Neue Horizonte in der besetzten Fabrik

In Argentinien haben ArbeiterInnen die Krisenlösung selbst in die Hand genommen: etwa 180 Betriebe wurden besetzt und wieder ans Laufen gebracht. Am bekanntesten ist die Kachelfabrik Zanon in Neuquén (Patagonien)

Rund 330 ArbeiterInnen verdienen in dieser hochmodernen Fabrik selbstverwaltet ihr Einkommen. Gleichzeitig ist es ihnen gelungen, den Konflikt nach innen und aussen zu politisieren. Sie sehen die Besetzung nicht als selbstgenügsames Arbeitsprojekt. Sie wollen eine andere Gesellschaft, dafür gehen sie auf die Straße und schließen sich mit anderen Bewegungen zusammen. Die Fabrik ist zu einem Ort der Diskussion geworden. Worte wie Klassenkampf oder Revolution werden hier mit größter Selbstverständlichkeit benutzt - von Arbeitern, die sich vorher nie um Politik gekümmert haben. Basisdemokratische Strukturen und immer wieder Versammlungen haben dazu geführt, dass Politik nicht das Werk von ein paar Kadern ist, sondern Sache von allen. Die Geschichte hat mit kleinen Schritten angefangen: unter einem diktatorischen Fabrikregime und gegen einen korrupten Gewerkschaftsapparat haben sich ein paar compañeros untergründig organisiert, um dann 1998 mit einer neuen Liste überraschend den Betriebsrat zu übernehmen. Dem Unternehmer Zanon wird die Belegschaft zu aufmüpfig; er leitet ein Konkursverfahren ein. Es kommt zu Streiks wegen Lohnrückständen. Die ArbeiterInnen halten sich mit Lebensmittelspenden über Wasser. Vor der drohenden Schließung besetzen sie im Oktober 2001 die Fabrik. Rosa und Delia, zwei der wenigen Frauen in der Fabrik, hätten nie gedacht, dass sie einmal in eine solche Situation geraten würden. Heute sind Demonstrationen, Straßenblockaden, Auftritte bei Versammlungen oder in Radiosendungen nichts besonderes mehr für sie. Sie fahren zu Koordinationstreffen in die 15 Stunden entfernte Hauptstadt. Delia war als Vertreterin der Zanonarbeiter beim Weltsozialforum in Porto Alegre.

Rosa: Vor diesem Konflikt hier habe ich noch nie irgendwas politisch gemacht. Im Gegenteil: wenn die Arbeitslosen die Straße blockiert haben, habe ich gesagt, dass sie sich ne Arbeit suchen sollten und aufhören, so nen Scheiß zu machen. Als es uns dann an den Kragen ging, habe ich gemerkt, dass wir uns gegenseitig unterstützen müssen.

Delia:
Der Mittelschicht musste es erst ans Geld gehen. Wenn sie heute eine Straßenblockade sehen, dann verstehen sie das, weil sie auch betroffen sind. Aber leider musste uns all das erst passieren, damit uns das klar wurde. Wir hatten vorher Kreditkarten und Bankkonten. Und dann losziehen und um Lebensmittel betteln! Das war heftig für uns. Ich habe mich als Mittelschicht gesehen, das heißt ich wollte dahin kommen. Ich habe meiner Tochter eine Privatschule bezahlt. Ich habe keinen Luxus, aber ich wollte für meine Tochter eine gute Ausbildung. Es hat mich nicht interessiert, für bessere Bildung zu kämpfen. Ich habe dafür bezahlt. Wir hätten für eine gute Bildung für alle kämpfen sollen, die für alle gleich ist und für die wir nicht bezahlen müssen. Das war mir damals nicht so klar.

Rosa: Am Anfang war es schwierig, auf die Straße zu gehen, zu demonstrieren. Irgendwie peinlich, man kommt sich komisch vor. Aber es ging ja um unsere Rechte, um unsere Würde. Am Anfang waren wir nur wenige, die den Kampf aufnehmen wollten. Ich war der Meinung, dass der Moment gekommen wäre, aber sonst niemand in meiner Abteilung. Die alten Gewerkschafter hast du nie im Betrieb gesehen, die haben nichts gemacht.

Delia: Wenn wir so weitergemacht hätten, dann würde heute höchstens noch ein Schild oder eine alte Kachelschachtel an die Fabrik Zanon erinnern. Dass wir noch hier sind, das liegt an den Leuten, die darauf vertraut haben, dass wir was ändern können, die dafür eingetreten sind und die anderen überzeugt haben. Sie haben uns klar gemacht, welche Absichten die Firma hatte. Mir ist damals sehr nahe gegangen, was ein compañero gesagt hat. Das war die Zeit, wo es schon Warnstreiks gab. Der compañero kam eines Tages zu mir an den Arbeitsplatz und meinte: ‚dir tragen sie irgendwann den Stuhl und die Maschine weg und du wirst immer noch weiterarbeiten ohne was zu merken‘. Das ist bei mir angekommen.

Eines Nachts ist dann beschlossen worden, dass die Arbeiter in der Fabrik bleiben und die Chefs rausschmeissen. Sie kamen zu mir und haben mich gefragt, was ich machen würde, ob ich rausgehen oder bleiben würde. Ich bin geblieben, und von da an habe ich mir den Raum erobert. Das lief nicht über reden, sondern dadurch, dass wir zusammen gekämpft haben. Wenn gearbeitet werden musste, habe ich gearbeitet, wenn eine Straße blockiert werden musste, habe ich die Straße blockiert, wenn eine Reise unternommen werden musste, um uns zu repräsentieren, bin ich gereist. Die compañeros haben mich tatsächlich als ihre Repräsentantin auf dem Weltsozialforum gewählt! Das Wichtige für mich war nicht die Reise, sondern die Tatsache, dass meine compañeros mich gewählt haben.

Für mich hat sich das Panorama enorm erweitert. Ich komme aus einer Familie, wo nicht über Politik gesprochen wurde. Heute nerven mich die Ungerechtigkeiten. Vorher habe ich dazu geschwiegen. Heute würde ich gerne noch mehr dagegen tun.

Rosa: Ich habe noch nie so viel gelernt wie in diesem Konflikt. Aber persönlich war das nicht einfach. Von uns Frauen mischen sich nur drei politisch ein. Die anderen wollen davon nichts wissen, oder die Männer wollen das nicht. Auch ich habe große Probleme mit meinem Mann bekommen, weil plötzlich alles anders war. Ich hatte nicht mehr die gewohnten Arbeitszeiten, das Essen stand nicht mehr zur gewohnten Zeit auf dem Tisch. Wir hätten uns fast getrennt.

Delia:
Es hat uns viel gekostet, bis hierhin zu kommen. Heute verteidigt jeder Arbeiter bei Zanon alles was wir dort machen mit voller Kraft. Keiner von uns wird sich einfach wieder nachhause schicken lassen. Wer die Entscheidung trifft, uns hier rauszuholen, muss wissen, dass wir nicht einfach gehen werden.

Diese Einschätzung im März war richtig: Am 8. April konnten die ArbeiterInnen von Zanon den bisher letzten Räumungsversuch verhindern - mit ihrer Entschlossenheit und der großen Solidarität von außen. Zanon gehört immer noch den ArbeiterInnen, seit nunmehr zwei Jahren.

Aus: "Direkte Aktion" Nr. 160 (Nov. / Dez. 2003)

Originaltext: www.fau.org/fau_medien/da/DA_160/art_031109-142604