gesellschaftlichen Mehrwerts ist durch die Menge der gesellschaftlichen Mehrarbeit bestimmt.(11)

Die Rechtmäßigkeit, mit der Kauf und Anwendung der Ware Arbeitskraft vollzogen werden, die formelle Gleichheit der Vertragspartner, ändert nichts an der prinzipiellen Ungleichheit der Vertragspartner: Zwar sind die Kapitaleigner als Klasse ebenso darauf angewiesen, Arbeitskraft zu kaufen wie die Arbeiter darauf angewiesen sind, sie zu verkaufen. Das Kapital ist jedoch Verfügung über die materiellen Bedingungen der Produktion. Kapitalisten können ihr Eigentum beleihen, um Durststrecken zu überstehen, das Kapital einzelner Länder kann auf ausländische Arbeiter zurückgreifen, um Lohn zu sparen, das Kapital überhaupt kann lebendige Arbeit durch Maschinerie ersetzen. Letzteres ist umso lohnender, je erfolgreicher die Arbeiter zuvor im Lohnkampf waren. Die Arbeiter dagegen leben von der Hand in den Mund und haben, wollen sie der Fürsorge entgehen, zum Abschluß eines Arbeitsvertrages auch kurzfristig keine Alternative. Die Freiwilligkeit, mit der ein Arbeiter den Arbeitsvertrag eingeht, ist deshalb bloßer Schein. Er kann nicht anders, und der Reproduktionsprozeß des Kapitals selbst sorgt dafür, daß dies für die ganze Arbeiterklasse so bleibt; die historische Herstellung des Arbeiters, die Trennung von den Produktionsmitteln, wird durch das Kapital und mit dem Kapital reproduziert, immer wieder hergestellt: Wie die Arbeiter in den Produktionsprozeß eintreten, so kommen sie aus ihm heraus, gerade mit dem Nötigen versehen, um weiterhin arbeiten zu können. Und im Produktionsprozeß haben sie das Kapital erhalten und vermehrt, daß im nächsten Umschlag wiederum Arbeiter zum Mittel seiner Verwertung machen wird. Das eben ist Ausbeutung: Mit der Produktion von Mehrwert reproduziert die Arbeiterklasse bloß ihre eigene Abhängigkeit.(12) Auch der Mehrwert ist als Überschuß eine Gestalt von Freiheit vom Naturzwang, hinterläßt seine Produzenten jedoch in dauernder Bedürftigkeit.

Das in die Produktion geworfene Geld verwertet sich dadurch, daß Arbeiter Mehrwert produzieren. Das macht den Inhalt des industriellen Kapitals aus, und alle anderen Formen des Kapitals (Zinskapital z.B.) basieren auf diesem Vorgang und haben an der gesellschaftlichen Mehrwertmasse teil. Kapitalismus hat deshalb mit Schatzbildung wenig zu tun, und nicht die Größe des Autos in der Garage entscheidet darüber, ob jemand Kapitalist ist: Kapitalist ist jemand, dem Kapital gehört, also sich verwertender Wert – und im engeren Sinne jemand, der vom Kapitalertrag leben kann.(13) Die Größe des den Kapitalisten zufallenden Mehrwerts ist erstens davon abhängig, wieviel Kapital sie in den Produktionsprozeß investieren und zweitens davon, in welchem Grad sich dieses Kapital verwertet, wieviel sie auslegen müssen, um eine bestimmte Menge Mehrarbeit leisten zu lassen.

Die Akkumulation des Kapitals

Der Mehrwert wird zum weitaus größten Teil nicht verfressen oder in Luxusgüter umgesetzt, sondern zum angewandten Kapital geschlagen; es findet Akkumulation statt, das Kapital wächst. Die Kapitalisten sind dazu gezwungen: Ihr Kapital steht zu anderen Kapitalen in Konkurrenz – um Produktionsmittel und Arbeitskraft, um den Absatz ihrer Ware – und vor allem um den Grad der Verwertung. Ziel des Kapitals ist es, mit einer gegebenen Auslage einen möglichst hohen Mehrwert zu erzielen, der wiederum akkumuliert wird. Je schneller ein Kapital akkumuliert, desto besser sind die Chancen, die Konkurrenz mit den jeweils besten Produktionsmitteln bestehen zu können. Akkumulation erscheint daher als Sachzwang; wer zu lange zu wenig akkumuliert, kann nicht mit dem jeweils neuesten technischen Produktionsniveau mithalten.

Die einzelnen Kapitalisten haben auf den Wert ihrer Produktionsmittel (bzw. auf deren Preis) direkt keine Einwirkungsmöglichkeit. Sie können deshalb die Verwertung ihres Kapitals von sich aus nur verbessern, indem sie ihre Produktionsmittel möglichst ökonomisch einsetzen (das machen die Konkurrenten auch), den Arbeitstag verlängern und intensivieren, ohne mehr Lohn zu zahlen (das hat erstmal Grenzen in den Tarifverträgen, den gesetzlichen Bestimmungen und letztlich in der Gesundheit der Arbeiter) oder indem sie Technologie einsetzen, die die Produktivkraft der Arbeit steigert. Letzteres bedeutet, daß der Produktenausstoß pro Kapitaleinsatz erhöht wird, der Wert der einzelnen Ware jedoch sinkt, da in ihr weniger Arbeit vergegenständlicht ist also zuvor. Das lohnt sich für die Kapitalisten, die die produktivere Technologie früher einsetzen als ihre Konkurrenten, dadurch, daß sie ihre Waren billiger anbieten können als der gesellschaftliche Durchschnittspreis – und trotzdem mehr Gewinn machen als die Konkurrenz. Sie verkaufen zu einem Preis, der zwischen dem gesellschaftlich üblichen und dem unter ihren individuellen Produktionsbedingungen möglichen liegt. Den Kapitalen, die am längsten mit alter Technologie produzieren, bleibt der Ruin. Dies nicht etwa, weil ihre Maschinen nicht mehr funktionstüchtig wären. Vielmehr kann schon ein Produktivkraftrückstand von wenigen Prozent die einzelnen Waren gegenüber den Konkurrenten so verteuern, daß sie nicht mehr absetzbar sind und das durchaus noch funktionsfähige produktive Kapital nur noch wertlosen Plunder darstellt. So muß der bei steigender Produktivkraft der Arbeit produzierte Mehrwert vor allem dafür verwendet werden, immer schneller immer bessere Maschinerie anzuschaffen, da nie sicher ist, daß die Konkurrenz die Pläne für die Verbesserung nicht schon in der Schublade hat.

