Besetzte Betriebe: Kooperativen - Verstaatlichung - Arbeiterkontrolle?

Anmerkungen zum Dilemma der Selbstverwaltung im Kapitalismus

Über die Hälfte der Industriekapazität in Argentinien liegt brach. In dieser dramatischen Krise entschließen sich immer mehr ArbeiterInnen, Betriebe zu besetzen und in Eigenregie weiterzuführen. Die Besetzungen entstehen als Überlebensprojekte in einer defensiven Situation. Aber sie werfen Fragen auf, die weit über das unmittelbare Ziel, den Erhalt der eigenen Arbeitsplätze, hinausgehen. Mehr als zehntausend ArbeiterInnen stellen zur Zeit in Argentinien das Privateigentum praktisch in Frage, und sie müssen sich teilweise handgreiflich gegen die Staatsgewalt durchsetzen. Sie machen die Erfahrung, dass sie in der Lage sind, die Produktion selbst zu organisieren. In einer Fabrik ohne Chefs ist plötzlich nichts mehr selbstverständlich, nichts muss als gegeben hingenommen werden. Es gibt keine Vorarbeiter und Meister mehr; statt dessen wählen die ArbeiterInnen Koordinatoren, die sie jederzeit wieder abberufen können. Sie verändern Arbeitszeiten und Arbeitsorganisation entsprechend ihrer eigenen Bedürfnisse. In Versammlungen diskutieren und entscheiden sie, was und wie produziert wird. Nicht mehr Profit und Gewinnmaximierung sind das Ziel der Produktion, sondern Einkommen für möglichst viele Menschen und die Herstellung nützlicher Dinge unter erträglichen Bedingungen. Das klingt schon fast nach einem kleinen bisschen Kommunismus.

Selbstverwaltete Betriebe als Inseln im Meer der kapitalistischen Krise sind jedoch ein widersprüchlicher Versuch, der leicht in der Selbstverwaltung des Mangels steckenbleiben kann. Dass ein paar tausend ArbeiterInnen in verlassenen Fabriken auf eigene Rechnung arbeiten, muss nicht unbedingt weitergehende Folgen haben. Das Kapitalblatt The Economist (9.11.2002) macht sich zwar etwas Sorgen wegen der »Erosion der Eigentumsrechte«, gibt sich aber ansonsten zuversichtlich: »Diese Bewegung ist keine Bedrohung für kapitalistische Unternehmen« — denn die Wiedereröffnung von Firmen unter Arbeiterkontrolle würde nicht nur den Arbeitern, sondern auch den Kapitalgebern helfen, da sie die Maschinerie vor Verfall und Vandalismus bewahre. Diese Einschätzung haben sie sich nicht selbst ausgedacht; sie zitieren damit zwei Vertreter der MNER, der Nationalen Bewegung instandbesetzter Betriebe.

In der MNER sind etwa achtzig selbstverwaltete Kooperativen mit insgesamt 8000 Beschäftigten organisiert. Die meisten besetzten Betriebe haben sich dafür entschieden, Kooperativen zu gründen. Damit konnten sie wenigstens drohende Räumungen und Zwangsversteigerungen verhindern. Bedingung für diese Legalisierung ist aber oft, dass die ArbeiterInnen die Schulden des ehemaligen Besitzers übernehmen. Entsprechend groß ist dann der Druck, produktiv und marktgerecht zu produzieren. Noch ist kein selbstverwalteter Betrieb völlig gescheitert, aber viele Kooperativen können nur geringe Löhne auszahlen und sehen sich gezwungen, Abstriche an Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen zu machen oder gar ArbeiterInnen zu entlassen. Bei einigen reichen die Löhne kaum für das Überleben. Die BesetzerInnen können das kapitalistische Kommando innerhalb ihrer Betriebe außer Kraft setzen, aber sie haben keine Kontrolle über den Markt. Dort sind sie der Konkurrenz mit anderen Unternehmen ausgesetzt, die sie nur unterbieten können, indem sie die eigene Ausbeutung erhöhen. Für die Tendenz von Kooperativen, unter dem Druck der Verhältnisse den Arbeitsdruck zu erhöhen und kapitalistische Strukturen zu reproduzieren, gibt es in der Geschichte leider zahlreiche Beispiele.

