Michael Heinrich - Monetäre Werttheorie. Geld und Krise bei Marx

1. Der traditionelle Marxismus der Arbeiterbewegung

Jede Diskussion des Stellenwerts, den die Marxsche Ökonomiekritik für eine Analyse des gegenwärtigen Kapitalismus haben kann, stößt zunächst einmal auf eine Reihe verfestigter Vorstellungen über “Marxismus” und die “ökonomische Theorie von Marx”, die nicht nur die breitere Öffentlichkeit, sondern auch einen guten Teil der sozialwissenschaftlichen Debatten beherrschen. Dabei verdanken sich diese Vorstellungen weniger einer Auseinandersetzung mit dem Marxschen Werk als vielmehr der Wirkungsgeschichte der Marxschen Ideen in der Arbeiterbewegung.

Bereits mit den popularisierenden Spätschriften von Engels setzte in der Sozialdemokratie des späten 19. Jahrhunderts ein Prozeß ein, in dessen Verlauf sich das unabgeschlossene Unternehmen der Marxschen Kritik in eine umfassende Weltanschauung verwandelte, die ein Konglomerat aus bürgerlichem Fortschrittsdenken, simplifizierter Hegelscher Philosophie und Versatzstücken Marxscher Begriffe darstellte. Diese Weltanschauung lieferte für die Propaganda der Arbeiterparteien einfache Formeln und für die bildungshungrige aber von der (bildungs)bürgerlichen Welt weitgehend ausgeschlossene Arbeiterbewegung geistige Orientierung. Ihre Fortsetzung und weitere Verflachung erfuhr diese Weltanschauung dann im “Marxismus-Leninismus”, der in der Sowjetunion seit den 30er Jahren zur bloßen Legitimationsideologie von Partei und Staat verkam.[1]

Dieser weltanschauliche Marxismus der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung wurde seit den 20er Jahren von verschiedenen Seiten in Frage gestellt. Mit den Arbeiten von Korsch (1923) und Lukács (1923) sowie der vom Frankfurter Institut für Sozialforschung ausgehenden Kritischen Theorie nahm ein “westlicher Marxismus” (Anderson 1978) Gestalt an, der eine der Ursachen für die Krise der Arbeiterbewegung in den Dogmatisierungen des traditionellen Marxismus erblickte. Allerdings konzentrierte sich die Kritik in erster Linie auf dessen philosophische und geschichtstheoretische Grundlagen: eine auf universale “Bewegungsgesetze” reduzierte Dialektik sowie den weit verbreiteten Geschichtsdeterminismus. Weitgehend unkritisch wurde dagegen die ökonomietheoretische Seite des traditionellen Marxismus behandelt: Zwar wurde in den 20er und 30er Jahren heftig über tatsächliche oder vermeintliche Resultate der Marxschen Ökonomie debattiert (wie die “Ver­elendungs-” oder die “Zusammenbruchstheorie”), der theoretische Raum aber, in welchem der traditionelle Marxismus die “ökonomische Lehre von Marx” auffaßte, wurde auch vom “westlichen Marxismus” lange Zeit nicht hinterfragt. Und es ist gerade dieser theoretische Raum, der auch heute noch die gängigen Vorstellungen von einer “marxistischen Ökonomie” weitgehend prägt.

Konstitutiv für diesen theoretischen Raum ist die Verwandlung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie in eine politische Ökonomie, die das von der klassischen politischen Ökonomie abgesteckte Feld der Theoriebildung nicht grundsätzlich verläßt. Marx gilt seit Engels und Kautsky als der große Ökonom der Arbeiterbewegung, der die Arbeitswertlehre der Klassik übernahm, auf ihrer Grundlage die Ausbeutung der Arbeitskraft aufgezeigt und entgegen den Harmonieversprechungen der bürgerlichen Ökonomie das periodische Auftreten von immer stärkeren Wirtschaftskrisen nachgewiesen hat. Marx erscheint hier als der konsequenteste Vertreter der Klassik, ein grundsätzlicher kategorialer Unterschied zu deren Analysen ist nicht mehr auszumachen.

Ein weiteres Moment ist mit dem traditionellen Verständnis von marxistischer Ökonomie in der Regel verbunden: Die Marxsche Kapitalismuskritik wird als Kritik an “ungerechten” Verhältnissen aufgefaßt. Die Arbeitswertlehre erscheint als Legitimation des Anspruchs der Arbeiter und Arbeiterinnen auf das gesamte Produkt, so dass die “Ausbeutung”, von der Marx spricht, zu einer Verletzung von elementaren Gerechtigkeitsforderungen wird. In dieser Perspektive besteht das größte Defizit des Kapitalismus in einer falschen Verteilung, die dann entweder sozialstaatlich reformistisch oder revolutionär zu verändern ist.

Und schließlich findet sich häufig ein Begriff von “bürgerlicher Ideologie”, der diese als mehr oder weniger bewußte Verschleierung der wirklichen Verhältnisse auffaßt. Die zentrale Aufgabe einer marxistischen Ideologiekritik besteht dann in der Entlarvung: sie zeigt auf, wem diese oder jene Auffassung nützt. Zuweilen wird Ideologiekritik auch darauf reduziert, eine Auffassung aus der sozialen Position ihres Autors abzuleiten. Resultiert “bürgerliche Ideologie” aus einem bestimmten Standpunkt oder Interesse, so wird dies umgekehrt auch für den Marxismus in Anspruch genommen: er verdanke sein “richtiges” Bewußtsein dem “Standpunkt der Arbeiterklasse” oder dem Interesse an einer Überwindung des Kapitalismus.

Anhaltspunkte für die skizzierten Auffassungen findet man zwar auch im Marxschen Kapital, allerdings läßt sich fragen, ob ausgehend von den drei genannten Elementen der traditionellen Auffassung nicht wesentliche Gehalte der Kritik der politischen Ökonomie verfehlt werden. Grundsätzlich in Frage gestellt wurde dieses traditionelle Verständnis einer “ökonomischen Theorie von Marx” erst seit den 60er Jahren, als nicht zuletzt im Gefolge der studentischen Protestbewegungen und beeinflußt von den philosophischen und methodologischen Ansätzen des “westlichen Marxismus” das Kapital in einer neuen Perspektive gelesen wurde: Es wurde nicht nur nach den Resultaten der Marxschen Darstellung gefragt, jetzt wurde verstärkt die methodische Struktur der Argumentation in den Blick genommen wurde. Dabei zeigte sich recht schnell, dass zwischen der traditionellen Auffassung, die im Kapital vor allem die Darstellung einer Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus sah,[2] und dem Marxschen Anspruch einer kategorialen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise “in ihrem idealen Durchschnitt” (MEW 25: 839) eine erhebliche Differenz existierte. Dieses Ergebnis wurde in ganz unterschiedlichen theoretischen Kontexten formuliert: in Frankreich speiste sich die von Althusser (1965) und seinen Schülern geübte Kritik am “Historizismus” vor allem aus dem Einfluß des Strukturalismus, während die verschiedenen Versuche einer Rekonstruktion der “Logik” des Marxschen Kapital in der westdeutschen Diskussion (Backhaus 1969, Reichelt 1970, PEM 1973, Bader et al. 1974) stark von der Auseinandersetzung mit der Hegelschen Philosophie beeinflußt waren.

Mit der Untersuchung des kategorialen Aufbaus der Marxschen Argumentation geriet auch bald der Marxsche Anspruch in den Blick nicht einfach eine andere politische Ökonomie zu liefern (was in der traditionellen Auffassung ohne weiteres unterstellt wird), sondern eine Kritik der politischen Ökonomie: Gegenstand dieses emphatischen Begriffs von Kritik sind nicht nur einzelne Aussagen oder einzelne theoretische Ansätze, sondern die kategorialen Grundlagen, denen sich die Ökonomie als Wissenschaft verdankt. Nicht bloß die Irrtümer einzelner Ökonomen, ihre spezifischen Aussagen über Wert und Kapital sollen kritisiert werden, sondern die Art und Weise, in der Wert und Kapital überhaupt als Gegenstände ökonomischer Wissenschaft formiert werden.[3] Marx selbst hebt diesen Punkt immer wieder heraus, wenn er sich grundsätzlich auf die Theoriebildung der Klassik bezieht: “Die politische Ökonomie hat nun zwar, wenn auch unvollkommen Wert und Wertgröße analysiert und den in diesen Formen versteckten Inhalt entdeckt. Sie hat niemals auch nur die Frage gestellt, warum dieser Inhalt jene Form annimmt” (MEW 23: 95, Herv. von mir).

Es sind also nicht allein die Resultate der Klassik, die Marx kritisiert, sondern ihre Fragestellungen bzw. das Fehlen bestimmter Fragen, was anzeigt, dass ihr bestimmte Formen als derart natürlich gelten, dass sie überhaupt nicht mehr hinterfragt werden müssen.

Eine solche Gegenstandsformierung kann aber nur dann unabhängig von den jeweiligen Fähigkeiten und Einsichten der einzelnen Ökonomen sein, wenn sie sich selbst einem bestimmten objektiven Zusammenhang verdankt, der sie überhaupt plausibel macht, ihr Evidenz verleiht. Es ist dieser Zusammenhang, den Marx als “Fetischismus” bezeichnet: die “verkehrten” Kategorien erhalten ihre Plausibilität aus der Anschauung eines gesellschaftlichen Zusammenhangs, in welchem die Menschen ihre gesellschaftlichen Beziehungen über Dinge vermitteln, so dass ihnen ihre eignen Beziehungen als Beziehungen von Sachen erscheinen. Wenn Marx vom Fetischismus der Warenwelt spricht, so hat dies nichts mit der verbreiteten Rede von der Undurchschaubarkeit der modernen Welt oder mit der Sehnsucht nach einfachen Verhältnissen zu tun. Vielmehr geht es um die von der spezifischen Form des gesellschaftlichen Verkehrs selbst hervorgerufenen “objektiven Gedankenformen” (MEW 23: 90), die sich als scheinbar natürliche Kategorien zur Analyse dieses Verkehrs anbieten, so dass dann umgekehrt diese spezifisch gesellschaftlichen Verhältnisse als unabänderliche “Naturform” von Gesellschaft erscheinen. Kritik der politischen Ökonomie impliziert damit stets auch Erkenntniskritik: Kritik an Bewußtseinsformen innerhalb deren Erkenntnis gewonnen wird.[4]

Die Analyse des Fetischismus beschränkt sich allerdings nicht auf den berühmten Abschnitt über den Fetischcharakter der Ware aus dem ersten Band des Kapital, der häufig der ausschließliche Bezugspunkt entsprechender Debatten ist, sie zieht sich durch alle drei Bände des Kapital hindurch. Fetischisiert sind sämtliche bürgerlichen Produktionsverhältnisse, so dass Marx am Ende des dritten Bandes des Kapital von einer “verzauberten, verkehrten, auf den Kopf gestellten Welt” (MEW 25: 838) sprechen kann, in der sich die “Agenten” der bürgerlichen Produktionsweise (Arbeiter ebenso wie Kapitalisten) bewegen.

