Josef Peukert tot

Bis zuletzt ein Proletar, sein einziger Stolz, ist er in der Nacht des 4. März im Deutschen Hospital zu Chicago gestorben. Nicht einmal soviel brachte ihm das Leben ein, daß er zuhause sein Krankenlager und Sterbebett haben konnte. Als armer und stets von der Arbeit seiner Hände abhängiger Mensch durfte er es sich nicht gönnen, auch nur die armseligen Annehmlichkeiten zu begehren, die der Besitz von Geld dem Kranken bietet, der sich Arzt und Wartung ins Haus kommen lassen kann. Nach etwa einjährigem Siechtum mußte Peukert, der an Arterienverkalkung litt, ins Hospital überführt werden, und nun hat der Tod den in den Fünfzigerjahren stehenden ehrlichen Freiheitskämpfer aus den Reihen des internationalen Proletariats gerissen.

Josef Peukert war ein Deutschböhme und ist im Gablonzer Bezirk in Nordböhmen geboren worden. Von Früh auf lernte er das Elend kennen, und es hat ihn nie verlassen. Er wurde Anstreicher und schloß sich schon in jungen Jahren der revolutionären Bewegung an, deren Ideen er auf seinen Wanderungen kennen lernte. In Österreich war er einer derjenigen, die den Grund für die hiesige, damals kleine, aber echt revolutionär-sozialdemokratische Bewegung legten. Es gehört zu Peukerts großem Verdienst, daß er, der durch ungeheuer großen Fleiß und Ausdauer sich ein bedeutendes Wissen angeeignet hatte und besonders durch die Erlernung der französischen Sprache mit den Prinzipien Peter Kropotkins bekannt geworden war, zuerst es versuchte, einigermaßen geistige Klarheit in der Atmosphäre dieser Bewegung zu schaffen.

Die Zeit seiner Organisation- und Agitationstätigkeit in Österreich darf die Fruchtbarkeit der österreichischen Arbeiterbewegung genannt werden. Es würde zu weit gehen, ein großzügiges Gemälde des Wirkens dieses sich oftmals mit einem trockenen Stück Brot bescheidenden Agitators zu zeichnen. Die Arbeiterbewegung befand sich damals auf der Höhe einer Flutwelle, die alles mit sich fortriß. Alle die wirtschaftlichen und politischen Rechte, deren sich das österreichische Proletariat heute wenigstens im allerminimalsten Sinne erfreut, hat es der Schar jener revolutionären und durchaus bis zum Tode opfermütigen Männer und auch Frauen zu verdanken, die durch ihre rastlose Kampfesbegeisterung und hochfliegenden Ziele, durch die Aufrechterhaltung einer geheimen Bewegung die Regierung wie den Kapitalismus zwangen, die allernötigsten Reformen und Zugeständnisse zu machen und der Arbeiterbewegung ihr Betätigungsfeld am lichten Tag und in aller Öffentlichkeit zu gewähren. An der Spitze dieser Männer stand Peukert, ein vorzüglicher Agitator, ein kraftvoller Redner und ein theoretisch außerordentlich logisch veranlagter Kopf. Und alle die "Erfolge", deren sich die damals marxistische Sozialdemokratie, die "Gemäßigten" auch der Gegenwart rühmen, sind Dinge, die sie zu verdanken haben jenen, die sie geschmäht und verläumdet haben und im Bunde mit der Polizei und Regierung niederschlugen und welche Pioniere die Abtrotzung aller heute zur Gewohnseitssache gewordenen "Rechte" mit Jahren von Zuchthaus bezahlten.