Der Konkurrenzkampf der Einzelkapitale lohnt sich aber nicht nur für besonders erfolgreiche Einzelkapitale, sondern in anderer Weise auch für die gesamte Kapitalistenklasse. Der permanente Fortschritt in der Produktivkraft der Arbeit führt gesellschaftlich zu einem Sinken des Werts der Ware Arbeitskraft, denn die notwendigen Lebensmittel der Arbeiter werden immer produktiver hergestellt und verlieren damit an Wert. Die Arbeiter produzieren folglich während eines immer größer werdenden Teils ihres Arbeitstages Mehrwert – es sei denn, eine Reallohnsteigerung oder eine Arbeitszeitverkürzung (bei vollem Lohnausgleich) gleichen die Senkung des Wertes der Arbeitskraft aus.(14) In der Regel tun sie das nicht; tendenziell nimmt im Kapitalismus der Mehrwert im Verhältnis zum Lohn (Ausbeutungsrate) zu.

Wird die Produktivkraft der Arbeit dadurch gesteigert -und das ist der Regelfall in der kapitalistischen Produktionsweise-, daß Produktionsabläufe, die zuvor von Hand erledigt werden mußten, nun mit Hilfe von Maschinerie erledigt werden (15), so bedeutet das, daß bei gleichem Kapitaleinsatz Arbeiter entlassen werden. Und selbst bei Akkumulation nimmt die Arbeiterzahl durch diesen Prozeß nicht im gleichen Ausmaß zu, in dem das Kapital sich ausdehnt. Das Kapital produziert so eine Reservearbeiterschaft, produziert “Arbeitslosigkeit”. Daß auf diese Weise ebenso planlos wie effektiv die Produktivkraft der Arbeit vorangetrieben, permanent Produktionsmittel entwertet und Arbeiter “freigesetzt” werden (was sowohl den Ruin vieler Einzelkapitalisten, die Vergeudung von “Ressourcen”, und das Elend der überzähligen Arbeiter einschließt), ist gesetzmäßig. Dazu braucht es nicht einmal Kapitalisten im herkömmlichen Sinn (und deshalb ist es, das nebenbei, einzelnen Kapitalisten auch nicht zum Vorwurf zu machen): Wenn alle Arbeiter einer Fabrik anteilig deren Eigentümer wären, müßten sie unter kapitalistischen Bedingungen genauso handeln, sonst würden sie nicht lange Eigentümer bleiben, sondern in der Konkurrenz unterliegen. In der Regel produziert das Kapital daher nicht an der Grenze, die seiner Ausdehnung durch die Gesamtzahl der verfügbaren Arbeiter gesetzt ist. Täte es dies doch, wäre die Reservearbeiterschaft also vollständig aufgesogen, dann führte dies zu einer Stärkung der Arbeiterklasse im Lohnkampf, tendenziell steigende Löhne führten zu einer Dämpfung der Akkumulation – und wenn das Tempo der Akkumulation auf diese Weise abnähme, während weiterhin “rationalisiert” wird, dann würde wiederum eine Reservearbeiterschaft aufgebaut, deren Existenz die Löhne tendenziell sinken ließe – und wieder von vorne. Durch den Prozeß des Kapitals selbst werden seine Voraussetzungen so immer wiederhergestellt.

Überall, wo Arbeitsteilung herrscht, sind die Menschen voneinander abhängig, soweit sie auf die Produkte anderer angewiesen sind. Die Abhängigkeit der Menschen in kapitalistischen Gesellschaften ist darüber hinaus eine besondere. Den Zweck, den die Einzelnen mit dem wirtschaftlichen Handeln verfolgen, setzen sie sich nicht selbst, über ihn ist auch – Demokratie hin oder her – nicht abzustimmen. Der “Wagemut” und die “Phantasie” des Kapitalisten sind vielleicht notwendig, um neue Methoden der Profitabilitätssteigerung zu finden. Daß diese Methoden überhaupt zu suchen und gegebenenfalls auch anzuwenden sind, liegt nicht in der Individualität des Kapitalisten, kann sich der Kapitalist nicht aussuchen, mögen darunter auch Lohndrückerei, Entlassungen und Vernichtung der natürlichen Lebensbedingungen fallen. Ein Kapitalist, der aus Edelmütigkeit auf die Anwendung solcher Methoden verzichten wollte, ginge über kurz oder lang in der Konkurrenz unter. Und wenn Einzelne ihre Produktionsmittel verkaufen und nur noch vom Vermögen leben, dann setzt das zum einen Käufer dieser Produktionsmittel voraus und zum anderen ein Vermögen, daß erstmal mit den üblichen Methoden angeeignet werden mußte. Die Arbeiter haben noch nicht einmal diese kleine Alternative. Sie sind gezwungen, mit ihrer Arbeit ihre eigene Abhängigkeit zu reproduzieren und auch noch darum zu konkurrieren, dies überhaupt zu dürfen und nicht als Überzählige der Armenfürsorge zuzufallen. Angewiesen auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft haben sie sogar ein Interesse daran, daß das Kapital, das sie ausbeutet, so erfolgreich akkumuliert, daß sie ihren Job behalten. Daß Betriebsräte auch schon mal Lohnsenkungen zustimmen, ist vor diesem Hintergrund kein Zufall. Im Kapitalismus herrschen nicht Einzelne, setzen nicht irgendwelche Machthaber mit Tricks und Gewalt ihre persönlichen Zwecke durch. Es ist der Kapitalismus selbst, welcher herrscht, der den ökonomisch Handelnden und selbst dem Staatspersonal Zwecke in Gestalt von “Sachzwängen” vorgibt. Kapitalismus bedeutet so notwendig Herrschaft – apersonale Herrschaft.(16)