Damit wird auch die oben angesprochene Auffassung von Ideologie hinfällig, die Ideologie lediglich als von einem bestimmten Interesse ausgehendes falsches Bewußtsein auffaßt. Der bekannte Satz aus der Deutschen Ideologie, dass die Gedanken der Herrschenden die herrschenden Gedanken seien (MEW 3: 46), blendet den entscheidenden Punkt gerade aus: die grundlegenden “Verkehrungen” in der Auffassung der bürgerlichen Gesellschaft werden überhaupt nicht bewußt produziert, ihnen unterliegen zunächst einmal alle ihre Mitglieder. Marx stellt dies bei seiner Analyse der Lohnform besonders deutlich heraus: der Lohn als “Preis der Arbeit” (statt als Preis der Arbeitskraft) sei ein “imaginärer Ausdruck”, aber einer der aus den Produktionsverhältnissen selbst entspringt (MEW 23: 559); auf der Lohnform aber, “beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten” (MEW 23: 562, Herv. von mir).[5]

Im Rahmen dieses Kritikkonzeptes ist dann auch eine Kritik am Kapitalismus aufgrund seiner “Ungerechtigkeit” nicht mehr möglich. Vor allem die im Kapital zumeist nur noch indirekt oder in Fußnoten geführte Auseinandersetzung mit Proudhon macht deutlich, dass Marx Gerechtigkeitsvorstellungen keineswegs aus dem von der bürgerlichen Gesellschaft produzierten Verkehrungszusammenhang ausnimmt: Was als Prinzipien “ewiger Gerechtigkeit” erscheint, erhält seine Plausibilität nur unter spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. z.B. MEW 23: 99, Fn 38; 613, Fn 24 und vor allem MEW 25: 351f), einer rationalen Begründung sind Gerechtigkeitsnormen daher gar nicht zugänglich. Daher verzichtet Marx auch darauf, den Kapitalismus als “ungerecht” zu kritisieren: Die Pointe der Marxschen Analyse des Austauschs zwischen Kapital und Arbeit besteht ja gerade darin aufzuzeigen, dass die Aneignung von Mehrwert keineswegs die Verletzung der Gesetze des Äquivalententausches zur Voraussetzung hat - was die moralische Kapitalismuskritik z. B. der Linksricardianer immer schon unterstellt. Die verschiedenen Ansätze bei Marx doch noch eine irgendwie geartete moralische Kapitalismuskritik aufzufinden (etwa bei Wildt 1986, 1997), begnügen sich in der Regel mit dem Versuch, einzelne Argumentationsstränge als moralisch nachzuweisen, ohne sich jedoch mit der bei Marx angelegten grundsätzlichen Kritik an der Möglichkeit der Begründung moralischer Urteile überhaupt auseinanderzusetzen (vgl. zur Kritik an solchen Versuchen u.a. Haug 1986, Heinrich 1999: 372ff).

Dass Marx den Kapitalismus ablehnt ist unbestritten, nur begründet er diese Ablehnung nicht mit Hinweis auf irgendwelche moralischen Grundsätze, denen doch alle zustimmen müßten. Vielmehr will er mit seiner Analyse des Kapitalismus aufzeigen, dass sich die als Verwertungsprozeß organisierte Produktion zwangsläufig (also unabhängig vom Wollen des einzelnen Kapitalisten) auf Kosten der Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, entwickelt, unabhängig davon ob die Löhne hoch oder niedrig sind (vgl. etwa MEW 23: 449; 529f; 674f). Daraus schöpft Marx die Hoffnung, dass diese den Kapitalismus eines Tages abschaffen werden: nicht weil sie im Kapitalismus irgendeine normative Grundlage verletzt sehen, sondern weil sie ein Interesse an einem guten Leben haben, das sich unter der Herrschaft des Kapitals nicht realisieren läßt.

2. Wert und Geld

In der Lesart des traditionellen Marxismus wird die Marxsche Werttheorie im Grunde als bloße Arbeitsmengentheorie aufgefaßt: das Entscheidende ist hier, dass die Werte der Waren durch die bei ihrer Produktion verausgabten Arbeitsmengen bestimmt seien. Ein grundsätzlicher kategorialer Unterschied zur Arbeitswerttheorie der klassischen politischen Ökonomie kann dabei nicht ausgemacht werden, die Marxsche Arbeitswertlehre erscheint lediglich als eine Präzisierung der klassischen: so etwa wenn Marx festhält, dass nur die bei einem bestimmten Stand der Technik “gesellschaftlich notwendige Arbeits­zeit” wertbildend sei und insofern er zwischen “konkreter” (gebrauchswertschaffender) und “abstrakter” (wertbildender) Arbeit unterscheidet. Mit der Bestimmung der Wertgröße durch Arbeitszeit ist sowohl für einen Großteil der marxistischen Tradition wie auch für die herrschende Volkswirtschaftslehre der theoretische Kern der “Marxschen Arbeitswertlehre” umschrieben.

Geld spielt in dieser Auffassung de facto keine tragende Rolle. Die Marxsche Geldtheorie wird im wesentlichen auf die Untersuchung der verschiedenen Geld­funktionen reduziert. Die werttheoretische Bedeutung des Geldes, wie sie Marx im Abschnitt über die Wertform und im Kapitel über den Austauschprozeß untersucht, wird weitgehend ignoriert: vielen Autoren gilt die Wert­formanalyse lediglich als geraffte Nacherzählung der historischen Herausbildung des Geldes. Geld selbst wird in dieser Sichtweise der Marxschen Werttheorie im Grunde auch nicht anders behandelt als in Klassik und Neoklassik, nämlich als ein Mittel zur Vereinfachung des Tausches. Für die Werttheorie selbst scheint Geld aber nicht weiter von Bedeutung zu sein.[6]

Faßt man die Marxsche Werttheorie in der skizzierten Weise als nicht-monetäre Arbeitsmengentheorie des Werts auf, dann ist die von den meisten nicht-marxistischen Ökonomen vertretene Ansicht, Marx sei der letzte große Vertreter der klassischen politischen Ökonomie, keineswegs unplausibel. Viele marxistische Autoren setzen dem entgegen, dass Marx im Unterschied zur Klassik den bloß historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise erkannt habe; ist dies aber der zentrale Unterschied zwischen Marx und der Klassik, dann besteht ihre Differenz lediglich in der Interpretation der Ergebnisse der Theorie, aber gerade nicht in den kategorialen Grundlagen der Theoriebildung.

Marx gilt der herrschenden Volkswirtschaftslehre aber nicht nur deshalb als über­holt, weil er der längst überwundenen Klassik zugerechnet wird; der zentrale Einwand gegen die Marxsche Arbeitswerttheorie lautet, sie sei am “Trans­formationsproblem” gescheitert: die von Marx im dritten Band des Kapital dargestellte Umrechnung von reinen Arbeitswerten in “Produktionspreise” (d.h. Preise, die eine für alle Kapitale gleich große “Durchschnittsprofitrate” ermöglichen), sei mit fundamentalen Fehlern behaftet und in der Tat scheint jede Arbeitsmengentheorie des Werts hier vor erheblichen Problemen zu stehen.[7]

Die skizzierte Auffassung der Werttheorie als Arbeitsmengentheorie reduziert die Aufgabe der Werttheorie darauf, den Bestimmungsgrund der relativen Preise anzugeben. Insofern stellt sie genau die selbe Frage wie Klassik und Neoklassik. Würde sich die Marxsche Werttheorie tatsächlich auf eine solche Arbeitsmengentheorie reduzieren, wäre sie in der Tat im selben theoretischen Raum angesiedelt wie Klassik und Neoklassik; der Anspruch der Marxschen Kritik, nicht nur die Resultate der bürgerlichen Ökonomie zu kritisieren, sondern die kategorialen Grundlagen, auf denen diese Resultate gewonnen wurden, wäre dann nicht einzulösen.

Nun finden sich bei Marx selbst zwar eine ganze Reihe von Argumentationsansätzen, die im Sinne einer Arbeitsmengentheorie des Werts verstanden werden können (insbesondere seine Behandlung des Transformationsproblems im dritten Band des Kapital),[8] allerdings besteht der zentrale Impetus der Marxschen Werttheorie gerade in der Kritik der prämonetären Arbeitsmengentheorie der Klassik.[9] Dieser Impetus wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Marx die werttheoretischen Defizite der Klassik bestimmt. So billigt er Ricardo zwar zu, dass er konsequenter als alle seine Vorgänger Wert durch Arbeit bestimmt habe, doch zugleich wirft er ihm vor, “den Charakter dieser Arbeit untersucht Ricardo nicht. Er begreift daher nicht den Zusammenhang dieser Arbeit mit dem Geld oder, daß sie sich als Geld darstellen muß” (MEW 26.2: 161, Herv. im Original).

Den Zusammenhang “dieser Arbeit” (nämlich der abstrakten, wertbildenden Arbeit) mit dem Geld nicht verstanden zu haben, bzw. überhaupt nicht nach diesem Zusammenhang zu fragen, kann man auch dem traditionellen Marxismus vorwerfen.

Worin besteht nun das von Marx angesprochene Problem? Die einzelnen Warenproduzenten verausgaben ihre Arbeit privat und in einer bestimmten konkreten Art und Weise. Erst im Nachhinein, in der Gleichsetzung im Tausch verwandelt sich Privatarbeit in gesellschaftliche Arbeit, wird konkrete Arbeit zu abstrakter, wertbildender Arbeit. Die Frage, wie diese Gleichsetzung überhaupt möglich ist, spielt aber weder in der bürgerlichen Ökonomie, noch im traditionellen Marxismus eine zentrale Rolle, allenfalls werden ihre quantitativen Aspekte diskutiert. Für den traditionellen Marxismus scheint die Reduktion der individuell verausgabten Arbeitszeit auf “gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit” bereits für diese gleiche Geltung auszureichen, obwohl damit erst eine Standardisierung innerhalb einer einzelnen konkreten Produktionssphäre angesprochen ist, aber noch längst nicht die gleiche Geltung verschiedener konkreter Arbeiten im Tausch.

