Voline  - Der Stalinismus: „Verrat der Revolution“?

Von einem „Verrat an der Revolution“ zu sprechen, wie Trotzki es tut, läßt die „Erklärung“ nicht nur außerhalb jeder marxistischen oder materialistischen Konzeption, sondern auch außerhalb eines gewöhnlichen gesunden Menschenverstandes suchen. Wie war ein derartiger „Verrat“ möglich und noch dazu am Tage nach solch einem schönen und vollkommenen Sieg der Revolution?

Denkt man darüber nach und untersucht man die Situation aus der Nähe, so wird auch dem am wenigstens Eingeweihten aufgehen, daß dieser angebliche „Verrat“ keineswegs vom Himmel herunterfiel; daß er die „materielle“ und rigoros logische Konsequenz der Art und Weise war, in der man die Revolution geführt hatte.

Die negativen Resultate der Russischen Revolution waren nur der Endpunkt einer gewissen Entwicklung. Und das Stalinistische Regime war nur das unvermeidliche Ergebnis des Vorgehens von Lenin und Trotzki. Was Trotzki „Verrat“ nennt, ist in Wirklichkeit der unvermeidliche Effekt einer langsamen Degeneration, die ihre Ursache in falschen Methoden hat.

Genauer gesagt: Das regierungsmäßige und etatistische Vorgehen führt zum „Verrat“, d. h. zu jenem Bankrott, der heute „Verrate“ erlaubt - wobei die letzteren nur ein ins Auge stechender Aspekt jenes ersten Bankrotts sind. Andere Methoden hätten zu anderen Ergebnissen führen können. In seiner blinden Voreingenommenheit (oder besser, in seiner unbeschreiblichen Heuchelei) unterläuft Trotzki die am leichtesten zu durchschauende aller Verwechslungen, die in seinem Falle wirklich unverzeihlich ist: er verwechselt die Wirkungen mit ihren Ursachen.

Indem er auf so krude Weise sich selbst täuscht (oder vorgibt, sich selbst zum Narren zu haben, da ihm kein geeigneteres Mittel einfällt, seine These zu stützen), nimmt er die Wirkung (oder den Verrat durch Stalin) für die Ursache. Ein Irrtum - oder wohl eher ein Manöver -, der ihm erlaubt, über das wirkliche Problem hinwegzusehen, das da lautet: Was machte den „Stalinismus“ möglich?

„Stalin hat die Revolution verraten“: Das ist einfach. Es ist jedoch zu einfach, überhaupt irgend etwas zu erklären. Doch die Erklärung ist keineswegs schwierig. Der „Stalinismus“ ist das natürliche Ergebnis des Bankrotts der wahren Revolution und nicht umgekehrt; und der Bankrott der Revolution, um den Gedanken weiterzuspinnen, war die natürliche Folge des falschen Weges, auf den der Bolschewismus sie geführt hatte. Mit anderen Worten, es war die Degeneration der vereitelten und verlorenen Revolution, die zu Stalin führte, und nicht Stalin, der die Revolution degenerieren ließ.

Als sie von der Krankheit befallen wurde, hätte der revolutionäre Organismus ihr durch freie Aktionen der Massen siegreich widerstehen können; aber nachdem die Bolschewiki, angeführt von Lenin und von Trotzki selbst, ihnen alle Mittel der Selbstverteidigung gegen das Übel genommen hatten, mußte dieses unvermeidlich den ganzen Organismus infizieren und ihn töten. Der „Verrat“ war möglich, weil die Massen weder gegen seine Vorbereitung noch gegen seine Ausführung reagierten. Und die Massen reagierten nicht, weil sie, von ihren neuen Herren völlig unterjocht, sehr rasch sowohl den Sinn für die Bedeutung der wahren Revolution als auch allen Geist der Initiative, der freien Aktion und Reaktion verloren. Gekettet, unterjocht, beherrscht, fühlten sie die Nutzlosigkeit - was sage ich? -, die Unmöglichkeit jeden Widerstandes. Trotzki nahm persönlich teil an der Wiedererrichtung des Geistes blinden Gehorsams unter den Massen, dumpfer Gleichgültigkeit allem gegenüber, das „oben“ vor sich ging. Die Massen waren geschlagen, und zwar auf lange. Von da an wurde jede Art von „Verrat“ möglich.

Im Lichte all dieser Argumente laden wir den Leser ein, sich ein eigenes Urteil über die bolschewistischen „Errungenschaften“ zu bilden

Aus: Achim v. Borries / Ingeborg Brandies: Anarchismus. Theorie, Kritik, Utopie. Joseph Melzer Verlag, Frankfurt 1970

Nach: Nineteen-Seventeen. The Russian Revolution Betrayed. Landon 1954, 249 f. [Französische Ausgabe Paris 1947] Aus dem Englischen von Ingeborg Brandies

Mit freundlicher Erlaubnis des Abraham Melzer Verlag´s

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