Viel Feind', viel Ehr', so lautet das Sprichwort, aber in Wirklichkeit ist es anders. Das Leben Peukerts bietet uns die Tragik eines opfermütigen Kämpfers, dem selbst in unseren eigenen Kreisen das Leben durch Unverständnis und Haß verbittert wurde. Dies war die Folge einer erbärmlichen Intrige, die die ihn fürchtende Sozialdemokratie, gemeinsam in Wien und Zürich, wider ihn spann und an deren Spitze unter anderen der Sozialdemokrat Grillenberger, ein Korrumptionär reinsten Wassers stand, der das Verleumdungs- und Entehrungsgeschäft in Gemeinschaft mit diversen Parteifreunden kunstvoll unter dem Titel "Die eiserne Maske" betrieb. Ein selbsterklärter Spion war sein Werkzeug, und dieser, im Solde seines Auftraggebers stehend, erklärte Peukert für einen Spion, der den aufopferungsvollen Kameraden Neve verraten haben sollte. Die damalige Polemik, die sich über diese verleumderische Bezichtigung entspann, wäre heute, wo mit ruhigem, nüchternen Blick das Material geprüft werden kann, schon genügend, um Peukert vollständig zu entlasten. Aber es gibt heute noch weit sprechendere Zeugnisse für seine Unschuld, die überdies alle angeführt sind in seinem hinterlassenen Manuskript: "Eines Proletariers Erinnerungen aus der revolutionären Arbeiterbewegung", das in Kürze als Buch erscheinen wird.

Auf jeden Fall aber hatte die edle Sippschaft, die aus feiger Angst vor den Fähigkeiten dieses Mannes, ihn unschädlich machen wollte, in mancher Hinsicht gesiegt: Das Wiener schwarze Kabinett der Polizei lachte sich ins Fäustchen; die Sozialdemokraten hatten mit Aufopferung ihrer Ehre einen Gegner mattgesetzt, was bei ihnen keine Seltenheit; die anarchistische und Sozialrevolutionäre Bewegung zermürbte sich innerlich ob des Problems Peukert-Neve. — Jahrelang gährte es in dieser Weise, dieweil die österreichische radikale Bewegung durch eine Reihe unglückseliger Aktionen und Fehler sich selbst jeden Boden unter den Füßen entzog.

Während all dieser Jahre ging der "Polizeispion" Peukert buchstäblich im Elend unter. Es ist wahr, was er uns einmal schrieb, daß er seinen Todeskeim während dieser Hungerszeit in London in sich legte. Alle die sozialdemokratischen Politikanten, einstmals Proletarier wie er, machten die glänzendste Geldkarriere, die ihnen, wären sie von ihren geistigen oder manuellen Fähigkeiten abhängig gewesen, stets verschlossen geblieben wäre; nur der Gelästerte und Geschmähte, der "Spion", blieb ein am Hungertuch Nagender. Und er blieb seiner Überzeugung unerschütterlich treu. Das ist es, was wir stets an ihm rühmen werden: Daß ihn die Verzweiflung ob solch herzloser Grausamkeit in- und außerhalb der Arbeiterbewegung, oftmals der eigenen Gefährten, nicht der Ehrlosigkeit in die Arme trieb. Hungernd gaben er und Genossen die "Autonomie", das, neben der "Berner Arbeiter-Zeitung", erste kommunistisch-anarchistische Organ in deutscher Sprache — Most's "Freiheit" war damals noch stark marxistisch-sozial-revolutionär, später kollektivistisch-anarchistisch — heraus. Bis zum heutigen Tage ist dieses Organ eine Fundgrube edelsten anarchistischen Geistes, und es übermannt einem die Rührung, wenn man die vergilbten Blätter durchsieht und sich vorstellt, was Arbeiter leisten können, wenn sie nur wollen.

Auch in Amerika, wohin er später sich wandte, ging Peukert nicht unter im Sumpfe des Mammonismus. Sowohl in der anarchistischen, als auch gewerkschaftlichen Bewegung stellte er bis zum letzten Atemzuge seinen Mann: ein schlichter Proletarier, bis zuletzt der Anstreicher, sich von seiner Hände Arbeit ernährend — aber gleichzeitig der leidenschaftliche Kämpfer und Agitator für das erhabene Ideal des Anarchismus.