Die einzelnen Arbeiten beziehen sich im Tausch nicht unmittelbar aufeinander, aufeinander bezogen werden die Waren. Gleiche Geltung erlangen die Waren als von ihrer Gebrauchsgestalt unterschiedene “Werte”. Hier stellt sich wieder die selbe Frage, wie können die unterschiedlichen Gebrauchswerte, die sich im Tausch gegenüberstehen, als gleichartige Werte gelten? Die Antwort, die Marx im Rahmen seiner Wertformanalyse entwickelt, lautet: die besonderen Waren in ihrer unterschiedlichen Gebrauchswertgestalten, können sich nur als Werte aufeinander beziehen, wenn es etwas Drittes gibt, das als unmittelbarer Ausdruck von Wert gilt, und sich die besonderen Waren auf dieses Dritte als ihren Wertausdruck beziehen können. Nur vermittels dieses Bezugs auf ein Drittes, das unmittelbar als Wert gilt, können sich die besonderen Waren auch auf einander als Werte beziehen. Durch den bloßen Tausch zweier Produkte wird noch kein gesellschaftlich gültiges Wertverhältnis konstituiert. Dieses existiert erst dann, wenn sich die beiden Produkte auf einen gesellschaftlich gültigen Ausdruck von Wert beziehen können - auf ein “allgemeines Äquivalent”. Derjenige Gegenstand, der die Rolle des “allgemeinen Äquivalents” spielt - ist Geld.

Der Unterschied zur Wert- und Geldtheorie von Klassik und Neoklassik (wie auch der “Arbeitsmengentheorie” des traditionellen Marxismus) ist also ein doppelter. Zum einen läßt sich Wert gerade nicht als substanzialistische Eigenschaft an der einzelnen Ware festmachen,[10] Wert existiert nur in der Beziehung von Ware auf Ware und diese Beziehung ist in ihrer Allgemeinheit nur möglich durch die Beziehung von Ware auf Geld. Zum anderen ist aber auch Geld weit mehr als eine bloße Recheneinheit. Der Formunterschied von Ware und Geld ist fundamental: Waren sind Gebrauchswerte, die auch Wert besitzen. Das Ding, das als Geld fungiert, gilt hingegen als unmittelbare Verkörperung von Wert, es ist in seiner Besonderheit Wert. In der Erstauflage des Kapital hatte Marx dafür einen anschaulichen Vergleich gewählt:

“Es ist als ob neben und außer Löwen, Tigern, Hasen und allen andern wirklichen Thieren, die gruppirt die verschiednen Geschlechter, Arten, Unterarten, Familien u.s.w. des Thierreichs bilden, auch noch das Thier existirte, die individuelle Incarnation des ganzen Thierreichs.” (MEGA II.5: 37, Herv. im Original)

Müssen sich die Waren, insofern sie als Wertgegenstände gelten sollen, auf Geld beziehen, dann heißt dies für die Waren produzierende Arbeit: sie kann nur dann wertbildende “abstrakte” Arbeit sein, wenn sie sich, wie Marx gegen Ricardo hervorhebt, “in Geld darstellt”. Geld ist für Marx daher die “unmittelbare Existenzform” der abstrakten Arbeit (MEW 13: 42), anders als in Geld läßt sich abstrakte Arbeit gar nicht ausdrücken. Dies ist auch der Grund, warum die unmittelbare Arbeitszeitrechnung der verschiedenen “Stun­denzettler”, gegen die Marx sich wendet, unmöglich ist.[11]

Geld ist für Marx also weit mehr als nur das Rechen- und Zirkulationsmittel, als das es von Klassik und Neoklassik aufgefaßt wird. Es ist das notwendige Medium der Vergesellschaftung atomisierter Warenproduzenten: nur mittels der sachlichen Gestalt des Geldes können sie sich auf einander beziehen. Diesen von Marx herausgestellten Zwang der ökonomischen Verhältnisse sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, wird von Klassik und Neoklassik in der Tradition der bürgerlichen Ver­trags­theo­rien zum Resultat intentionalen und rationalen Handelns umgedeutet: die Warenbesitzer tauschen ihre Waren in bestimmten Relationen, weil diese Waren für sie bestimmte Arbeits- bzw. Nutzenmengen verkörpern, sie verwenden Geld, weil es den Tausch erleichtert (“die Transaktionskosten senkt”) etc. Da Geld somit keine eigenständige Bedeutung hat, sondern lediglich als eine technische Erleichterung des Tausches gilt, betrachten Klassik und Neoklassik monetäre Größen daher auch nur als “Schleier”, der über der “Realsphäre” von Arbeitsmengen und Kapitalgütern liegt, und von dem auf einer grundsätzlichen theoretischen Ebene abstrahiert werden kann.

Die eigenständige Bedeutung des Geldes (seine “Nicht-Neutralität” im Jargon der modernen Ökonomie) zeigt sich für Marx nicht nur darin, dass nur durch den Bezug auf Geld ein kohärenter gesellschaftlicher Zusammenhang zwischen den vielen verschiedenen Privatarbeiten hergestellt werden kann, die Vermittlung dieses Zusammenhangs durch Geld schließt auch die Möglichkeit ein, diesen Zusammenhang zu zerstören. Im Unterschied zum unmittelbaren Produktentausch, der sich in einem Akt erschöpft, zerfällt die “Metamorphose der Ware” in die beiden getrennten Akte W-G und G-W, die sich gegeneinander verselbständigen können: Verkauf ohne nachfolgenden Kauf, um das Geld als selbständige Wertgestalt festzuhalten, womit der Zusammenhang der gesellschaftlichen Reproduktion zerrissen wird. Mit Geld ist daher die “Möglichkeit der Krise” (MEW 23: 128) gegeben, in der (notwendigen) Existenz des Geldes sieht Marx die Widerlegung des “Sayschen Theorems” begründet, auf das die Klassik (wie auch die Neoklassik) ihre Behauptung stützt, eine Marktwirtschaft sei im Prinzip (sofern keine Störungen von außen kommen) krisenfrei: die postulierte Krisenfreiheit verdankt sich der Fiktion einer nicht-monetären Ökonomie (vgl. auch MEW 26.2: 501ff).

Nach Marx war es erst wieder Keynes, der bei seinem Versuch eine “monetäre Theorie der Produktion” zu entwickeln, Geld eine ähnlich zentrale Rolle zuwies und ebenfalls das Saysche Gesetz als eines der zentralen Bestandteile der von Klassik und Neoklassik attackierte. Dabei argumentierte er allerdings ohne werttheoretische Grundlage, sozusagen aus der Perspektive der “fertigen Phänomene”, die sich für Marx erst als Resultat am Ende seiner Darstellung ergeben. Nicht zuletzt deshalb war es dem Mainstream der Keynes-Interpreten recht schnell möglich Keynes‘ grundsätzliche Kritik an der Neoklassik zu entschärfen und im Rahmen der “neoklassischen Synthese” sogar in das neoklassische Paradigma zu inkorporieren (vgl. dazu den Beitrag von Hansjörg Herr in diesem Heft).

Die Marxsche Geldauffassung weist allerdings auch einen bedeutenden Defekt auf, da Marx davon ausgeht, dass Geld grundsätzlich an eine Geldware gebunden sein muss. Zwar sieht auch Marx, dass die Geldware in der Zirkulation durch Wertzeichen ersetzt werden kann, doch faßt er diese Wertzeichen als bloße Vertreter der Geldware auf. Spätestens seit dem Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods in den frühen 70er Jahren kann man jedoch nicht mehr davon sprechen, dass das kapitalistische Geldsystem in irgendeiner Weise von einer Geldware abhängt. Wird nun eingewandt, dass Marx das Geldsystem seiner Zeit (das auf einer Geldware beruhte) analysiert habe und sich dieses System im Verlauf der weiteren Entwicklung eben von der Geldware löste, dann reduziert man die Marxsche Analyse doch wieder auf die Untersuchung einer bestimmte Phase des Kapitalismus, entgegen seinem eigenen Anspruch die kapitalistische Produktionsweise “in ihrem idealen Durchschnitt” darzustellen.[12]

Allerdings ist das Marxsche Beharren auf der Existenz einer Geldware keineswegs zwingend: aus der Wertformanalyse folgt streng genommen nur dass die Warenwelt einen selbständigen Wertausdruck benötigt, dass - wie das oben zitierte Tier-Beispiel deutlich macht - die Gattung zugleich als Individuum existieren muß. Genausowenig wie aber “das Tier” als ein besonderes Individuum tatsächlich neben den konkreten Tieren existieren kann, kann auch Wert als solcher unmittelbar existieren, beide können nur durch ein besonderes Individuum bezeichnet werden. Ob dieses Individuum jedoch selbst ein Mitglied der Gattung sein muß, die es bezeichnet, oder ob etwas anderes als ein solches Zeichen dient, ist eine ganz andere Frage, die sich auf der Ebene der einfachen Zirkulation überhaupt nicht entscheiden läßt. Bei der Analyse des Kreditsystems im dritten Band des Kapital drängen sich dann allerdings Argumente auf, die dafür sprechen, dass einem entwickelten kapitalistischen System nur ein Zeichengeld adäquat sein kann.[13] Marx geht diesen Argumenten aber nicht nach, da er von der Notwendigkeit der Anbindung des Geldsystems an eine Geldware überzeugt ist. Entgegen Marx‘ eigener Überzeugung läßt sich der Zusammenhang von Ware und Geld auf der von ihm gelieferten Grundlage aber auch ohne Geldware entwickeln.[14]

Die Bedeutung des Geldes beschränkt sich im Kapital nicht auf den im Rahmen der Wertformanalyse entwickelten Zusammenhang von Wert und Geld sowie die anschließende Darstellung der Geldfunktionen, sie durchzieht die Argumentation in allen drei Bänden. Kapital als sich verwertender Wert wird von Marx über die Formel G-W-G‘ eingeführt. Zentral für die Kapitalbewegung sind nicht wie in Klassik und Neoklassik physische Kapitalgüter, sondern zunächst einmal Geldvorschüsse. Da Marx dann jedoch zunächst den “Produktionsprozeß des Kapitals” untersucht und die vermittelnden Zirkulationsakte lediglich unterstellt, konnte der Eindruck entstehen, dass er eine nicht-monetäre Akkumulationstheorie entwickelt, wo es doch wieder nur auf die “Realsphäre” der Güter ankäme.[15] Allerdings beschränkt sich die Analyse der Akkumulation nicht auf den ersten Band: im zweiten und dritten Band spielt entsprechend den jeweiligen Darstellungsebenen die monetäre Seite dann auch wieder eine entscheidende Rolle.