Ein Kapitalist beurteilt die Attraktivität eines Geschäftes danach, wieviel Mehrwert ihm bei einer bestimmten Kapitalauslage pro Zeiteinheit zufließt; ihn interessiert die Profitrate. Profit ist nichts anderes als die Erscheinungsform des Mehrwerts, dessen Niederschlag als Resultat einer Kapitalauslage. Mehrwertproduzierende Arbeit wird von Menschen geleistet, und Arbeitsmittel sorgen bloß dafür, daß mit einem bestimmten Aufwand ein stofflich besseres Ergebnis erzielt wird. Daran ändert sich nichts, wenn Produktionsabläufe automatisiert werden und unter Umständen ohne direkte menschliche Einflußnahme vor sich gehen: Die angewandte Arbeitskraft schafft Mehrwert über ihren eigenen Wert hinaus; die Produktionsmittel übertragen bloß ihren Wert auf das mit ihnen hergestellte Produkt. Dies bedeutet, daß von Kapitalen mit einem hohen Anteil angewandter Arbeit im Vergleich zum konstanten Kapital (niedrige Kapitalzusammensetzung) mehr Mehrwert mit einer bestimmten Kapitalauslage produziert wird als von Kapitalen mit wenig angewandter Arbeit und viel konstantem Kapital (hohe Kapitalzusammensetzung).

Das heißt aber nicht, daß Branchen mit hoher Zusammensetzung, also mit relativ hoher Auslage für Produktionsmittel, für das Kapital uninteressant wären. Die Profitabilität eines Einzelkapitals richtet sich unmittelbar nicht nach seiner Wertproduktion, sondern der Situation auf dem Markt: Nachfrage, Auslastung der Anlagen usw. Die Konkurrenz der Kapitale um Profit führt dazu, daß Kapital aus Branchen mit niedriger Profitrate abgezogen und in Branchen mit hoher Profitrate investiert wird. In den Branchen, aus denen Kapital abfließt, verbessert sich der Tendenz nach daraufhin die Marktsituation und die Profitrate steigt; ebenso verschlechtert sich die Marktsituation in den ursprünglich attraktiven Branchen, weil nun mehr Kapital in der Konkurrenz steht. Es stellt sich so stets eine gesellschaftliche Durchschnittsprofitrate her, ein Gleichgewicht der Profitabilität, das zur Grundlage der Konkurrenz dient: Die immer wieder vorkommenden Abweichungen von der Durchschnittsprofitrate sind das Maß dafür, ob eine Branche Kapital anzieht oder abstößt. Das Verhältnis von konstantem und variablem Kapital entscheidet nur gesamtgesellschaftlich über die Höhe der Profitrate. Die einzelnen Branchen ziehen tendenziell so viel Mehrwert pro eingesetztem Kapitalanteil an, wie ein Kapital mit gesellschaftlicher Durchschnittszusammensetzung pro Anteil produziert. Die Konkurrenz der Kapitale sorgt so für eine Umverteilung von Mehrwert innerhalb der Gesellschaft.

Der Wert einer Ware ist bestimmt durch die in ihr enthaltene gesellschaftlich notwendige Arbeit. Dies ist, wie erwähnt, eine Bestimmung, die den Absatzmarkt schon einbezieht. Das schließt die Möglichkeit einer Abweichung des “individuellen Werts” der Waren (der in ihner Produktion tatsächlich verausgabten Arbeit) von ihrem wirklichen Wert, bestimmt durch die gesellschaftlich notwendige Arbeit, ein. Die Konkurrenz der Kapitale auf Grundlage der Durchschnittsprofitrate bedeutet demgegenüber eine notwendige Abweichung der Preise von den Werten. Produktion gemäß einer Durchschnittsprofitrate bedeutet, daß tendenziell jede eingesetzte Kapitalsumme, egal in welcher Branche, den gleichen Profit erzielt. Das ist nicht so zu verstehen, als würden die Kapitalisten ihre Waren zwar nach Werten tauschen, aber hinterher über eine mysteriöse Ausgleichszahlung den Durchschnittsprofit erhalten. Umgekehrt: Der geschilderte Prozeß der Ausgleichung zur Durchschnittsprofitrate stellt sich so dar, daß Waren in der Regel nicht zu ihren Werten getauscht werden.(17) Vielmehr setzen sich die Warenpreise aus dem Kostpreis (den in den Waren enthaltenen Wertbestandteilen des übertragenen konstanten Kapitals und des gezahlten Lohnes) und dem Durchschnittsprofit zusammen. Der so gebildete Produktionspreis der Waren ist das Maß, um das die Marktpreise schwanken und dem sie sich tendenziell annähern.

