Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern. Ein Interview mit John Holloway

John Holloway, Politikwissenschaftler an der Universidad Autónoma de Puebla, México und einer der bekanntesten Analytiker des zapatistischen Aufstandes, brachte im Verlag Westfälisches Dampfboot 2002 sein vielbeachtetes Buch mit dem Titel "Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern" heraus. Über neue Wege revolutionärer Politik sprach mit ihm GWR-Autor Edo Schmidt.


Graswurzelrevolution: John, Du warst innerhalb eines Jahres zweimal als Diskutant auf Podien in der Bundesrepublik: bei der BUKO 2002 und bei der attac-Sommerakademie 2003. Dies ist ein Beleg dafür, daß Du mit Deinem Buch "Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern" bei linken Akademikerinnen und Akademikern in der Bundesrepublik offene Türen einrennst. Und wenn Du sprichst, dauert es nicht lange, bis der Saal kocht - ganz überwiegend vor Begeisterung! Liegt das daran, daß in dem entpolitisierten Raum der Wissenschaft endlich wieder jemand begonnen hat, von "Revolution" zu sprechen, also eine Perspektive für Veränderung zu formulieren? Und was verstehst Du unter "Revolution"?

John Holloway: Als das Buch im letzten Jahr erschien, wußte ich nicht, wie die Reaktion darauf sein würde. Vielleicht habe ich mehr in akademischen Kategorien als in politischen gedacht.

Was würden die Adorno- und Foucault-Expertinnen und Experten darüber sagen?

Wie würden die Leute auf die Interpretation der Wertform reagieren?

Aber die wirkliche Überraschung kam, als ich im vergangenen Oktober nach Argentinien reiste, um dort die spanischsprachige Ausgabe vorzustellen. Es waren sehr viele Leute auf den Buchvorstellungen, die dort einen gewaltigen Diskussionsbedarf äußerten. Ich spürte unter vielen Altlinken eine gewisse Feindseligkeit (aber nicht durchgängig, denn ebensoviele räumten ein, daß sie sich in einer Krise befänden, und daß über neue Wege zu diskutieren sei, die vorwärts weisen), unter den jüngeren aber einen sehr weitverbreiteten Enthusiasmus, insbesondere bei jenen, die in den Stadtteilversammlungen und in der Bewegung der Piqueteros (1) engagiert sind. In Mexiko hatte ich sehr ähnliche Reaktionen, allerdings von geringerer Intensität, da die Situation hier eine andere ist. In Deutschland konnte ich überhaupt nicht einschätzen, wie die Reaktion sein würde, aber letztes Jahr auf der BUKO und dieses Jahr bei der attac-Sommerakademie war es wundervoll.

Ich denke, daß es tatsächlich bedeutet, daß die Leute wieder über Revolution reden wollen. Sie mögen dabei vielleicht nicht das Wort "Revolution" benutzen, aber beinahe jeder ist sich bewußt, daß der Kapitalismus ein Desaster ist, das die Menschlichkeit bzw. die Menschheit (2) zerstört, und daß es droht, dies vollständig zu tun. Mehr und mehr Menschen kämpfen für eine andere Welt, und nichts anderes meint Revolution.

Nun ist das Problem, was wir mit Revolution meinen. Offensichtlich bedeutet es, eine andere Gesellschaft anstelle des Kapitalismus zu schaffen, aber ich denke, daß es wichtig ist zu sagen, daß wir nicht wissen, wie wir das erreichen können. Sicher haben wir viele Kämpfe, die bereits eine Richtung angeben, und viele Kämpfe zeigen uns, welchen Weg wir nicht gehen sollten, aber Revolution kann nur gedacht werden als ein Herausfinden, als eine Frage. Mehr und mehr bin ich davon überzeugt, daß das Problem nicht darin liegt, den Kapitalismus zu zerstören, sondern vielmehr darin, aufzuhören, ihn ständig selbst hervorzubringen.


GWR: Mit dem Titel Deines Buches gibst Du einen weiteren Hinweis: Es geht Dir nicht um die Macht, zu regieren, also um Parlamentarismus, sondern darum, daß "wir" uns auf den Weg machen, uns selbst zu organisieren, um unsere eigene Macht zu entdecken. Du verwendest hierbei den einschließenden Begriff "wir", was mir gefällt. Geht es bei dem "Herausfinden" auch darum, ein starkes "wir" (wieder) zu finden? Und kann dies der Begriff der "Multitude" leisten, wie Hardt/Negri ihr "revolutionäres Subjekt" umschreiben?

J.H.: Ja, ich beginne mit einem "Wir", denn ich finde es schwierig, mit etwas anderem zu beginnen. Mit einem "sie" anzufangen, wie auch immer dieses "sie" definiert ist - ob als "Arbeiterklasse" oder als was auch immer -, bedeutet bereits unsere Distanzierung von der Frage nach der Veränderung der Welt. Das "Wir" ist die zentrale Kategorie, da das Problem die Veränderung der Welt ist, und das verlangt subjektives Handeln, und schließlich sind Wir das kollektive Subjekt. Aber von einem "Wir" zu sprechen, wirft eine offene Frage auf. Wer sind Wir? Wir sind die Arbeiterklasse, aber das ist keine Antwort, nur eine Weiterentwicklung der Frage.

Was heißt es, von der Arbeiterklasse als Subjekt statt als Objekt zu reden? Nur Objekte können definiert werden, keine Subjekte. Ein Subjekt ist notwendigerweise eine offene Frage, ein Aufbegehren gegen Verdinglichung, ein Aufbegehren gegen Definition. Revolution ist keine Antwort auf die Frage, aber es ist eine Artikulation der Frage, eine explizite Artikulation eines Wir: wie in Arbeiterräten.

