Linke Geschichte im Abseits. Die Bakuninhütte

Ein Meininger Verein hat mit der Bakunin-Hütte ein einmaliges Zeugnis der anarchistischen Arbeiterbewegung der 1920er Jahre erworben. Genutzt werden darf das Haus jedoch nicht - die Bauaufsicht hat ein Veto eingelegt.

Meiningen - Meiningen und die Arbeiterbewegung - Michael Wagner hält dieses Kapitel der Südthüringer Geschichte für absolut unterbelichtet. Würde es die Bauaufsicht des Landkreises sonst verbieten, die Bakuninhütte bei Meiningen auch nur zu betreten, fragt er. "Die historische Tragweite des Gebäudes ist bei den Behörden nicht bekannt", sagt der ehemalige Pfarrer. Hätte Ernst Thälmann auf der Hohen Maas an einen Baum gepinkelt, wäre das Waldstück mit dem zweigeschossigen Häuschen wohl zur nationalen Gedenkstätte erklärt worden, sagt der 66-Jährige. Wagner ist Mitglied des Wandervereins Bakuninhütte, der sich seit 2006 um den Erhalt des Häuschens kümmert. Aus seiner Sympathie für anarchistische Ideen macht der gut gelaunte Pensionär keinen Hehl. "Es gibt Berührungspunkte von christlichem und anarchistischem Gedankengut", sagt Wagner. Die Solidarität etwa, die gegenseitige Hilfe.

Vor dem Verfall gerettet

Kai Richarz ist vier Jahrzehnte nach Wagner geboren, und wer politische Gesinnung an Äußerlichkeiten ablesen will, müsste den schlanken jungen Mann mit seinen Rastazöpfen zumindest als nonkonformistisch bezeichnen. "Ich war schon in frühester Jugend politisiert gegen Rechts", sagt Richarz. Er engagiert sich seit mehr als einem Jahrzehnt im Bündnis gegen Rechts - und für den Erhalt der Bakuninhütte. "Wir haben in vielen ehrenamtlichen Stunden das Gebäude vor dem Verfall gerettet", sagt Richarz. Menschen aus ganz Deutschland setzen sich mittlerweile dafür ein, das einzigartige Zeugnis des deutschen Anarchismus wieder nutzbar zu machen.

Was ihnen die Bauaufsicht des Landkreises Schmalkalden-Meiningen vor fast genau einem Jahr verboten hat. Alle Baumaßnahmen seien einzustellen, die Hütte dürfe nicht mehr als Aufenthaltsgebäude genutzt werden. Weil sie ohne Baugenehmigung, also illegal errichtet worden sei. Meininger Amtsrichter bestätigten diese Auffassung, jedenfalls vorläufig. Türen und Fensterläden sind seitdem verrammelt."Freies Land und freie Hütte, freier Geist und freies Wort, freie Menschen, freie Sitte, zieht mich stets zu diesem Ort" - diesen Spruch wählten die Erbauer der Hütte als Motto für ihren Treffpunkt. Sie benannten sie nach Michail Bakunin (1814-1876), einem russischer Revolutionär und Anarchisten - und Gegenspieler von Karl Marx auf der internationalen Bühne der Arbeiterbewegung. Während Marx' Lehre auf eine Diktatur des Proletariats hinauslief, lehnten anarchistische Gruppen jede Form der Herrschaft ab. Einem Kommunismus, der von einem allwissenden Parteiapparat gelenkt wird, wollte Bakunin schon gar nicht zum Sieg verhelfen. Er wurde folglich 1872 aus der kommunistischen Internationale ausgeschlossen. Bakunin war nicht allein. Die Suche nach alternativen Gesellschaftsentwürfen trieb vor anderthalb Jahrhunderten halb Europa um. Es waren raue Zeiten für die Arbeiter. Immer höher wuchsen die Schornsteine, immer schneller liefen die Maschinen, immer mehr Hände mussten sie füttern. Während sich die Industriebarone prunkvolle Villen bauen ließen, litten die Arbeiter in engen Mietskasernen an Dunkelheit, Enge und materieller Not. Krankenkasse, Arbeitslosenhilfe, Rente - diese Worte hätte die Arbeiterschaft noch nicht einmal buchstabieren können.

Die Arbeiter schlossen sich in Gewerkschaften zusammen, gründeten Parteien und machten Front gegen die unsäglichen Lebensumstände. Ihre Vordenker feilten an Gegenentwürfen zum Kapitalismus. Marx und Lenin wollten die beste aller Welten herbei revolutionieren, andere das Raubtier lediglich zähmen.

Meininger Anarchisten

Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, im November 1918, dankte Wilhelm II. ab. Aus dem Kaiserreich wurde eine Republik. Arbeiter- und Soldatenräte rangelten mit der SPD um die Macht im Land. In den turbulenten Anfangstagen der Weimarer Republik gründeten gewerkschaftlich organisierte Arbeiter in Meiningen eine Ortsgruppe der FAUD, der Freien Arbeiter Union Deutschland - von 1919 bis 1933 wichtigste Organisation des deutschen Anarchosyndikalismus.