So hält Marx bei der Untersuchung des Gesamtreproduktionsprozesses im zweiten Band des Kapital fest, dass der Mehrwert nur realisiert werden kann, wenn die Kapitalisten sich die dafür nötige Geldmenge wechselseitig vorschießen. Es muß also ein “Schatz” bei einem Teil der Kapitalisten vorhanden sein, um den Mehrwert des anderen Teils zu realisieren. Ist dies erfolgt und der Schatz nun in der Hand anderer Kapitalisten, so sind diese in der Lage den Mehrwert der ersten Kapitalisten zu realisieren, der Schatz ist damit auch wieder in der ursprünglichen Hand. Dass Marx an dieser Stelle mit der anachronistischen Vorstellung eines “Schatzes” statt mit Kreditverhältnissen argumentiert, liegt an der Systematik seiner Darstellung: der Kredit wird erst später (nach der Kategorie des Durchschnittsprofits) entwickelt. Berücksichtigt man dies, dann wird deutlich, dass Marx im Grunde genommen gezeigt hat, dass Kreditverhältnisse zur kapitalistischen Produktion nicht als äußerliche Momente hinzukommen, sondern dass der kapitalistische Reproduktionsprozeß ohne Kredit überhaupt nicht möglich ist, woraus dann unmittelbar folgt, dass der Umfang des Kredits auch den Umfang der Reproduktion, d.h. die Akkumulation beeinflußt.[16]

Genausowenig wie auf der Ebene der einfachen Zirkulation Geld eine bloße Zutat zur Welt der Waren war, ist es der Kredit auf der Ebene der kapitalistischen Zirkulation - der monetäre Charakter der Werttheorie macht sich auch hier geltend. Die zentrale Stellung des Kreditsystems wird im dritten Band des Kapital deutlich.[17] Marx behandelt das Kreditsystem hier geradezu als Steuerungszentrum kapitalistischer Produktion (nicht im Sinne einer bewußten Steuerung, sondern einer Hierarchie der Vermittlungsebenen), wenn er betont, der Ausgleich der Profitraten, in dem sich der gesellschaftliche Charakter des Kapitals darstellt, “wird erst vermittelt und vollauf verwirklicht durch volle Entwicklung des Kredit- und Banksystems” (MEW 25: 620; vgl. auch 451).

Insofern steht die von Keynes herausgestellte “Hierarchie der Märkte” (der Zins des Kapitalmarkts restringiert die Investitionen, der Umfang der Investitionen bestimmt Güter- und Arbeitsmarkt) auch nicht im Widerspruch zur Marxschen Theorie.[18] Allerdings besteht ein wesentlicher Unterschied in den Argumentationsebenen: Keynes untersucht immer schon Wirkungszusammenhänge auf der Ebene des “Gesamtprozeßes der kapitalistischen Produktion” (so der Untertitel des dritten Kapital-Bandes), während Marx zunächst die Kategorien (Profit, Durchschnittsprofit, Zins etc.), die auf dieser Ebene relevant sind, werttheoretisch begründet.[19]

Die Marxsche Analyse des Kreditsystems macht aber noch etwas ganz anderes deutlich: mit dem Kredit ist eine neue Stufe in der Verselbständigung des Werts erreicht. In der einfachen Zirkulation stand Geld als selbständiger Ausdruck von Wert der Welt der Waren gegenüber. In der allgemeinen Formel des Kapitals G - W - G‘ bezog sich der Wert bereits nur noch auf sich selbst: aus Wert sollte mehr Wert werden. Möglich war dies aber nur durch einen die Verwertung vermittelnden Produktions- und Zirkulationsprozeß, so dass die vollständige Formel lautet:

G  - Ak, Pm ....... P ....... W‘ - G‘

(mit Ak für Arbeitskraft, Pm für Produktionsmittel und P für Produktionsprozeß). Im Kredit erscheint dieser Prozeß nur noch als G - G‘ hier scheint sich Geld (als selbständiger Ausdruck von Wert) unmittelbar auf sich selbst zu beziehen, ohne jede weitere Produktion und Zirkulation.[20] Allerdings entwickelt das Kreditsystem seinen eigenen Produktions- und Zirkulationsprozeß. Bereits als zinstragendes Kapital wurde Geld zu einer “Ware sui generis”: es erhält einen spezifischen Gebrauchswert, nämlich als Kapital fungieren und so in einem bestimmten Zeitraum einen Profit erzielen zu können; und im Hinblick auf diese Eigenschaft erhält es einen spezifischen Preis, den Zins, sowie eine spezifische Zirkulationsbewegung, einen auf einen bestimmten Zeitpunkt terminierten Rückfluß. In einem entwickelten Kredit- und Bankensystem werden diese Kreditverpflichtungen (also bloße Ansprüche auf künftige Zins- und Tilgungszahlungen) nun ihrerseits zu verkäuflichen Waren, deren Preis mit dem Verhältnis von Marktzins und vereinbartem Zins erheblichen Schwankungen unterliegt. Ähnliches gilt für Aktien, die zunächst einmal nur einen Anspruch auf einen bestimmten Anteil am Gewinn des jeweiligen Unternehmens darstellen. Auch dieser Anspruch kann verkauft werden, wobei sein Preis von der Gewinnerwartung und dem Zinsniveau bestimmt ist. Hier setzt nun ein “Produktionsprozeß” ein (der in der historischen Entwicklung immer neue “Finanzinnovationen” hervorbringt), in dem nicht nur solche Ansprüche (auf künftige Zinsen oder Profite) verkauft werden, sondern auch Ansprüche auf Ansprüche (Optionen etc.) entwickelt werden, die ihrerseits in ganz unterschiedlichen Weisen verkauft und verliehen werden können (so dass sich das Kreditsystem auch noch ganz eigene Zirkulationsprozesse schafft). Diese spezifischen “Waren”, die nichts anderes als Ansprüche auf künftige Zahlungen darstellen, bilden die Grundlage des vom industriellen Kapital zu unterscheidenden “fiktiven Kapitals”, mit dem Marx diese Verhältnisse begrifflich zu erfassen sucht.[21] “Spekulation”, d.h. das Spiel mit Erwartungen, ist hier kein Abweg, keine Degeneration, sondern der normale, ja der überhaupt einzig mögliche Umgang mit fiktivem Kapital. Ebenso normal sind auch die Hausse und der nachfolgende Crash.

3. Gleichgewicht und Krise

Die meisten modernen ökonomischen Theorien egal ob sie neoklassischer oder keynesianischer Provenienz sind, gehen von Gleichgewichtsmodellen aus: im Gleichgewicht (so die übliche Definition) werden die Pläne aller Akteure erfüllt, niemand hat daher eine Veranlassung sein Verhalten zu ändern. Ohne Störung “von außen” sollte das gleichgewichtige System stabil sein. Zwar sieht auch die moderne Ökonomie, dass kapitalistische Systeme alles andere als gleichgewichtig sind. Gleichgewichtsmodelle sollen jedoch als Referenzgröße für das Verständnis der wirklichen Entwicklung dienen. In der Regel kommt die Theoriebildung dann aber gar nicht bis zur Untersuchung von dynamischen Prozessen, sondern bleibt allenfalls bei komparativer Statik stehen: es werden lediglich zwei verschiedene Gleichgewichtszustände miteinander verglichen, über den Weg von einem Gleichgewichtszustand zum anderen kann gleichwohl nichts ausgesagt werden, da dieser über ungleichgewichtige Konstellationen verläuft, die sich der Theoriebildung entziehen.[22] Auch die gängigen “Wachstumstheorien” sind nicht wirklich dynamisch, unterstellen sie doch ein “gleichgewichtiges” Wachstum, bei dem die zukünftige Entwicklung bereits feststeht, sofern sie nicht “von außen” gestört wird.

Theoretisch relevante Versuche Kategorien zur Untersuchung von dynamischen Prozessen zu entwickeln, wurden von Schumpeter und Keynes unternommen. Allerdings blieb Schumpeters Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung für die ökonomische Theoriebildung weitgehend irrelevant (auch wenn die Rede vom innovativen “Schumpeterschen Unternehmer” inzwischen weit verbreitet ist), und das Keynessche Konzept einer vom bloßen Risiko (dem man mit der Wahrscheinlichkeitstheorie beikommen kann) unterschiedenen “Unsicherheit” (die sich einer derartigen Berechnung entzieht) wurde in den dominierenden Keynes-Interpretationen unterschlagen, es spielte erst wieder in einigen “postkeynesianischen” Ansätzen eine Rolle (vgl. Herr in diesem Heft).

Bei Marx ist die Dynamik bereits in den Kapitalbegriff eingelassen: Kapital als sich verwertender Wert kennt kein immanentes Maß, Kapitalverwertung ist ein ebenso maßloser und wie endloser Prozeß (MEW 23: 166f), der sowohl auf eine beständige Erhöhung des Grades der Verwertung (Steigerung der Mehrwert- bzw. Profitrate) als auch auf die Größe des zu verwertenden Kapitals abzielt. Auf dieser Grundlage bestimmt Marx dann verschiedene, der kapitalistischen Produktionsweise immanente Entwicklungstendenzen, die allerdings nicht ruhig und gleichmäßig, sondern krisenhaft verlaufen.

Inwieweit ihm dies in konsistenter Weise gelingt, wird noch zu diskutieren sein, hier kommt es zunächst einmal auf den inhärent dynamischen Charakter der Theorie an, für die Gleichgewichtsbetrachtungen, wenn überhaupt, eine nur untergeordnete Rolle spielen.[23] An diesem Charakter ändert auch die unter Berücksichtigung des zinstragenden Kapitals eingeführte Trennung des Profits in Zins und Unternehmergewinn nichts. In modernen ökonomischen Theorien wird diese Trennung gewissermaßen zur Entdynamisierung benutzt. Es wird nicht nur davon ausgegangen, dass Unternehmer als Kapitalprofit mindestens den Zins erzielen müssen, es wird weiter unterstellt, dass der Profit “im Gleichgewicht” auch nicht höher ist als der Zins. Wird nämlich ein über dem Zins liegender Unternehmergewinn realisiert (der über den normalen “Unternehmerlohn” sowie eine Risikoprämie hinausgeht), so wird dieser Gewinn als Ungleichgewichtsphänomen aufgefaßt: so lange der Unternehmergewinn existiert, haben die Unternehmer eine Veranlassung, ihre Produktion über weitere Kredite auszudehnen bis über sinkende Preise oder gestiegene Kosten der Gewinn schließlich verschwunden ist. “Im Gleichgewicht” sind dann Profit und Zins gleich. Damit erhält die Kapitalverwertung doch wieder ein Maß, nämlich den Zins (der je nach Theorie Ausdruck der Zeitpräferenz oder der Liquiditätspräferenz der Vermögensbesitzer ist), so dass die kapitalistische Produktion zu einem Gleichgewicht finden kann.

Die grundlegende vom Kapital ausgehende Dynamik, faßt Marx als “Produktion relativen Mehrwerts”: durch Steigerung der Produktivkraft wird der Wert der einzelnen Produkte und als Konsequenz der Wert der Arbeitskraft gesenkt. Damit steigt - auch bei gleichbleibender Länge des Arbeitstages - die Mehrwertrate und die Mehrwertmasse pro Arbeitskraft. Die wichtigste Methode zur Produktion des relativen Mehrwerts ist der Einsatz von Maschinerie. Mit ihrer Hilfe kann dieselbe Produktenmenge mit einer geringeren Anzahl von Arbeitskräften produziert werden. Der Einsatz von immer mehr und immer teurerer Maschinerie hat für das Kapital eine doppelte Konsequenz: einerseits steigt die Mehrwertrate m/v, andererseits ist zur Produktion derselben Produktenmenge jetzt mehr konstantes und weniger variables Kapital nötig, d.h. die Wertzusammensetzung des Kapitals (das Verhältnis c/v) steigt ebenfalls.