Angesichts der Vielzahl und Hartnäckigkeit der Besetzungen sind in der Hauptstadt und in der Provinz Buenos Aires Verordnungen für Enteignungsverfahren erlassen worden, nach denen bereits mehr als dreissig Betriebe »enteignet« und den neu gegründeten Kooperativen überlassen worden sind. Die bisherigen Enteignungsverfahren sind jedoch ein zweischneidiger Erfolg. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das die ArbeiterInnen mit der Besetzung in Frage gestellt haben, wird dadurch letzten Endes wieder bestätigt. Den BesetzerInnen werden Gebäude und Maschinerie für einen befristeten Zeitraum überlassen (in der Regel für zwei Jahre, in Einzelfällen länger). Währenddessen garantiert der Staat den Eigentümern eine Miete. Nach Ablauf der Frist sollen die ArbeiterInnen ein Vorkaufsrecht für ihren Betrieb bekommen. Der verbleibt derweil unter Aufsicht eines Richters und eines Konkursverwalters, die die Interessen der Gläubiger wahren. Im Gegensatz zu den Eigentümern bekommen die ArbeiterInnen keinerlei Subventionen. Sie sollen mit ihrer Arbeit aus dem wertlosen Schrott, der in den Fabriken rumsteht, wieder Kapital machen. Wenn ihnen das gelingt, dürfen sie es danach kaufen (womit sich die Gläubiger ihre Arbeit wiederaneignen). In dieser Zeit sind sie keine BesitzerInnen, tragen aber das ganze Risiko, und haben keinerlei Rechte oder Lohnansprüche als ArbeiterInnen.

Die MNER fordert einen Treuhandfonds und eine Änderung des Konkursgesetzes, um solche Enteignungsverfahren zu institutionalisieren. Sie wird von Kirchenkreisen, von Teilen der staatstragenden Gewerkschaftsbürokratie, von Peronisten und Mitte–Links–Parteien unterstützt. Bei solchen Kräften liegt der Verdacht nahe, dass sie mit ihrer Unterstützung in erster Linie verhindern wollen, dass die Bewegung den Rahmen der Legalität verlässt. Sie legen den ArbeiterInnen der besetzten Betriebe nahe, sich als Kooperativen zu legalisieren und sich auf 'realistische Lösungen' einzulassen.

Unter der Drohung mit Räumung und Arbeitsplatzverlust ist der Spielraum für die ArbeiterInnen gering. Trotzdem weigern sich einige wenige besetzte Betriebe, wie u.a. die ArbeiterInnen der Textilfabrik Brukman in Buenos Aires und der Keramikfabrik Zanon in Neuquén, Kooperativen zu bilden und Schulden zu übernehmen. Statt dessen fordern sie 'Verstaatlichung unter Arbeiterkontrolle'. Sie wollen weder zu Unternehmern werden, noch zu Staatsangestellten. Vom Staat verlangen sie, dass er die notwendigen Rahmenbedingungen schafft: er soll Gebäude, Maschinerie und Patente ohne Entschädigung und endgültig enteignen, und ihnen den Betrieb überlassen, damit sie dort in Selbstverwaltung gesellschaftlich nützliche Produkte herstellen können. Brukman könnte beispielsweise Bettwäsche für Krankenhäuser oder Schuluniformen nähen, und mit den Kacheln von Zanon könnten öffentliche Gebäude und Sozialwohnungen ausgestattet werden. Die Arbeiter von Zanon spenden schon jetzt regelmäßig einen Teil ihrer Produktion an Schulen, Volksküchen, Krankenhäuser oder soziale Projekte. Durch die Produktion von Gütern für die Allgemeinheit, die vom Staat abgenommen werden, könnte der Druck der Marktkonkurrenz zumindest verringert werden.

Auf den entsprechenden Antrag der Zanon–Arbeiter erfolgt seit Monaten keinerlei Reaktion, und den Antrag der Brukman–Arbeiterinnen hat der Stadtrat von Buenos Aires zurückgewiesen. Sie sollen eine Kooperative bilden, was sie aber mit Hinweis auf die schlechten Erfahrungen, die ihre KollegInnen in anderen besetzten Betrieben mit dieser Lösung gemacht haben, weiterhin ablehnen.

Die ArbeiterInnen von Brukman und Zanon versuchen, die besetzten Betriebe zum Ausgangspunkt einer breiteren Bewegung zu machen, gemeinsam mit Organisationen der piqueteros, der organisierten Arbeitslosen, von denen inzwischen einige bei Zanon arbeiten, sowie mit Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes, die gegen die Verschlechterung der Bedingungen kämpfen, und mit oppositionellen Betriebsräten und Gewerkschaftsgruppen aus verschiedenen Bereichen. Im April 2002 haben sie das erste 'Treffen zur Verteidigung der besetzten Fabriken' veranstaltet, bei dem auf der Straße vor Brukman 700 ArbeiterInnen und Arbeitslose zusammenkamen, um Erfahrungen und Vorschläge auszutauschen. Das zweite Treffen dieser Art, bei dem der Aufbau einer gemeinsamen Streikkasse beschlossen wurde, fand dort im September statt. Zeitgleich gab es ein Treffen der MNER in der Metallkooperative Baskonia im Industrievorort La Matanza, das einen völlig anderen Charakter hatte. Hier traten verschiedene Parteienvertreter und Funktionäre als Redner auf, die zwar allesamt nichts anzubieten hatten, dafür aber umsomehr zu Gewaltfreiheit und Gesetzestreue aufriefen. Sogar ein Vertreter der Regierung Duhalde, der Vicechef des Kabinetts Eduardo Amadeo, durfte reden — was bei der allgemeinen Ablehnung von Politikern in Argentinien ein wirklich ungewöhnliches Ereignis ist.