Marx´ Argumente zu Wert, Mehrwert und Äquivalententausch sind mit der Darstellung der Konkurrenz um den Durchschnittsprofit nicht gegenstandslos geworden. Jede Umverteilung setzt das Umzuverteilende, in diesem Fall den Mehrwert, voraus. Der aber ist nur zu erschließen unter Absehung von Prozessen bloßer Umverteilung. Der Durchschnittsprofit ist kein beliebiger Aufschlag, sondern “aufzuschlagen” ist gesamtgesellschaftlich nur das, was an Mehrwert produziert wurde. Alles was ein Kapitalist über dieses Maß hinaus realisiert, hat er seinen Konkurrenten abgenommen, die Gesamtsumme wird dadurch nicht größer. Die gesellschaftliche Profitsumme ist identisch mit der gesellschaftlichen Mehrwertsumme, und die Produktionspreissumme ist identisch mit der gesellschaftlichen Wertsumme. Die Betrachtung von Wertgrößen ist deshalb auch nicht ein methodischer Trick, der im Fortgang der Analyse fallenzulassen ist, sondern betrachtet die wirkliche Grundlage kapitalistischen Wirtschaftens.

Nicht alles, was gesellschaftlich als Profit erscheint, stimmt überein mit dem strengen Begriff des Profits, die Erscheinungsform des Mehrwerts zu sein. So ist der Zins zwar erstmal nur an das Leihkapital umverteilter Mehrwert. Beim zinstragenden Kapital wird darüber hinaus jedoch die bloße Gewinnerwartung zum Zahlungsmittel: Die Zahlungsverpflichtungen von Schuldnern werden benutzt wie bereits produzierter Reichtum.(18) Die Zinshöhe ergibt sich dabei scheinbar nur aus der Nachfrage nach Leihkapital. Auch die Kursveränderungen einer Aktie hängen nur noch mittelbar mit der Verwertung des Kapitals, das in Aktienform besessen wird, zusammen. Sie richten sich nach der Nachfrage nach dieser Aktie im Verhältnis zum Angebot. Die tatsächliche Aneignung von Profit dient nur noch als Indiz für Spekulanten, einen steigenden oder fallenden Kurs zu erwarten, und macht sich gesellschaftlich tendenziell als Veränderung der zahlungskräftigen Nachfrage geltend. Ähnlich verhält es sich mit den nationalen Währungen. Sie sind nicht bereits produzierter materieller Reichtum, sondern vom Staat ausgegebener Anrechtsschein auf immer wechselnde Anteile der gerade produzierten Warenmasse. Ihr Kurs wird im Inneren davon beeinflusst, wieviel Währung (Geld) dem gesellschaftlich produzierten Reichtum gegenübersteht: Steigende zahlungskräftige Nachfrage bei gleichem Gesamt-Warenwert führt tendenziell zu steigenden Preisen. Der Kurs gegenüber den anderen Währungen hängt davon ab, wieviel von einer Währung nachgefragt wird, wieviel Dollars z.B. in Euro umgetauscht werden sollen. Neben den internationalen Warenströmen gehen das Zurückhalten von Währungen (Depotbildung) und die Spekulation in diese Umtauschrelation bestimmend ein. Auch hier besteht also eine gewisse Selbständigkeit der Kursentwicklung gegenüber dem materiellen Reproduktionsprozeß.

Gemeinsam ist diesen Erscheinungen des Kapitals, daß die Nachfrage nach Kapital scheinbar dessen Masse erhöht. Es handelt sich hierbei um fiktives Kapital, das vorübergehend eine gewisse Selbständigkeit gegenüber der mehrwertproduzierenden Arbeit bewahren kann, das aber in einer Krise seinen fiktiven Charakter unter Beweis stellt. Wird das Vertrauen in den “Wert” der entsprechenden Papiere erschüttert und versuchen ihre Besitzer, sie in sicheren Reichtum umzutauschen, so tritt ein Prozeß der allgemeinen Entwertung ein, während dessen der scheinbare Reichtum vernichtet wird, ohne daß zuvor im materiellen Reproduktionsprozeß der Gesellschaft eine Veränderung eingetreten sein muß.

Die Akkumulation hat bestimmte Proportionen in der Aufteilung des Kapitals auf die verschiedenen Branchen zur Voraussetzung. Das Kapital kann nur akkumulieren, wenn die Produktionsmittelindustrie die gesamtgesellschaftlich verschlissenen Produktionsmittel ersetzt und darüber hinaus Produktionsmittel zur Erweiterung der Produktion zur Verfügung stellt. Gleichzeitig muß die Lebensmittelindustrie die Lebensmittel für die eigenen Arbeiter herstellen, ebenso für die Arbeiter der Produktionsmittelindustrie und für die in beiden Industrien zusätzlich einzustellenden Arbeiter (sowie für die unproduktiven Esser wie Kapitalisten und Friseure). Sobald in einer Branche mehr Kapital angelegt ist als zur Produktion der so bestimmten Warenmengen notwendig, verwertet sich ein Teil des gesellschaftlichen Kapitals nicht, weil es keine ausreichende zahlungskräftige Nachfrage vorfindet, selbst wenn die hergestellten Waren einen Gebrauchswert haben. Der Reproduktionsprozeß des Gesamtkapitals ist wesentlich der Prozeß des Kapitals, also nicht bloß rationeller Ersatz verbrauchter Gebrauchswerte. Er ist vielmehr Einheit von Stoff- und Wertersatz und darin sind Störungen, Krisen, schon angelegt.