Mit diesen bereits im ersten Band des Kapital abgeleiteten Zusammenhängen versucht Marx im dritten Band sein umstrittenes “Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate” zu begründen. Häufig wird dieses “Gesetz” als unverzichtbare Grundlage der Marxschen Krisentheorie aufgefaßt, was die Vehemenz erklärt, mit der über dessen Gültigkeit gestritten wurde. Im folgenden will ich einerseits zeigen, dass die Kritik an diesem Gesetz berechtigt ist, andererseits soll aber auch deutlich werden, dass die Marxsche Krisentheorie in ihrem Kerngehalt von diesem Gesetz nicht abhängt.

Mit dem “Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate” zielte Marx weder auf eine Verallgemeinerung empirischer Befunde, noch auf eine bloße Plausibilitätsüberlegung, vielmehr beanspruchte er dieses Gesetz “aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise als eine selbstverständliche Notwendigkeit bewiesen” zu haben (MEW 25: 223; vgl. auch 231).[24] Damit sind für seine Begründung aber auch entsprechend hohe Maßstäbe gesetzt.[25]

Marx entwickelt seine Argumentation in zwei Schritten. Zunächst stellt er das “Gesetz als solches” dar (13. Kapitel, 3. Band), danach diskutiert er “entgegenwirkende Ursachen” (14. Kapitel, 3. Band), die den Profitratenfall abschwächen und zuweilen auch zu einem Anstieg der Profitrate führen, die aber nicht verhindern können, dass sich das Gesetz langfristig durchsetzt. Die folgende Kritik richtet sich vor allem auf den ersten Teil, es soll gezeigt werden, dass sich bereits “das Gesetz als solches” nicht halten läßt.

Marx betrachtet zunächst den Fall einer steigenden Wertzusammensetzung des Kapitals bei gleichbleibender Mehrwertrate. Diese Konstellation führt in der Tat mit Notwendigkeit zu einem Fall der Profitrate (MEW 25: 221f).[26] Allerdings behauptet Marx gleich anschließend, dass dieser Fall der Profitrate auch bei steigender Mehrwertrate eintreten würde (MEW 25: 223).[27] Eine Begründung folgt jedoch nicht, was höchst problematisch ist: die Steigerung der Wertzusammensetzung wirkt auf eine Senkung der Profitrate hin, die Steigerung der Mehrwertrate auf eine Erhöhung. Die Bewegung der Profitrate hängt demnach davon ab, welcher Effekt stärker ist. Wird behauptet, dass die Profitrate fällt, dann genügt es nicht zu zeigen, dass die Wertzusammensetzung steigt (oder dass die einzelne Arbeitskraft als Folge der Produktivkraft­erhöhung immer mehr Arbeitsmittel in Bewegung setzt), es muß gezeigt werden, dass die Wertzusammensetzung c/v auf Dauer schneller steigt, als die Mehrwertrate m/v.[28]

Eine Produktivkraftsteigerung, die eine bestimmte Steigerung der Mehrwert­rate zur Folge hat, kann in einem Fall durch viel, in einem anderen Fall durch wenig zusätzliches konstantes Kapital erreicht worden sein. Eine allgemeine Aussage ist nicht möglich. Wie dann aber eine allgemeine (“aus dem Wesen der kapitalistischen Produktionsweise” und nicht aus besonderen Umständen entspringende) Begründung dafür aussehen soll, dass die Wertzusammensetzung nicht nur steigt, sondern auf Dauer notwendigerweise schneller wächst als die Mehrwertrate, ist nicht zu sehen.

Bei Marx findet sich allerdings ein anderes Argument, das er anscheinend für ausreichend hält, um den Profitratenfall zu begründen. Der Kern dieses Argument wird auch schon im ersten Band entwickelt (MEW 23: 322f), im dritten Band findet es sich am deutlichsten im 15. Kapitel (MEW 25: 257f).[29] Die Mehrwertmasse, die von einer bestimmten Zahl von Arbeitskräften hervorgebracht wird, ist gleich dem Produkt aus dieser Zahl und dem von der einzelnen Arbeitskraft gelieferten Mehrwert. Nimmt die Zahl der Arbeitskräfte ab, dann kann dies zunächst durch eine Erhöhung der Mehrwertrate (also der Steigerung der von der einzelnen Arbeitskraft gelieferten Mehrwertmasse) kompensiert werden. Allerdings findet diese Kompensation irgendwann eine Grenze: Leisten 24 Arbeiter jeweils 2 Stunden Mehrarbeit pro Tag, so ergibt dies 48 Stunden Mehrarbeit. Werden statt der 24 Arbeiter nur noch 2 beschäftigt, dann können diese beiden niemals 48 Stunden Mehrarbeit liefern, ganz egal wie stark die Mehrwertrate steigt. Marx folgert daraus, dass die Steigerung der Mehrwertrate “den Fall der Profitrate wohl hemmen, aber nicht aufheben” könne (MEW 25: 258).

Damit das angegebene Beispiel aber einen Profitratenfall belegt, muß das Kapital, das die 2 Arbeiter beschäftigt, genauso groß sein, wie das Kapital, das früher die 24 Arbeiter beschäftigte, denn erst dann folgt aus der Abnahme der Mehrwertmasse eine Abnahme der Profitrate. Hätte auch das Kapital abgenommen, müßte geklärt werden, was stärker abgenommen hat, das Kapital oder die Mehrwertmasse. Die Annahme, dass das Kapital gleich geblieben sei, hält Marx offensichtlich für unproblematisch, was aber nicht zutrifft. Das vorgeschossene Gesamtkapital setzt sich aus konstantem Kapital c und variablem Kapital v zusammen, v ergibt sich als Produkt aus der Zahl der Arbeitskräfte mit dem Wert der Arbeitskraft. Schrumpft die Zahl der Arbeiter von 24 auf 2, so verringert sich bei gleichbleibendem Wert der Arbeitskraft das variable Kapital bereits auf ein Zwölftel des alten Werts. Vom Wert der Arbeitskraft müssen wir außerdem annehmen, dass er stark abgenommen hat, soll doch inzwischen die Produktivkraft der Arbeit gestiegen sein (und zwar erheblich, da ja auch die Zahl der benötigten Arbeitskräfte erheblich gesunken ist). Das neue variable Kapital wird also in jedem Fall weniger als ein Zwölftel des alten variablen Kapitals ausmachen. Damit das Gesamtkapital gleich bleibt, muß das konstante Kapital nicht nur überhaupt gewachsen sein, es muß so stark gewachsen sein, dass es das eingesparte variable Kapital (also mehr als 11/12 des ursprünglichen v) ersetzen kann - und hier liegt das Problem. Es reicht nicht aus, nur das Wachstum des konstanten Kapitals zu begründen,[30] es müßte gezeigt werden, dass der Wert des konstanten Kapitals in einer bestimmten Proportion angewachsen ist.

Auf ähnlich problematischen Unterstellungen beruhen auch andere scheinbar schlagende Beispiele, die in der Diskussion über das Marxsche “Gesetz” herumgeistern. Die Situation ist immer wieder ähnlich: von zwei Größen kann man zwar die Bewegungsrichtung plausibel machen, um den Profitratenfall nachzuweisen, müßte man aber eine Aussage über das quantitative Verhältnis dieser Bewegungen machen können (ob die Wertzusammensetzung schneller steigt als die Mehrwertrate, ob das konstante Kapital stärker zunimmt als das variable Kapital abnimmt etc.) und dies ist auf der von Marx angestrebten allgemeinen Ebene der Argumentation nicht möglich.[31] Das heißt natürlich nicht, dass die Profitrate nicht auch fallen könnte, nur läßt sich ein langfristig gültiges Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate nicht begründen.

Aus der Perspektive einer Arbeitsmengentheorie des Werts, die glaubt, Wert rein von der Produktion her bestimmen zu können, mag dieses Gesetz ein herber Verlust sein. Die für eine monetäre Werttheorie interessanten Ansätze zur Krisentheorie finden sich aber gerade in den Überlegungen von Marx, die nicht von diesem “Gesetz” abhängig sind. Eine einheitliche Krisentheorie hat Marx nicht entwickelt. Seine krisentheoretischen Überlegungen sind nicht nur ein Torso geblieben, es finden sich ganz verschiedene Ansätze zur Begründung von Krisentendenzen.[32] Die allgemeinste und zugleich den Anforderungen einer monetären Werttheorie (die immer schon Produktion und Zirkulation umfaßt) am ehesten entsprechende Begründung einer der kapitalistischen Produktionsweise immanenten Krisentendenz skizziert Marx sehr gedrängt zu Beginn des 15. Kapitels im 3. Band des Kapital. Dort hält er fest, dass die Bedingungen der “Exploitation” und der “Realisation” des Mehrwerts nicht nur zeitlich und räumlich auseinander fallen, vor allem unterliegen sie unterschiedlichen Determinanten:

“Die einen sind nur be­schränkt durch die Pro­duktivkraft der Gesellschaft, die andren durch die Proportionalität der verschiednen Produktionszweige und durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Die letztre ist aber bestimmt weder durch die absolute Produktionskraft noch durch die absolute Konsumtions­kraft; sondern durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributions­ver­hält­nisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder minder engen Grenzen veränderliches Minimum reduziert. Sie ist ferner beschränkt durch den Akkumulationstrieb, den Trieb nach Vergrößerung des Kapitals und nach Produktion von Mehrwert auf er­weiterter Stufenleiter. Dies ist Gesetz für die kapitalistische Produktion, gegeben durch die beständigen Revolutionen in den Produktionsmethoden selbst, die damit beständig verknüpfte Entwertung von vorhandnem Kapital, den allgemeinen Konkurrenzkampf und die Notwendigkeit, die Produktion zu verbessern und ihre Stufenleiter auszudehnen. (...) Es ist auf dieser widerspruchsvollen Basis, durchaus kein Widerspruch, daß Übermaß von Kapital verbunden ist mit wachsendem Übermaß von Bevölkerung” (MEW 25: 254f)

Ausbeutung und Produktion des Mehrwerts kennt nicht nur keine innere Grenze, die Konkurrenz zwingt den einzelnen Kapitalisten die beständige Steigerung der Produktivkraft auf, die häufig nur durch eine Ausdehnung der Produktion zu erreichen ist. Dieser Tendenz zur beständigen Ausdehnung der Produktion und der Produktionsmöglichkeiten stellt Marx die kapitalistisch begrenzte “Kon­sumtionskraft der Gesellschaft” gegenüber, die nur eine begrenzte Realisation des Mehrwerts erlaubt. Allerdings formuliert er hier keine schlichte Unterkonsumtionstheorie[33], er zerlegt vielmehr diese begrenzte Konsumtionskraft in ihre zwei Hauptbestandteile: nämlich in die durch den Lohn begrenzte Konsumtion der “Masse der Gesellschaft” und die “durch den Akkumulationstrieb” begrenzte Konsumtion des Kapitals. Klassische Unterkonsumtionstheorien stellen in ihrer Krisenbegründung auf zu geringe Löhne und eine daraus resultierende “Nachfragelücke” ab. Daß die Löhne geringer sind als der Wert der produzierten Produkte, ist aber Voraussetzung der Existenz von Mehrwert und Profit; die von den Unterkonsumtionstheorien festgestellte “Nachfragelücke” existiert immer. Ob sie geschlossen wird, hängt von der - durch den “Akkumulationstrieb” begrenzten - Investitionsnachfrage der Kapitalisten ab.[34] Worin diese Grenzen des Akkumulationstriebes bestehen, führt Marx hier nicht weiter aus, allerdings lassen sich die Argumente unschwer zusammentragen. Vor allem zwei Sachverhalte sind relevant.