Auf dem bunten Markt der Möglichkeiten tummelten sich in jenen wilden Jahren nicht mehr nur Kommunisten, Sozialisten und Weltrevolutionäre. Der aufgeklärte Teil der Arbeiterschaft diskutierte in Bildungs-, Siedlungs- und Heimatvereinen, wie sich ein freieres Leben verwirklichen ließe. Noch die obskurste Idee fand Nachahmer. Nudisten beteten die Sonne an, Vegetarier verdammten die Völlerei, Spiritisten suchten in fernöstlichen Lehren das Heil. Die einen begeisterten sich für die nagelneue Psychoanalyse, die anderen für die freie Liebe. Wieder andere schlossen sich aus Not zusammen, um sich gegenseitig zu helfen. Und über all das wurde gründlich debattiert. Schon im Jahr nach der Gründung erwarben die Meininger Syndikalisten auf der Hohen Maas ein Grundstück, kaum eine Stunde Fußweg vom Stadtzentrum entfernt. Aus Feldsteinen schichteten sie eine erste Hütte auf, kaum mehr als ein Unterstand. Richarz hat eine altes Foto davon mitgebracht, drei Skifahrer in Kniebundhosen posieren vor dem schmalen Gebäude. Andere Fotos zeigen eine fröhliche Schar von Männern, Frauen und Kindern, zeigen ein selbstgebautes Kettenkarussell, zeigen eine künstliche Höhle aus Feldsteinen. "Sie haben es sich schön gemacht hier oben und richtig viel gestaltet", sagt Richarz.

1926/27 gründeten die Syndikalisten den Siedlungsverein für gegenseitige Hilfe. "Es war ein Gedanke des Anarchisten Kropotkin, wer sich zusammenschließt, überlebt", sagt Richarz. "Er sah das als wichtiges Element der Evolution, eine Gegenthese zu Darwin." Die freie Bakuninhütte wurde bald zu einem Anlaufpunkt für Anarchisten aus der ganzen Republik. Ein Sommerlager der syndikalistischen Jugend wurde auf der Hohen Maas abgehalten, der Publizist Erich Mühsam war zu Gast. Mit Fritz Scherer, einem anarchistischen Vagabunden, hatte die Hütte für einige Monate sogar einen Hüttenwart. 1932 wurde noch umgebaut und erweitert, im Jahr darauf verboten die Nationalsozialisten die FAUD und lösten den Siedlungsverein auf. "Die Hütte wurde den Syndikalisten weggenommen", sagt Richarz. "Die SS nutzte das Gelände als Übungsplatz." 1938 kaufte ein Parteigenosse die Hütte und wurde 1945 von den Sowjets enteignet. Das Gebäude blieb Staatseigentum, wurde von der FDJ als Herberge und für Ferienlager genutzt. "Danach gab es viele Eigentümerwechsel", sagt Richarz. 1967 übernahm die Bereitschaftspolizei das Gelände, mehrere Hundertschaften absolvierten hier den militärischen Teil der Ausbildung. "Daher kennen viele Meininger die Bakuninhütte."

Bis zur Wende war die Hohe Maas Sperrgebiet, und erst als das Bundesvermögensamt 1990 das Areal übernahm, durften die Meininger auch wieder hier spazieren gehen. Zeitgleich fanden sich Menschen zusammen, die sich für die Geschichte der Hütte interessierten und sie als lebendiges Denkmal erhalten wollten. Doch es dauerte 15 Jahre, bis es zu einem Kaufvertrag kam. Wenig später wurde der Wanderverein Bakuninhütte gegründet, der die Hütte nutzen und erhalten will. In vielen Wochenendeinsätzen wurde das Dach geflickt, wurden Vandalismusschäden beseitigt.

Unkenntnis der Geschichte

Doch die Baubehörden machten den Aktivisten des Vereins einen Strich durch die Rechnung. Vielleicht aus Angst vor anarchistischen Umtrieben, wie Kai Richarz argwöhnt, vielleicht aus Unkenntnis der Geschichte, wie Michael Wagner vermutet - die Behörde zeigt sich hartleibig. Ein nachträgliche Bau- oder Nutzungsgenehmigung sei nicht mehr zu haben, die Hütte befinde sich in einem unerschlossenen Außenbereich. Schmalkalden-Meiningens Landrat Ralf Luther sieht nur einen Ausweg. Der Verein müsse die Anbauten aus den 1930er Jahren abreißen und die Hütte in den ursprünglichen Zustand zurückversetzen. Als allzeit und für jedermann offene Wanderhütte könne sie stehen bleiben, "so wie jede Wanderhütte". Der Verein hat sich jedoch für einen anderen Weg entschieden. Er will die Hütte als Denkmal anerkannt wissen. "Wir bereiten einen Antrag vor", sagt Richarz. "Auch wenn das Gebäude bauhistorisch unbedeutend sein soll."

Anarchismus und Anarchosyndikalismus

Der Anarchismus (griechisch für "Herrschaftslosigkeit") ist die Lehre von einer Gesellschaft ohne jegliche Herrschaft von Menschen über Menschen. Anarchisten lehnen Hierarchien und politische Herrschaft als Unterdrückung individueller und kollektiver Freiheit ab. Grundlegende Werte des Anarchismus sind Freiheit, Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Selbstverwirklichung jedes Einzelnen und gemeinschaftliche Selbstverwaltung. In einer anarchistischen Gesellschaft sollen sich selbstbestimmte Menschen freiwillig zusammenschließen und das gemeinschaftliche Leben in allen Bereichen selbst organisieren.

Der Anarchosyndikalismus ist die bekannteste politische Richtung des Anarchismus. Sie entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts und schrieb sich die revolutionäre Überwindung des Staates und der kapitalistischen Gesellschaft durch die Übernahme der Produktionsmittel in gewerkschaftlicher Selbstorganisation auf die Fahnen. Die Bewegung erlebte ihren Höhepunkt in der anarchistischen Revolution in Spanien Ende der 30er Jahre.

Wie andere Formen des antiautoritären Sozialismus wurden anarchistische Ideen von orthodoxen Marxisten als "kleinbürgerlich-pseudorevolutionäre Ideologie" abgelehnt.

Marco Schreiber

Aus: Meininger Tageblatt vom 10.11.2010

Originaltext: http://www.syndikalismusforschung.info/fwbakunin.htm