Ein Beispiel: Kapitale trachten danach, die Produktivkraft zu steigern, dadurch ihre einzelnen Waren zu verbilligen und dafür die produzierte Warenmenge zu steigern. Wird auf diesem Weg ein Produktionsmittel im Vergleich zu den anderen überdurchschnittlich verbilligt, sinkt die in Geld gemessene Nachfrage nach ihm tendenziell: Nur weil z.B. ein Hilfsstoff zur Maschinenschmierung im Wert (Produktionspreis) um die Hälfte gesenkt wurde, wird sich die Menge der Maschinen, die mit ihm geschmiert werden sollen, nicht verändern. In einem solchen Fall würde dem Stoff nach ebensoviel, dem Wert nach aber weniger Hilfsstoff nachgefragt als zuvor, und die Steigerung der Produktivkraft der Arbeit in der Schmiermittelherstellung würde sich in einer Absatzstörung eben dieser Branche auswirken – wenn nicht gleichzeitig Kapital in andere Branchen abfließt. Wert- und Stoffersatz fallen in dieser Weise permanent auseinander.

Ebenso stört jede Veränderung in der Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals dessen Reproduktion. Steigt etwa im Zuge einer Produktivkraftsteigerung gesellschaftlich der Anteil des konstanten Kapitals, so nimmt die Nachfrage nach Lebensmitteln relativ ab. Dies führt zu Absatzstockungen in der Lebensmittelindustrie und zu Übernachfrage nach Bestandteilen des konstanten Kapitals. Zwar ist es prinzipiell möglich, Kapital von der einen Branche in die andere zu übertragen und auf die veränderte Nachfrage mit einem veränderten Angebot zu reagieren; diese Veränderung geht aber nicht unmittelbar und bruchlos ab, weil gerade das konstante Kapital zu einem großen Teil für Jahre in einer bestimmten technischen Gestalt fixiert ist und zu einem Transfer gar nicht zur Verfügung steht. Eine solche Ausgleichsbewegung ist also in der Regel mit Kapitalvernichtung, mit Konkursen und Entlassungen verbunden.

Erhöht sich im Zuge der Produktivkraftsteigerung die Zusammensetzung des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, nimmt also der Anteil des konstanten Kapitals zu (19), dann bedeutet das nichts anderes, als daß in der Gesellschaft mehr konstantes Kapital eingesetzt werden muß, um eine gleichbleibende Menge mehrwertproduzierender Arbeit anzuwenden. Die Folge ist ein Fallen der gesellschaftlichen Profitrate und damit der Durchschnittsprofitrate.(20) Dadurch wird die Fähigkeit des Kapitals, Ungleichgewichte in der gesellschaftlichen Reproduktion durch Neuinvestition des angeeigneten Profits in einer anderen Branche auszugleichen, vermindert. Zudem kann eine spekulative Verwendung des Kapitals vorübergehend lohnender erscheinen als die Aneignung des gesunkenen Durchschnittsprofits durch ein industrielles Kapital. Krisenerscheinungen werden so mittelfristig verschärft.

Der Reproduktionsprozeß des Kapitals ist krisenhaft: Während in vorkapitalistischen Zeiten wirtschaftliche Störungen in der Regel stoffliche Ursachen hatten (Mißernten, Seuchen, Zerstörungen durch Krieg), werden kapitalistische Krisen durch den Verwertungsprozeß des Kapitals selbst hervorgebracht. Krisen im Kapitalismus sind in diesem Sinn normal.

Und wo bleibt das Positive?

Die Krise stellt zugleich die Voraussetzungen für eine erneute Akkumulation her und hebt sich selbst auf. Mögen die Ausgleichsbewegungen auch mit noch so vielen Entlassungen und Pleiten verbunden sein, irgendwann vermag das Kapital wieder zu akkumulieren. Längerfristig ist auch der Fall der Durchschnittsprofitrate nicht unausweichlich. Zum einen können neue Produktionszweige mit neuartiger Technologie die gesellschaftliche Durchschnittszusammensetzung senken, zum anderen wird das konstante Kapital im Zuge der Produktivkraftsteigerung permanent verbilligt, so daß die Zusammensetzung des Kapitals wieder gesenkt wird. Diese Entwertung macht sich bei bestehenden Anlagen zwar erstmal als Verlust in der Buchführung geltend, danach -und erst recht bei Neuanlagen- wird die Profitrate jedoch erhöht, weil die notwendige Auslage für die Beschäftigung einer bestimmten Arbeiteranzahl vermindert wurde.

Die Normalität der Krise bedeutet deshalb nicht, daß im Kapitalismus ständig Krise herrschte. Krise ist überhaupt nur zu bestimmen als Störung von etwas – und dieses “etwas” ist der Akkumulationsprozeß des Kapitals. Es ist dem Begriff der kapitalistischen Krise vorausgesetzt, daß dieser Akkumulationsprozeß insgesamt trotz aller Krisen gelingt, was nichts anderes heißt, als daß das Kapital existiert. Wenn Kapitalisten Konkurs anmelden müssen, Arbeiter entlassen werden und “nicht genug Geld da” zu sein scheint, um die Überzähligen zu versorgen, dann ist das höchstens eine Krise im Kapitalismus (soweit es sich nicht bloß um das normale Geschäft handelt) aber keine Krise des Kapitalismus. Wer der Auffassung ist, es zeige sich hier schlagend, daß der Kapitalismus zu der Lösung großer “Menschheitsprobleme” nicht in der Lage ist, tut so, als sei das die Aufgabe des Kapitalismus. Ein Problem aber sind die mit dem Kapitalismus verbundenen Übel nur für die von ihnen Betroffenen, der Produktionsweise machen sie keinen Schaden. Im Reproduktionsprozeß des Kapitals ist kein Ende des Kapitalismus angelegt, und abgesehen von der stetigen Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit ist aus den Gesetzen der kapitalistischen Produktionsweise -sind sie gesellschaftlich erst einmal entfaltet (21) – keine historische Tendenz des Kapitalismus abzuleiten.