Zum einen ist es der über die Konkurrenz vermittelte Zwang zur Produktivkraft­entwicklung, die sich aber ungleichmäßig und stoßweise durchsetzt: sie kann insbesondere zur beschleunigten Erneuerung und Ausdehnung des fixen Kapitals führen, so dass die erwähnte Nachfragelücke eventuell nicht nur geschlossen wird, sondern eine Überschußnachfrage entsteht, die weitere Investitionsschübe in Gang gesetzt. Wurde dagegen das fixe Kapital gerade erneuert, so sinkt die Nachfrage nach Fixkapital ab, so dass in verschiedenen Bereichen Überkapazitäten vorhanden sind, welche die Kapitalverwertung belasten (kurz angedeutet werden diese Zusammenhänge in MEW 24: 185f).

Der zweite Punkt bezieht sich auf das Verhältnis von erwartetem Profit und Zins. Bei der Analyse des Kredits wird deutlich, dass der einzelne Kapitalist immer die Wahl hat, ob er seine vergangenen Profite (wie auch die zurückfließenden Wertbestandteile des fixen Kapitals) als industrielles Kapital oder aber als fiktives Kapital akkumuliert. Bei niedrigen Zinsen und der Erwartung hoher künftiger Profite wird die Akkumulation in industrielles Kapital außerdem noch durch die Inanspruchnahme von Krediten gesteigert werden, so dass die erwähnte “Nachfragelücke” nicht nur geschlossen wird, sondern eine Überschußnachfrage entstehen kann. Umgekehrt führen hohe Zinsen und niedrige Profiterwartungen zu verstärkter Akkumulation in fiktives Kapital, die dann auch noch weitere Spekulation anheizt, während im Bereich der industriellen Produktion die “Nachfragelücke” real wird und sich aufgrund weiterhin schlechter Profiterwartungen noch verstärken kann. Was auf der Ebene der einfachen Zirkulation als allgemeine Möglichkeit der Krise erschien, die Unterbrechung von W-G-W um das Geld festzuhalten, nimmt bei Betrachtung des kapitalistischen Gesamtprozeßes, der nicht allein durch Geld, sondern durch das Kreditsystem vermittelt ist, konkrete Gestalt an: Kapitalistisch produzierte Ware (Warenkapital) wird verkauft, nicht um mit dem erhaltenen Geldkapital erneut die Elemente des produktiven Kapitals, Produktionsmittel und Arbeitskräfte, zu kaufen, sondern um es in eine der Formen des fiktiven Kapitals zu investieren. Auf der Seite des industriellen Kapitals verbleiben damit unverkaufte Waren und Überkapazitäten, auf der Seite des fiktiven Kapitals kann sich eine spekulative Hausse entwickeln mit nachfolgendem Crash.

Das spezifisch kapitalistische Verhältnis von Produktion und Zirkulation, von Profit und Zins, industriellem Kapital und fiktivem Kapital bringt widersprüchliche Tendenzen hervor, für die keine einfachen und automatischen Ausgleichs­­prozesse existieren. Keynes stellte in diesem Zusammenhang die Bedeutung von unkalkulierbarer, nicht in ein berechenbares Risiko auflösbarer Unsicherheit heraus: Der Zins sei nicht einfach Resultat des Wechselspiels von Sparen und Investieren, das automatisch zu einem Gleichgewicht führe, wie Klassik und Neoklassik unterstellen, sondern Ausdruck der Liquiditätspräferenz von Akteuren, die unter Unsicherheit handeln: mit der Verfügung über Geld wappnen sie sich gegen Unsicherheit (Vorsichtskasse) oder sie halten Geld aus spekulativen Gründen, versuchen also Vorteile aus der Unsicherheit zu erlangen (Spekulationskasse).

Das von Keynes geltend gemachte Argument der Unsicherheit ist zwar völlig richtig, doch bleibt es im Dunkeln, woher diese Unsicherheit stammt. Seine auf die Zukunft gemünzte Bemerkung “we simply do not know” ist für alle historischen Zeiten richtig, doch unter kapitalistischen Verhältnissen hat sie eine ganz andere Relevanz als in jeder anderen Produktionsweise. Es ist nicht mehr wie in früheren Zeiten vor allem das Wetter oder die Laune der Natur, welche die künftige Reproduktion unsicher macht, es ist gerade die von Marx herausgestellte spezifische Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise selbst, welche die Unsicherheit hervorbringt: die Logik der Kapitalverwertung, die Produktion relativen Mehrwerts führt zur beständigen Steigerung der Produktivkräfte, zu immer neuen Umwälzungen der technischen und sozialen Bedingungen von Produktion und Reproduktion, zur Verschiebung von Nachfrageströmen, zum Verschwinden alter und zur Entstehung neuer Branchen, zur Entwertung vorhandener Kapitalien und zur Entstehung neuer Kapitalien, deren tatsächliche Verwertung aber noch lange nicht klar ist. Bevor diese Entwicklungen an irgendeinem “Gleichgewichtspunkt” zur Ruhe gekommen sind, finden bereits wieder neue Umwälzungen statt, welche die gesamte Szenerie verändern.

Da für die in diesem dynamischen Prozeß aufgebauten Widersprüche und Ungleichgewichte keine automatischen Anpassungsprozesse existieren, können sie nur momentan in einer Krise aufgelöst werden. Die gewaltsame Herstellung der Einheit von Momenten, die zwar zusammen gehören, aber gegen einander verselbständigte Entwicklungen durchlaufen (wie oben für das Verhältnis von Produktion und Konsumtion skizziert) hält Marx durchgehend als die allgemeinste Bestimmung der Krise fest.[35] Dieser Prozeß ist nur unter großen materiellen und sozialen Kosten möglich: Kapitalien, sowohl im industriellen Bereich wie an den Finanzmärkten angelegte, werden vernichtet, Arbeitskräfte werden arbeitslos oder müssen Einkommensverluste hinnehmen.

Die zerstörerische Seite der Krise machte die Vorstellung plausibel, die Marxsche Krisentheorie laufe auf eine “Zusammenbruchstheorie” hinaus, eine Vorstellung, die in der marxistischen Arbeiterbewegung zwar nicht unumstritten, aber quer durch alle Fraktionen recht populär war: so politisch unterschiedlich orientierte Persönlichkeiten wie Heinrich Cunow, Rosa Luxemburg oder Henryk Grossmann gingen ganz selbstverständlich von einer “Marxschen Zusammenbruchstheorie” aus. Im Marxschen Kapital ist aber keine Zusammenbruchstheorie auszumachen. Zwar ist in einer bekannte Stelle im 3. Band von den “Schranken” der kapitalistischen Produktion die Rede (MEW 25: 260), doch sind damit keine zeitlichen Schranken gemeint, kein Schlußpunkt kapitalistischer Entwicklung, sondern die grundsätzliche Bornierung, die diese Entwicklung begleitet: “Das Mittel - unbedingte Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte - gerät in fortwährenden Konflikt mit dem beschränkten Zweck, der Verwertung des vorhandnen Kapitals” (ebd.).[36]

Entgegen der Vorstellung einer Zu­sam­men­bruchs­krise ist festzuhalten, dass Krisen Lösungen, wenn auch gewaltsame, von Wider­sprü­chen sind: Die von den Krisen angerichteten Zerstörungen sind für die weitere Entwicklung des kapitalistischen Systems gerade produktiv. Allerdings re­du­ziert sich Krise bei Marx nicht auf die Beseitigung von Ungleichgewichten. Die Marxsche Konzeption einer krisenhaften kapitalistischen Dynamik (die, was Marx noch nicht explizit unterschieden hat, sowohl “kleine” zyklische als auch “große” strukturell-überzyklische Krisen umfaßt) läßt sich eher als implizite Kritik der in der Volkswirtschaftslehre verbreiteten Dichotomie von Gleichgewicht und Ungleichgewicht interpretieren. Resultat der Krise ist nicht ein neue stabiles Gleichgewicht, sondern eine Konstellation ökonomischer Kohärenz, deren Merkmale gerade nicht im vorhinein zu bestimmen sind. Diese kohärente Konstellation liefert die Rahmenbedingungen für eine neue Akkumulationsbewegung, in deren Verlauf wiederum zusammengehörige Momente auseinanderstreben, sich verselbständigen und damit die kohärente Konstellation untergraben, bis schließlich eine weitere Krise unausweichlich ist.

Die von Marx angestrebte Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise “in ihrem idealen Durchschnitt” (MEW 25: 839) umfaßt zwar die dieser Produktionsweise immanenten Krisentendenzen, aber kein allgemeines Krisenmodell, in das nur noch einige Parameter einzutragen wären. Krisenprozesse spielen sich in einer historischen Zeit unter nicht wiederholbaren Umständen ab, sie tragen daher stets eine historische Signatur. Dies ist nur ein anderer Ausdruck, von dem weiter oben herausgestellten Sachverhalt, dass die kapitalistische Dynamik eine nicht kalkulierbare Unsicherheit, eine unvorhersehbare ökonomische Zukunft produziert.