Von Subjekten zu reden heißt vom Tun zu reden: Subjekte tun. Deshalb ist das Konzept der Arbeiterklasse so wichtig: weil es die Art und Weise ins Zentrum stellt, wie Tun im Kapitalismus organisiert wird, die Art und Weise, wie Kapitalismus das Tun in entfremdete Arbeit verwandelt. Das Konzept der Arbeiterklasse verdeutlicht auch die Abhängigkeit des Kapitals von uns, weil die Existenz des Kapitals von der Entfremdung und Ausbeutung unseres Tuns abhängt. Das ist wichtig, weil das Verständnis darüber, daß die Herrschenden von den Beherrschten abhängig sind, der Anfangspunkt für die Befähigung ist, über Revolution zu sprechen. All das geht in dem Konzept der "Multitude" verloren, welches nichts über das Tun und nichts über die Abhängigkeit des Kapitals von uns aussagt.


GWR: Du wurdest bei der attac-Sommerakademie im August 2003 als Marxismus-Forscher vorgestellt, aber die Frage, ob Du Dich als Anarchist oder als Kommunist bezeichnen würdest, verbietet sich aufgrund Deiner Statements zum Thema Identität. Bei Deinen "Auftritten" fiel der Begriff der "anti-identitären Politik" - oder auch der der "Anti-Politik". Du schreibst, revolutionäres Handeln solle nicht mehr auf Organisationen orientieren, sondern in einer Reihe von Ereignissen stattfinden bzw. entstehen, wie z.B. bei den Anti-WTO-Protesten 1999 in Seattle oder derzeit in Cancún/México. Wieso?

J.H.: Ja, Du hast recht, ich würde es vorziehen, mich nicht selbst zu etikettieren. Es gibt eine schreckliche Tradition der Linken, Menschen zu etikettieren, damit man ihnen nicht zuhören muß, oder um ihre Argumente einfach abtun zu können. Ich denke, wir müssen mit diesen Gewohnheiten brechen.

Mit "Anti-Politik” meine ich eine Art von Politik, von Praxis, die nicht an die Strukturen des Staates anknüpft oder sich an diese anpaßt. Das Ziel von Revolution sollte bereits in unseren Aktions- und Organisationsformen enthalten sein. Das Kapital versucht beständig, uns auf sein Terrain zu ziehen, um uns zu zwingen, es auf eine Weise in Anspruch zu nehmen, die es selbst festlegt. Unser Kampf besteht immer darin, die Kämpfe auf unser eigenes Terrain zu drücken, um in eine andere Dimension vorzudringen.

Ein wichtiger Aspekt ist diesbezüglich die Frage der Identität. Das Kapital beschäftigt sich mit Identitäten, mit Definitionen.

Wenn es ihm gelingt, einen Kampf zu definieren, so hat es wenig Mühe, ihn auch zu gewinnen. Uns selbst zu definieren bedeutet also, unsere Kämpfe bereits auf ein Terrain zu stellen, das leicht in die Reproduktion des Kapitals eingegliedert werden kann. Somit hat das Kapital wenig Probleme mit Kämpfen von Schwarzen oder Frauen oder Schwulen, solange diese Kämpfe in der Behauptung einer Identität verbleiben. Was für das Kapital Probleme verursacht, sind die Kämpfe, die nicht in einer Definition eingedämmt werden können.

Schau’ Dir zum Beispiel die Zapatistas an. Von Anfang an hat die mexikanische Regierung versucht, mit ihrem Kampf so fertig zu werden, indem sie ihn als indigenen Kampf oder als chiapanekischen Konflikt hinstellte. Ein wichtiger Teil des zapatistischen Kampfes bestand darin, solche Definitionen zu unterlaufen bzw. zu überfliegen, indem sie sagten: "Ja, wir sind indigen, aber wir sind mehr als das, unser Kampf ist für die Menschheit bzw. Menschlichkeit." Konsequenterweise haben sie nicht nach unserer Solidarität gefragt, stattdessen forderten sie uns auf, ebenfalls den selben Kampf aufzunehmen, so, wie wir es vermögen. Es ist dieser undefinierte Kampf, mit dem das Kapital nicht umgehen kann, weil es ihn nicht integrieren kann, es kann noch nicht einmal vorgeben, seine Forderungen zu erfüllen.

Wenn ich sage, daß wir vielleicht überlegen sollten, nicht auf Organisationen beschränkt zu kämpfen, sondern an Ereignissen orientiert, so meine ich nicht, daß organisieren nicht wichtig wäre. Offensichtlich könnten diese Ereignisse ohne Organisation gar nicht stattfinden, ebenso wie jede gute Party Organisation benötigt. Aber die Organisation ist nicht der Zweck des Ereignisses. Im besten Fall eröffnen diese Ereignisse (wie Seattle, wie Cancún, aber auch wie 1968 oder der zapatistische Aufstand vom 1. Januar 1994) eine neue Welt und versetzen uns in eine neue Dimension. Sie brechen die Zeit, sie brechen Kontinuitäten, sie versetzen uns in die Lage, in neuen Bahnen zu denken, sie zeigen uns einen neuen Sinn unserer Möglichkeiten. Und ich denke, der einzige Weg, über Revolution nachzudenken, ist auf eine Weise, die Zeit bricht, die Kontinuität bricht - vor allem die Kontinuität unserer Unterordnung unter das Kapital.


GWR: John, ich danke Dir für das Gespräch und für die vielen Anregungen!

Aus: Graswurzelrevolution Nr. 283 (November 2003)

Originaltext: http://www.graswurzel.net/283/holloway.shtml