Eine wissenschaftliche Analyse des Kapitalismus hat nicht Vorhersagen über sein Ende zu versuchen, sondern seine Prinzipien zu erklären. Das ist nicht die Verabschiedung von einer wissenschaftlich begründeten Kapitalismuskritik. Vielmehr ist gerade aus den Prinzipien der kapitalistischen Produktionsweise abzuleiten, daß menschenfreundlichen Reformen im Kapitalismus systematisch enge Grenzen gezogen sind. Wer am Kapitalismus ökonomisch teilnimmt – und sei es als Lohnarbeiter – muß sich an die entsprechenden Regeln halten und setzt damit wiederum andere den gleichen “Sachzwängen” aus. Nur auf Grundlage dieser Notwendigkeit kann das Resultat der Kritik die Forderung nach einer allgemeinen Aufhebung des Kapitalismus sein. Diese erfolgt nicht automatisch, sondern muß gewollt werden und planmäßig ins Werk gesetzt, nicht als individueller Akt, das führt in die Verelendung (22), sondern als gesellschaftlicher. Die Kapitalismusanalyse vermag die Möglichkeit der Aufhebung zu erweisen, und in diesem konkreten Bezug auf das Bestehende unterscheidet sich die Kritik des Kapitalismus von der Formulierung einer bloßen Utopie.

Im ununterbrochenen, auf der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse beruhenden und die gesellschaftliche Einheit herstellenden Produktionsprozeß des Kapitals ist Freiheit vergegenständlicht; das Kapital ist kein Naturzwang. Im Unterschied zu früheren Formen menschlichen Zusammenlebens ist ein Spielraum für gesamtgesellschaftliche Planung gegeben, zur bewußten Gestaltung menschlichen Zusammenlebens. Der Kapitalismus konnte historisch nur entstehen, weil die Bedingungen seiner Entstehung innerhalb der vorkapitalistischen Gesellschaften geschaffen worden waren. Die Summe dieser Bedingungen sind zwar als Voraussetzungen des Kapitalismus zu betrachten, aber nicht als sein Grund: Es bedurfte noch der “gesellschaftlichen Tat”, des Entschlusses, Land von Bauern frei zu machen und das auf diesem Boden hergestellte Produkt nicht zu verjubeln, sondern zur weiteren Mehrung des Reichtums einzusetzen.(23) Am Beginn des Kapitalismus stand so ein Akt aus Freiheit. Ebenso kann gezeigt werden, daß der Kapitalismus selbst die Bedingungen seiner Abschaffung produziert hat, daß es aber des Aktes aus Freiheit bedarf, um eine Ökonomie zu verwirklichen, die Vergesellschaftung nicht als Gewaltakt vollzieht, eine Gesellschaft in dem es keine Arbeiter mehr gibt, die bloßes Mitte der Mehrwertproduktion sind, in der nicht Waren getauscht werden, sondern Einigung stattfindet über die Herstellung und Verteilung von Gebrauchswerten. Die Grundform dieses Aktes ist der Moment der Außerkraftsetzung der Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise.