Allerdings verläuft die Entwicklung des Kapitalismus auch nicht in einem zufälligen Hin und Her. Vergleicht man die kapitalistischen Globalisierungsprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit dem Kapitalismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass Vieles von dem, was Marx zum “idealen Durchschnitt” der kapitalistischen Produktionsweise rechnete, erst viel später praktische Wahrheit erlangte: so ist die Produktion relativen Mehrwerts davon abhängig, dass die von den Arbeitskräften konsumierten Lebens- und Subsistenzmittel kapitalistisch produziert werden, was für die entwickelten kapitalistischen Länder auf einer umfassenden Ebene erst mit dem Fordismus des 20. Jahrhundert durchgesetzt wurde. Dass das Kreditsystem einerseits steuernd für die kapitalistische Produktion wirkt, andererseits aber blockierend, indem es durch immer neue Instrumente den Widerspruch zwischen industriellem und fiktivem Kapital steigert, wurde auf großer Stufenleiter mit der Internationalisierung des Finanzsystems in den 70er und 80er Jahren deutlich. Und schließlich war es für die Marxsche Analyse der “allgemeinen Natur des Kapitals” nur von untergeordneter Bedeutung, dass der Kapitalismus in einzelnen Nationalstaaten existierte, der Weltmarkt galt ihm als “die Basis und die Lebensatmosphäre der kapitalistischen Produktionsweise” (MEW 25: 120) - auch dies ist mit den Globalisierungsprozessen der 90er Jahre in einer ganz neuen Weise praktisch wahr geworden. Wenn auch der traditionelle, weltanschauliche Marxismus der Arbeiterbewegung, wie er zu Beginn dieses Artikels skizziert wurde, weitgehend erledigt ist, so gilt dies nicht für Marx‘ Projekt einer Kritik der politischen Ökonomie: Dem Niveau dieser Ökonomiekritik scheint der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts jedenfalls eher angemessen zu sein als der des 19. Jahrhunderts.

Literatur:


Fußnoten:

[1]  Die Verflachung und Dogmatisierung des Marxismus in der sozialdemokratischen und kommunistischen Arbeiterbewegung wurde schon häufiger untersucht, vgl. z.B. Fetscher (1967), Negt (1969), Mehringer/Mergner (1973), Fleischer (1993).
[2] In den bis in die 70er Jahre hinein sehr einflußreichen Darstellungen der Marxschen Ökonomie von Sweezy (1942) und Mandel (1962) kommt diese traditionelle Auffassung besonders deutlich zum Ausdruck. Ihre Wurzeln reichen bis zu Kautskys populärer Einführung in den ersten Band des Kapital (Kautsky 1887) und Engels Nachtrag zum dritten Band des Kapital, wo er Marx‘ Untersuchung der einfachen Zirkulation von Ware und Geld als abstrakte Darstellung einer vorkapitalistischen “einfachen Warenproduktion” auffaßt.
[3] Dass sich die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie einem neuen Gegenstandsverständnis verdankt, wurde insbesondere von Brentel (1989) im Anschluß an die Arbeiten von Backhaus (gesammelt in Backhaus 1997) herausgestellt.
[4] Auch dieser Zusammenhang wurde erst in den 70er Jahren auf breiterer Ebene im Anschluß an die Arbeiten von Sohn-Rethel (1970, 1971) und Müller (1977) diskutiert.
[5] Genausowenig wie sich Verkehrungen auf die interessierte Manipulation der Herrschenden reduzieren, läßt sich umgekehrt aus der Perspektive des Proletariats eine besonders privilegierte Erkenntnismöglichkeit ableiten. Dies wird aber unterstellt, wenn - wie im Marxismus-Leninismus - behauptet wird, Marx könne den Kapitalismus nur deshalb adäquat analysieren, weil er auf dem “Standpunkt des Proletariats” stehe. Vor dem Hintergrund der von Marx betonten Mystifikationen scheint auch die von Ganßmann vertretene Position, Marx knüpfe mit seiner Werttheorie “an die Erfahrungen und Interessen der Lohnarbeiter” an, er analysiere seinen Gegenstand “in einer theoretisch rekonstruierten (und damit rationalisierten) Teilnehmerperspektive der Lohnabhängigen” (Ganßmann 1996: 88f) wenig plausibel.
[6] Sweezy (1942) und Meek (1956) ignorieren in ihren einflußreichen Arbeiten die Wertform­analyse vollständig, Mandel (1962) faßt sie rein historisch auf.
[7] Produktionspreise lassen sich auch ohne Kenntnis von Wertgrößen bestimmen. Dies hat zu dem bekannten Vorwurf geführt, die Arbeitswerttheorie sei “redundant”, der nicht nur von Marx-Kritikern sondern im Rahmen des “analytischen Marxismus” auch von Marxisten erhoben wurde (z.B. Steedman 1977). Die seit Anfang der 80er Jahre vor allem im angelsächsischen Raum diskutierte “New Solution” des Transformationsproblems, welche die “Transformation” auf das Nettoprodukt einschränkt und damit eine Reihe von Schwierigkeiten vermeidet, verbleibt immer noch im Rahmen einer Arbeitsmengentheorie des Werts, woran auch der von ihr betonte “monetary expression of labor time” nichts ändert, dient er doch lediglich als eine Art Proportionalitätsfaktor zwischen verausgabter Arbeitszeit und Geldmenge. Vgl. zur neueren werttheoretischen Diskussion aus dieser Perspektive Foley (2000), zu den Verkürzungen der rein quantitativen Debatte um das Transformationsproblem siehe Ganßmann (1983), Heinrich (1988).
[8] Dass die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie eine ganze Reihe von Ambivalenzen aufweist, insofern sie zwar eine wissenschaftliche Revolution darstellt, die auf einem Bruch mit dem theoretischen Feld der klassischen (und neoklassischen) Ökonomie beruht, andererseits aber an vielen Stellen doch noch Elementen dieses Feldes verhaftet bleibt, habe ich in Heinrich (1999) aufzuzeigen versucht.
[9] Dass die Marxsche Werttheorie im Unterschied zur traditionell “marxistischen” Werttheorie zugleich Geldtheorie ist und auf eine Kritik prämonetärer Werttheorien abzielt, wurde zuerst von Hans-Georg Backhaus in den 70er Jahren herausgestellt (vgl. Backhaus 1997), vgl. zum kritischen Gehalt der Marxschen Werttheorie auch Behrens (1993) und Rakowitz (2000). - Rubin (1924) war einer der wenigen älteren Autoren, der die Marxsche Werttheorie nicht auf eine Arbeitsmengentheorie reduzierte. Allerdings wurde sein Buch erst in den 70er Jahren einflußreich.
[10] Zwar spricht Marx von abstrakter Arbeit als “Wertsubstanz”, doch zeigt die damit einhergehende Metaphorik, dass es sich um eine ganz eigentümliche Substanz handelt: die Wertgegenständlichkeit bezeichnet Marx im Kapital als “gespenstige Gegenständlichkeit” (MEW 23: 52) und im Überarbeitungsmanuskript für die zweite Auflage nennt er sie sogar “eine rein phantastische Gegenständlichkeit” (MEGA II.6: 32). In diesem Manuskript stellt Marx auch deutlicher als im Kapital heraus, dass den Arbeitsprodukten Wertgegenständlichkeit erst innerhalb ihrer Gleichsetzung im Tausch zukommt: “Ein Arbeitsprodukt, für sich isolirt betrachtet, ist also nicht Werth, so wenig wie es Waare ist. Es wird nur Werth, in seiner Einheit mit andrem Arbeisprodukt, oder in dem Verhältniß, worin die verschiednen Arbeitsprodukte, als Krystalle derselben Einheit, der menschlichen Arbeit, einander gleichgesetzt sind” (MEGA II.6: 31). Dass die Produkte erst im Tausch zu Waren werden und ihre Wertgegenständlichkeit erhalten, schließt natürlich nicht aus, dass ihr Wertcharakter bereits bei ihrer Produktion antizipiert wird und die Produktionsentscheidungen beeinflußt: nur ist die Antizipation des Werts nicht mit dem Wert selbst zu verwechseln.
[11] Der skizzierten monetären Werttheorie wird gerne der Vorwurf gemacht, sie löse Wert in ein Zirkulationsphänomen auf, und dabei entstehe er doch in der Produktion (z.B. Trenkle 1998, zur Kritik: Heinrich 1999a). Ein solcher Einwand offenbart ein quasi dingliches Verständnis von Wert, das noch dem von Marx kritisierten Fetischismus aufsitzt. Wert ist aber nur die gegenständliche Reflexion eines gesellschaftlichen Verhältnisses, ohne dieses Verhältnis ist auch der Wert nicht zu haben. Dass Wert nur in der Gleichsetzung im Tausch existiert (vorher ist er nur vorgestellter, antizipierter Wert), schließt keineswegs aus, dass die Wertgröße von den Produktionsbedingungen abhängt - allerdings nicht ausschließlich, wie Marx an verschiedenen Stellen klarmacht. Wird über das gesellschaftliche Bedürfnis hinaus produziert, so gilt die dabei verausgabte überschüssige Arbeit auch nicht als wertbildend (vgl. MEW 23: 121f; MEW 25: 686f; MEW 26.2: 521).
[12] Auch nicht besser ist das Argument, Marx müsse bei der Wertformanalyse eine Geldware voraussetzen, da alles andere bereits die Existenz des Staates unterstellen würde. Dem läßt sich entgegenhalten, dass die einfache Zirkulation von Ware und Geld ja nicht eine selbständige Gesellschaftsformation, sondern nur die “abstrakte Sphäre des bürgerlichen Gesammtproductionsprocesses” darstellt, die unselbständig ist und gerade deshalb auf ihr vorausgesetzte Verhältnisse hinweist (MEGA II.2: 68f, vgl. auch MEGA II.1.1: 177).
[13] Vgl. dazu auch die ausführliche Diskussion der Marxschen Kredittheorie und ihrer Vereinbarkeit mit der Annahme einer Geldware bei Ganßmann (1996, Kapitel 8).
[14] Ausführlicher habe ich diese Argumente in Heinrich (1999: 233ff und 302ff) entwickelt.
[15] In eine solche Richtung zielen etwa die Kritiken von Betz (1988), Heine/Herr (1992) oder Riese (1994). Allerdings gibt es auch eine Reihe marxistischer Ansätze, die die Marxsche Akkumulationstheorie in dieser eher “realwirtschaftlichen” Weise auffassen, so etwa Krüger (1986). Vgl. zur Kritik an solchen Interpretationen auch Hein (1998), der die Akkumulationstheorie auf der Grundlage der monetären Werttheorie diskutiert.
[16] Es kann also nicht davon die Rede sein, dass Marx die Investitionen der laufenden Periode durch die realisierten Profite der Vorperiode beschränken würde (so etwa Betz 1988: 104f; Heine/Herr 1992: 206). Ganz im Gegenteil: so betont Marx im dritten Band des Kapital, dass es gerade der Kredit ist, der den Reproduktionsprozeß “bis zur äußersten Grenze forciert” und der als “Haupthebel der Überproduktion” (MEW 25: 457) wirke.
[17] Der Kreditabschnitt ist allerdings der unabgeschlossenste und fragmentarischste Teil des dritten Bandes, der zudem noch von Engels in einer äußerst problematischen Weise ediert wurde (vgl. zu den Editionsproblemen des dritten Bandes, die durchaus inhaltliche Konsequenzen haben Vollgraf/Jungnickel 1995, Heinrich 1996).
[18] Auch bei Keynes ist der Zins nicht die Quelle des Profits, sondern ein den Unternehmern in der Konkurrenz auferlegter Zwang einen Profit zu erzielen, aus dem sie dann den Zins zahlen können. Dazu muß es ihnen aber überhaupt möglich sein diesen Profit zu produzieren - und dies ist das Thema, das Marx vor der Darstellung des Kreditsystems untersucht.
[19] Verfehlt erscheint der Versuch von Hajo Riese, aufgrund der Dominanz der Kreditverhältnisse eine keynesianische Verpflichtungsökonomie einer Tauschökonomie (der neben Klassik und Neoklassik auch Marx zugeordnet wird) gegenüberzustellen: “Die keynesianische Ökonomie liefert eine Theorie der Verpflichtung und nicht eine Theorie des Tausches; genauer gesagt, liefert sie eine Theorie, in der sich eine Notwendigkeit zum Tausch aus der Verpflichtung des Schuldners zur Zurückhaltung des bereitgestellten Geldes ergibt, weil Prämie und Rückfluß des Geldes zu erwirtschaften sind. (...) Für die Geldökonomie ergibt sich der Tausch aus dem Kredit, für die Tauschökonomie ergibt sich der Kredit aus dem Tausch" (Riese 1983: 107f). Unklar bleibt aber, warum überhaupt eine Verpflichtung eingegangen wurde, ob sie nicht nur deshalb eingegangen wurde, um ein Tauschmittel zu erhalten, so dass der Tausch dem Kredit nicht nur nach - sondern ebenso vorgeordnet ist. - In neueren Arbeiten hat Riese seine Position noch radikalisiert. Weder Klassik/Neoklassik noch Keynes hätten das “Rätsel” Geld gelöst: beide würden Geld über eine Funktion definieren (Tauschmittel bzw. Wertaufbewahrung), die Geld zwar auch übernehmen würde, die aber nicht die für Geld spezifische sei. Diese spezifische Funktion sieht Riese im Geld als “ultimativem Medium der Erfüllung von Kontrakten” (Riese 1998: 47; vgl. auch 55) und als solches Medium müsse es von einer Institution garantiert sein - der Zentralbank (ebd.). Die Frage, warum ein “ultimatives Medium der Erfüllung von Kontrakten” überhaupt notwendig ist, wird von Riese aber nicht einmal gestellt. Daher entgeht ihm auch das Spezifische der Marxschen Geldtheorie: Marx setzt nicht einfach die Tauschmittelfunktion des Geldes als zentrale Bestimmung gegen andere Geldfunktionen, er fragt vielmehr, worin die Notwendigkeit eines selbständigen Tauschmittels besteht und erst danach sozusagen auf einer zweiten Stufe entwickelt Marx die Geldfunktionen und erst dann wäre die Frage der Geldversorgung (ob über eine Zentralbank oder nicht) zu diskutieren.
[20] Marx spricht daher davon, dass das Kapitalverhältnis im zinstragenden Kapital seine “äußerlichste und fetischartigste Form” (MEW 25: 404) erhalten habe: “Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst. Statt der wirklichen Verwandlung von Geld in Kapital zeigt sich hier nur ihre inhaltslose Form” (MEW 25: 405).
[21] Krätke (2000) rekonstruiert die innere Logik der Marxschen Kredittheorie nicht nur entlang des “fiktiven Kapitals”, sondern auch der “fiktiven Ware” und des “fiktiven Geldes”. Die beiden letzten Begriffe finden sich zwar nicht bei Marx, alle drei Begriffe zusammen charakterisieren aber treffend die Themen, die Marx analysiert.
[22] Dass Walras, der Vater der modernen Gleichgewichtstheorien, auf die Fiktion eines “Auktionators” zurückgriff, der so lange Preise ausruft, bis eine Gleichgewichtskonstellation erreicht ist und dann erst Tauschakte (zu diesen Preisen erlaubt), ist keinem besonderen Mangel der Neoklassik geschuldet, sondern drückt ein systematisches Defizit jeder Theorie aus, die sich auf die Untersuchung von Gleichgewichtszuständen beschränkt. Walras muß man zu Gute halten, dass er ein Bewußtsein von dieser Problematik hatte. Dies gilt auch für kritische Neoklassiker wie etwa Arrow oder Hahn, die sich über die Grenzen ihres Paradigmas durchaus im Klaren sind (vgl. Hahn 1984). Für die modernen Epigonen der Neoklassik, insbesondere wenn sie wirtschaftspolitische Empfehlungen aus ihrer Theorie ableiten wollen, trifft dies allerdings nicht zu. Sie verwechseln häufig komparative Statik mit Dynamik und unterstellen (ohne dies jedoch begründen zu können), dass wenn man eine Größe in einem ökonomischen System ändert, sich die übrigen nach einer gewissen Zeit so einpendeln werden, dass dann ein neuer zu dieser Größe “passender” Gleichgewichtszustand entsteht.
[23] In der hier vorgeschlagenen Interpretation stellt Marx geradezu einen Gegenpol zu dem schulenübergreifenden Gleichgewichtsdenken der modernen Volkswirtschaftslehre darstellt. Keynes scheint mir in dieser Frage eine Zwitterstellung einzunehmen. - Eher unter einer gleichgewichtstheoretischen Perspektive diskutiert Schabacker (1998) die Marxsche Kapitaltheorie in ihrem Verhältnis zur modernen Theorie.
[24] Das Marxsche “Gesetz” bezieht sich nicht auf die Profitrate eines Einzelkapitals, sondern auf die gesellschaftliche Durchschnittsprofitrate. Damit diese fällt, müssen aber die Profitraten der meisten (oder der größten) Einzelkapitale fallen. Marx geht daher von einem beliebigen, aber typischen Einzelkapital aus. Kann gezeigt werden, dass dessen Profitrate auf lange Sicht fällt, dann wird auch die Durchschnittsprofitrate auf lange Sicht fallen.
[25] Deshalb unterstellt Marx auch bei der Ableitung des Gesetzes, dass der Wert der Arbeitskraft durch ein unverändertes Niveau der Lebenserhaltung bestimmt ist, so dass mit dem Wert der Lebensmittel auch der Wert der Arbeitskraft sinkt. Gelingt ihm die Ableitung des Gesetzes unter diesen Bedingungen, dann hat er gezeigt, dass der kapitalistischen Produktionsweise eine Tendenz zum Profitratenfall immanent ist, die ganz unabhängig davon ist, ob es etwa durch Arbeitskämpfe zu einer Erhöhung des Reproduktionsniveaus und damit auch zu einer Steigerung des Werts der Arbeitskraft kommt.
[26] Marx abstrahiert hier, wie meistens, wenn es um den Profitratenfall geht, vom fixem Kapital.
[27] Es ist also nicht richtig, wie zuweilen behauptet wurde, dass Marx sein Gesetz unter der Voraussetzung einer konstanten Mehrwertrate ableitet und die steigende Mehrwertrate zu den entgegenwirkenden Ursachen rechnet: was er dort betrachtet ist eine Mehrwertrate, die aus anderen Gründen als einer gestiegenen Produktivität steigt, etwa aufgrund der Intensivierung der Arbeit oder einer Verlängerung des Arbeitstages.
[28] Dies wird unmittelbar deutlich, wenn man den Ausdruck für die Profitrate p‘ = m / (c + v)   m/v  durch v kürzt. Dann erhält man p‘ = _______ c/v  +  1
[29] Dass Marx, obwohl er bereits zu Beginn des 13. Kapital meint, das Gesetz bewiesen zu haben (vgl. MEW 25: 223), immer wieder Versuche macht, es zu begründen, läßt vermuten, dass ihm seine eigenen Beweise nicht ganz geheuer sind.
[30] Im Grunde bekommt man schon Probleme, wenn man dieses Wachstum streng begründen will. Marx selbst führt unter den dem Profitratenfall entgegenwirkenden Ursachen die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals infolge der Produktivkraftsteigerung an und konzediert: “In einzelnen Fällen kann sogar die Masse der Elemente des konstanten Kapitals zunehmen, während sein Wert gleich bleibt oder gar fällt.” (MEW 25: 246). Dass es sich dabei aber notwendigerweise nur um Einzelfälle handelt, wird nicht gezeigt.
[31] Dass man über drei und nicht nur zwei Größen Bescheid wissen muß, liegt einfach daran, dass die Profitrate, egal mit welchen Hilfskonstruktionen man sie auch umschreibt, immer wieder durch einen Quotienten ausgedrückt wird. Um die Richtung zu bestimmen, in die sich ein Quotient bewegt (ob er steigt oder fällt, egal um wieviel), ist es aber nicht nur notwendig die Bewegungsrichtung von Zähler und Nenner zu kennen, als Drittes ist auch zu klären, wer von beiden schneller ist als der andere. Ausführlicher bin ich auf die verschiedenen Rettungsversuche des “Gesetzes” in Heinrich (1999: 327ff) eingegangen, dort finden sich auch weitere Literaturhinweise zur Debatte.
[32] Krisentheoretische Ansätze finden sich nicht nur im Kapital, sondern auch in den Grundrissen und den Theorien über den Mehrwert, alles zusammen ergibt die (einander bisweilen widersprechenden) Facetten eines unvollendeten Projekts. Die Entwicklung und die einzelnen Aspekte der Marxschen Krisentheorie wurden aus ganz unterschiedlichen Perspektiven untersucht, vgl. etwa Itoh (1976), Clarke (1994), Heinrich (1999: 341ff).
[33] Ansätze dazu finden sich bei Marx aber an anderen Stellen. So wird gerne die Äußerung zitiert: “Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktiv­kräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihr Grenze bilde" (MEW 25: 501). Eine grundsätzliche Ablehnung erfährt die Unterkonsumtionstheorie dann in einem der letzten, Ende der 1870er Jahre entstandenen Manuskripte zum zweiten Band des Kapital (vgl. MEW 24: 409f).
[34] Es ist also keineswegs so, wie häufig angenommen wird (z.B. Shaikh 1978: 24), dass in Marx' Analyse die effektive Nachfrage keine Rolle spielen würde.
[35] So etwa in den Grundrissen (MEGA II.1.1: 112; MEGA II.1.2: 357), in den Theorien über den Mehrwert (MEW 26.2: 501) oder im Kapital (MEW 25: 316). Vgl. zu diesem zentralen Aspekt des Marxschen Krisenbegriffs auch Altvater (1983).
[36] Lediglich in den Grundrissen finden sich bei Marx Überlegungen, die man einer Zusammenbruchstheorie zuordnen kann (MEGA II.1.2: 580ff). - In den 90er Jahren erlebte die Zusammenbruchstheorie in den Veröffentlichungen von Robert Kurz (1999) und der Gruppe Krisis eine überraschende Auferstehung, vgl. zur Kritik dieser Position Heinrich (1999a, 2000).

Editorische Anmerkungen: Der Aufsatz erschien in PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 123, 31. Jg., 2001, OCR-Scan by red trend.

Originaltext: http://www.trend.infopartisan.net/trd0104/t070104.html