Aber trotz aller Differenzen lassen sich die verschiedenen besetzten Betriebe und Kooperativen bislang nicht gegeneinander ausspielen. Manche hatten VertreterInnen auf beiden Treffen, und alle teilen die Ansicht: 'Wenn sie einen von uns angreifen, sind wir alle gemeint'. Das ist nicht nur eine Parole, sondern auch Praxis: im September haben sie gemeinsam die Polizei daran gehindert, der Kooperative Lavalán ihr Rohmaterial abzunehmen. ArbeiterInnen aus legalisierten Kooperativen und aus Betrieben 'unter Arbeiterkontrolle' blockierten gemeinsam die LKWs, die die Wolle abtransportieren sollten. Auch Leute aus den Nachbarschaftsversammlungen und andere UnterstützerInnen beteiligten sich an der stundenlangen und letztlich erfolgreichen Auseinandersetzung.

Für die Zukunft der Bewegung ist die Rechtsform, die sich die einzelnen Betriebe geben, sicher weniger entscheidend als die Frage, inwieweit die Ausweitung gelingt. Bleiben die selbstverwalteten Betriebe allein, bleiben sie Inseln, oder werden sie Teil einer breiteren (internationalen...) Bewegung, die in der Lage ist, Privateigentum und Produktionsverhältnisse grundsätzlich in Frage zu stellen? In Argentinien gibt es hoffnungsvolle Anzeichen dafür, dass alte Abgrenzungen innerhalb der Arbeiterklasse zwischen Armen, Arbeitslosen, FabrikarbeiterInnen und der sogenannten Mittelschicht überwunden werden. Eine Arbeiterin von Brukman berichtet: »Wenn wir früher gesehen haben, wie die piqueteros die Straßen blockiert haben, kam uns das wie eine Nachricht aus einem anderen Land vor. Wir waren keine piqueteros, wir hatten ja Arbeit. Jetzt haben wir den Betrieb besetzt und machen selbst Blockaden. Und so geht es auch den Leuten aus der Mittelschicht, die jetzt auf die Straße gehen. Wenn wir demonstrieren, dann hupen sie und applaudieren uns, und vorher hätten sie uns vielleicht auch angeguckt wie Leute aus einer anderen Welt«.

Die Zukunft der Bewegungen in Argentinien ist offen. Es wird nicht nur von der Entwicklung dort abhängen, ob die besetzten Betriebe irgendwann als schöne Episode in den Geschichtsbüchern auftauchen, oder als Anfang von etwas Neuem. Aber eines haben die ArbeiterInnen sowieso schon gewonnen: die Erfahrungen, die sie mit ihren Besetzungen machen, kann ihnen niemand mehr nehmen. In Argentinien wird gerade praktisch demonstriert, dass eine Produktion keine Chefs braucht, und eine Bewegung keine Anführer. Von diesen Erfahrungen können wir sicher noch eine Menge lernen.

Ein Arbeiter von Zanon fasst die grundlegende Perspektive eindrucksvoll zusammen: »Ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir demonstriert haben, dass das hier überhaupt geht. Sie haben uns immer diskriminiert. Sie haben uns immer gesagt, dass ein Arbeiter überhaupt nichts kann ausser arbeiten. Wir haben aber bewiesen, dass wir alles selbst hinkriegen, wenn wir zusammenarbeiten. Das hier hat mit dem Kampf um den Erhalt unserer Arbeitsplätze angefangen, mit dem Kampf für eine würdige Art von Arbeit statt mieser Unterstützungszahlungen. Und das soll für die anderen Arbeiter rüberkommen: dass der Verlust des Arbeitsplatzes und der Kampf darum nicht heissen muss, einen sinnlosen Kampf zu führen. Diese Botschaft ist unabhängig davon, wie die Geschichte bei Zanon ausgeht. Da können die verschiedensten Dinge bei rauskommen: vielleicht kommt der Besitzer wieder, vielleicht verkauft er die Fabrik, da kann noch eine Menge passieren. Aber unser Ziel ist klar: wir wollen die Fabrik in den Dienst der Allgemeinheit stellen, wir wollen so produzieren, dass es das Leben von allen verbessert. Manchmal stelle ich mir vor, wie das wäre, wenn es viele Zanons gäbe, in diesem Land und anderswo. Das wäre eine völlig andere Realität, denn wir würden alle an alle denken, egal ob wir zehn Straßen voneinander entfernt wohnen, zehn Kilometer, oder zehntausend Kilometer...«

Originaltext:
http://www.wildcat-www.de/dossiers/latina/arg_occu.htm