2002 als Broschüre erschienen

Fußnoten:
(1) Uns ist klar, daß eine Gesellschaft mit dieser Bestimmung nicht vollständig beschrieben ist. Genausowenig, wie aus der Bestimmung des Begriffes “Mensch” (“vernunftbegabtes Lebewesen”) die Besonderheiten von Jana, Andrea und Michael herauszubekommen sind, ist aus dem Begriff Gesellschaft der Unterschied zwischen z.B. Japan und Südafrika abzuleiten. Daß Gesellschaften neben ihrer Produktionsweise auch noch andere Eigenschaften haben mögen (von der politischen Organisation bis eben zur sogenannten “Kultur”) ist also zugestanden. Es gibt in kapitalistischen Gesellschaften dementsprechend auch eine Menge zu kritisieren, was nicht unmittelbar zur Wirtschaftsweise gehört. Der Vorwurf, die Bestimmung einer Gesellschaft über ihre Ökonomie sei “ökonomistisch verzerrt”, weil das Leben doch noch aus mehr besteht als aus der Produktion und Verteilung von Gütern, ist allerdings falsch. Er beinhaltet den Anspruch, mit dem Begriff “Gesellschaft” die komplette “Lebenswirklichkeit” von Menschen in einem Ausdruck zusammenfassen zu können. Dazu taugt dieser Begriff aber ebensowenig wie irgendein anderer. Gesellschaft ist nicht nur Ökonomie (Geschlechtsverkehr und Kinderkriegen z.B. sind zwar notwendig, damit es Gesellschaften gibt, sind aber selbst kein ökonomischer Prozeß); aber alle wirklich gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten sind ökonomisch bestimmt.
(2) Dabei werden wir im wesentlichen auf die Argumente im “Kapital” von Karl Marx zurückgreifen. Beste Ausgabe ist immer noch die aus dem Dietz-Verlag.
(3) Wenn es in der Gesellschaft keine angebbaren Prinzipien, Gesetzmäßigkeiten o.ä. gäbe, könnte man über Gesellschaften immer nur rückblickend etwas sagen – und das auch nur als Statistik. Die Ökonomie schafft eine Notwendigkeit, die demgegenüber allgemein, also für alle gültig ist: Während die Einzelnen die “Kultur” ihrer Umgebung kritisch überwinden können, müssen sie sich der Produktionsweise und den Regeln der sie organisierenden Staatsgewalt unterwerfen – oder die Gesellschaft insgesamt verändern.
(4) Das heißt nichts anderes, als daß es problematisch ist, in vorbürgerlicher Zeit von Gesellschaften zu sprechen. Einige Organisationsformen des Zusammenlebens entsprachen dem Begriff -der nur von heute aus rückblickend zu formulieren ist- mehr (etwa die griechische Polis), andere weniger. Da sie mit Gesellschaften im engeren Sinn jedoch immer auch Wichtiges gemeinsam haben (Freiheit in der Gestalt von Unfreiheit, die sich als Zwang den Einzelnen gegenüber geltend macht), kann auch nicht einfach gesagt werden, daß es sich dabei nicht um Gesellschaften gehandelt habe.
(5) Dieses Eigentum wird vom Staat garantiert und seine Verletzung bestraft. Es gibt wenige Ausnahmen vom allgemeinen Privatbesitz an brauchbaren Dingen wie z.B. Luft – dies z.T. wegen ihrer scheinbar unbegrenzten Verfügbarkeit, z.T. auch schlicht aus der technischen Schwierigkeit heraus, in diesen Bereichen Eigentum zu markieren.
(6) Dies ist eine Bestimmung, die den Marktumfang schon berücksichtigt: Werden von einer Warenart so viele Exemplare hergestellt, daß in ihnen mehr Arbeit vergegenständlicht ist als es der zahlungskräftigen Nachfrage entspricht, dann zählt ein Teil dieser Arbeit nicht als gesellschaftlich notwendig. Entweder die überzähligen Waren bleiben unverkäuflich und werden als bloßer Verlust abgeschrieben oder der Preis aller Waren wird gesenkt, bis ihr Gesamtpreis der Nachfrage entspricht. Das ist nicht zu verwechseln mit der Bestimmung des Preises durch “Angebot und Nachfrage”! Der Wert ist auch dann ein Maß, wenn diese sich ausgleichen.
(7) Historisch hat sich Gold als Geldmaterial etabliert, was durch seine besonderen Eigenschaften begünstigt wurde (Teilbarkeit, relative Seltenheit, Lagerfähigkeit). Es hätte aber auch eine andere Ware sein können. Selbst Papierzettel können an die Stelle des Metallgeldes treten. Dabei ergibt sich aber die Schwierigkeit, daß diese Zettel nicht selbst Wert haben, sondern bloßes Wertzeichen sind, so daß das Anrecht auf Güterkauf (in Papiergeldgestalt) den tatsächlich produzierten Reichtum übersteigen kann. Das ist die (abstrakte) Grundlage jeder Geldentwertung.
(8) Am Ausgang des Mittelalters lassen sich in Europa vielfältige Formen des Besitzes an Boden, des damals wichtigsten Produktionsmittels, nachweisen: Sie reichen vom dörflichen Gemeinschaftsbesitz über nominellen Lehnsbesitz bei faktisch selbständig wirtschaftenden Bauern bis hin zu den verschiedenen Formen von Leibeigenschaft. Die Umwandlung dieser Formen in Privatbesitz (das hieß in der Regel Vertreibung von Bauern) fand als gewaltsamer Prozeß zwischen dem späten 16. und frühen 19. Jahrhundert statt und schaffte eine hohe Reichtumskonzentration auf der einen Seite und Besitzlose auf der anderen. Dadurch wurden unter nichtkapitalistischen Bedingungen die wichtigsten Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise hergestellt: verfügbares (und investierbares) Mehrprodukt und eine Arbeiterklasse.
(9) Was dabei normal heißt, verändert sich dabei in der Geschichte. Darauf haben sowohl Kämpfe der Arbeiterklasse als auch Bedürfnisse des Kapitals selbst (z.B. nach sozialem Frieden) Einfluß.
(10) Marx, Das Kapital Bd.1, Dietz Berlin, S.249.
(11) Dem Mehrwert entspricht eine Menge von Waren, die weder in den Ersatz der verbrauchten Produktionsmittel eingeht noch in den individuellen Konsum der Arbeiter (die Lohngüter) fällt. Beim Mehrwert handelt es sich nicht um einen Preisaufschlag, sondern um eine besondere Form eines Mehrprodukts.
(12) Die Arbeiterklasse sorgt mit ihrer Reproduktion (über Lohnarbeit) automatisch dafür, daß sich auch das Kapital reproduziert und so die Bedingungen erhalten bleiben, die immer wieder eine ArbeiterInnenklasse schaffen. Deshalb ist der Begriff “Klasse” auch Bestandteil einer Erklärung und nicht (wie z.B. “Schicht”) einer bloßen Beschreibung.
(13) Dies nur zur Abwehr der Vorstellung, ein Arbeiter, der sich zur Wohnzimmerdekoration eine Aktie kauft, sei deshalb schon Kapitalist. Im folgenden wird der Einfachheit wegen davon ausgegangen, daß Kapitalisten selbst ihre Geschäfte führen. Durch die Einstellung von Managern usw. ändert sich an den Bestimmungen nichts.
(14) Das muß nicht so erscheinen. Veränderungen im Geldwert (Inflation z.B.) können diese Entwicklungen überdecken.
(15) Die Einführung der Maschinerie lohnt sich für das Einzelkapital dann, wenn ihr Preis geringer ist als der Lohn der Arbeitskraft, die durch die Maschinerie ersetzt wird.
(16) Diese Bestimmungen werden durch den bürgerlichen Staat modifiziert. Selbstverständlich ist auch das Kapital darauf angewiesen, daß das Nutzwasser nur mäßig vergiftet ist und die Arbeiter nur mäßig vergiftete Luft atmen. Hier tritt im Zweifelsfall der Staat ein, der die Erfordernisse der Produktionsweise gegen die Interessen der Einzelkapitalisten durchsetzt (etwa durch Umwelt- und Gesundheitsgesetzgebung). Diese Regelungen werden von den Einzelkapitalisten zugleich gewünscht (denn sie erhalten die allen gemeinsame Geschäftsgrundlage) als auch nach Möglichkeit umgangen (denn sie begrenzen die Möglichkeiten des Einzelnen in der Konkurrenz um Profit). Da das politische Personal gegenüber dem ökonomischen Prozeß eine gewissen Selbständigkeit hat, mag der Schein entstehen, es handele sich teilweise um eine persönliche Herrschaft der Regierenden. Der Selbständigkeit sind aber an den innergesellschaftlichen Interessen und der internationalen Konkurrenz recht enge Grenzen gesetzt.
(17) Bei Waren die mit einer Zusammensetzung gleich der gesellschaftlichen Durchschnittszusammensetzung hergestellt wurden, ist der Mehrwert gleich dem Durchschnittsprofit, der Wert also gleich dem Produktionspreis. Der Produktionspreis von Waren, die mit hoher Kapitalszusammensetzung hergestellt wurden, liegt über ihrem Wert, der Produktionspreis der Waren, die mit niedriger Zusammnesetzung produziert wurden, liegt unter ihrem Wert. Beide Abweichungen gleichen sich gesamtgesellschaftlich aus.
(18) Die Details des Geld- Kreditwesens darzustellen, ist hier nicht beabsichtigt. Deshalb hier nur ein Beispiel: A gibt B für eine am 1.6. erhaltene Ware einen Wechsel (Zahlungsversprechen). Zahlungstermin ist der 1.12.. B zahlt mit diesem Wechsel am 1.9. eine von ihm zu bezahlende Forderung von C. Der “Wert” des Wechsels wird danach beurteilt, wie lange es bis zu seiner Einlösung noch dauert – je länger, desto geringer wird sein aktueller Wert eingeschätzt. Spekuliert wird auf die Reichtumsproduktion des A – und zwar bevor dieser Reichtum produziert worden ist. Kann A nicht zahlen, so ist nicht nur sein Geschäft geplatzt, sondern alle Geschäfte, in denen sein Wechsel als Repräsentant von Zahlungskraft diente.
(19) Wenn dies nicht der Fall ist, dann muß das Kapital im gleichen Umfang Arbeiter einstellen, in dem es wächst. Auf diesem Weg droht es an die oben dargestellte Grenze der Gesamtarbeiterbevölkerung zu stoßen, also die gesamte Reservearbeiterschaft aufzubrauchen. Das erhöht tendenziell die Löhne, hemmt so die Akkumulation und macht arbeitssparenden Maschineneinsatz besonders lohnend .
(20) Der Fall der Profitrate muß nicht eintreten, wenn sich gleichzeitig die Ausbeutungsrate in ausreichendem Umfang erhöht, also der Anteil der Mehrarbeit am durchschnittlichen Arbeitstag. Wird aber der Anteil lebendiger Arbeit am Kapitaleinsatz immer geringer, dann wird es immer schwieriger, den Fall der Profitrate durch eine verstärkte Ausbeutung dieser lebendigen Arbeit umzukehren.
(21) Diese Entfaltung ist selbst ein Prozeß, während dessen das Kapital die alten Produktionmethoden nach und nach verdrängt und die Gesellschaft von Grund auf umwälzt. Herstellung einer Lohnarbeiterschaft bedeutet auch Landflucht, die Zerstörung bäuerlicher Großfamilien usw. Dieser Prozeß ist insbesondere in Ländern außerhalb der kapitalistischen Zentren nach wie vor zu beobachten und läuft unter dem Kapital in den Grundzügen notwendig ab. Diese Tendenz ist aber nicht zu verwechseln mit der häufig behaupteten, der Kapitalismus schaffe aus sich heraus eine ganz andere Gesellschaftsordnung.
(22) Das gilt auch für Alternativprojekte, die im Bestehenden alles anders machen wollen. Abgesehen davon, daß für den von der Außenwelt unabhängigen Biobauernhof eine Menge Landbesitz erforderlich wäre (kein guter Ausweg für die Arbeiterklasse), bedeutete es einen großen Rückschritt in der Produktivkraft der Arbeit, dort alles selbst herstellen zu wollen. Eine solche Kommunenproduktion als gesellschaftliches Prinzip etabliert versetzte dem Staatsapparat allerdings einen vernichtenden Stoß, denn wo kein Mehrprodukt hergestellt wird, kann auch keines für Beamtenschaft und Kriegsmaschinerie verwendet werden. Entsprechende Konzepte bringen deshalb die Herzen anarchistisch bewegter Bürgerkinder zum Jubeln, schließen aber höhere Kulturleistungen, Wissenschaft usw. weitgehend aus und haben mit Freiheit nicht viel mehr zu tun als das Leben eines Lurchs.
(23) Dieser Entschluß kann nicht aus den noch gar nicht entfalteten Zwängen des Kapitalismus erklärt werden. Das soll nicht heißen, daß die betreffenden Frühkapitalisten sich nicht subjektiv unter Zwang gesehen haben mögen. Sie hatten nach dem angeeigneten Mehrprodukt sicher einen dringenden Bedarf.

Originaltext: http://www.junge-linke.org/de/grundlagen_der_kapitalismuskritik