Wenn wir heute an das frisch aufgeworfene Grab Josef Peukerts herantreten, dann tun wir es mit den Gefühlen der Liebe und Achtung. Hier ist ein Mann gestorben, der als Mensch groß war und sich als einer, der viel getragen, einen Ruhmeskranz gewunden hat. Wir werden nie vergessen, was wir ihm schulden, was er gelitten und gebüßt hat um seiner vielleicht allzugroßen Hingebungskraft für des Volkes Sache ... Wir, die neue Generation des Anarchismus, gedenken seiner mit Verehrung — wenn wir seine Ausdauer, Kraft und seinen Mut besitzen, dann wird das Ideal Peukerts, die Anarchie, erstehen in Wirklichkeit. Wir können nichts Auszeichnenderes über den Dahingeschiedenen mehr sagen.

II.

In letzter Stunde bringt uns Gen. Ramus den nachfolgenden Brief mit dem Ersuchen um Veröffentlichung. Wir kommen diesem Verlangen um so freudiger nach, als der Inhalt des Briefes ganz unserer Meinung entspricht, und wir Gelegenheit nehmen können, dem Gen. Martin Drescher, dem Verfasser nachfolgenden Schreibens, dafür öffentlich zu danken, daß er und die übrigen Chicagoer Kameraden gerade den "W.f.A." mit ihrer Zuschrift bedacht haben.

Chicago, den 16. März 1910

Lieber Rudolf!

Am 3. März ist hier in Chicago ein Mann gestorben, dessen Lebensgang von erschütternder Tragik umhüllt war: Josef Peukert.

Bis auf den letzten Platz war die geräumige Halle gefüllt, in der drei Tage später dem Toten die sogenannten letzte Ehre erwiesen wurde. Ob die Versammelten alle von der Überzeugung durchdrungen waren, daß dem Dahingeschiedenen im Leben bitterstes Unrecht geschehen, daß er ein schuldlos Verfehmter war? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich selbst nie und nimmer zu glauben vermag, er habe schmutzigen Verrat geübt, und ich weiß, daß diese meine Meinung von Männern geteilt wird, die ich schätze und liebe.

Wer ihn näher gekannt hat, wie er mit müdem Lächeln still und gelassen seines Weges ging und nur dann in Erregung geriet, wenn von seinen und unseren Idealen, von den Idealen des Anarchismus gesprochen wurde, der mußte ihn irgendwelcher Gemeinheit für unfähig halten. Wer mit Josef Peukert verkehrt hat, für den war es ausgeschlossen, daß er den unglücklichen Neve den preußischen Schergen in die Hände gespielt haben soll. Der Chicagoer Debattierklub hat seinerzeit eine eingehende Untersuchung der trüben Affaire veranstaltet. Er hat diese Untersuchung mit einer lauten Ehrenerklärung Peukerts beendet. Die Stimmen der Verdächtigung sind dadurch nicht zum Schweigen gebracht worden. Aber die Vorurteilsfreien sollten fortan jeder Anklage sich enthalten.

Josef Peukert ist von einem Schicksal getroffen worden, wie es erschütternder nicht gedacht werden kann: Die eigenen Parteigänger, die Menschen, für die er kämpfte, haben ihn gebrandmarkt. Vom Feinde mit Schmutz beworfen zu werden, rührt keinen Tapferen. Aber aus den eigenen Reihen Steinwürfe zu empfangen, ja, schlimmer als das, der Verachtung preisgegeben zu werden, das muß dem Wahnsinn nahe bringen. Peukert ist nicht in Verzweiflung zu Grunde gegangen. Er hat den furchtbarsten Beschuldigungen Stand gehalten mit einer schlichten Würde, wie sie nur das unbefleckte Gewissen verleiht. Für mich liegt in seinem gelassenen Ausharren ein Heldentum allererster Art, ein Heldentum, dem auch die schlimmsten Wunden keinen wilden Schmerzensschrei zu entlocken vermögen.

Peukerts Name ist mit der Geschichte des Anarchismus aufs engste verknüpft. Sein propagandistisches Wirken, speziell in Österreich, wird im "W.f.A.", das bin ich sicher, gebührende Würdigung finden. Ich wollte hier nur für mich und eine Anzahl wackerer Kameraden unsere Überzeugung von Peukerts Schuldlosigkeit, unsere Achtung vor der Tapferkeit, mit der er Jahr um Jahr sein Schicksal trug, zum Ausdruck bringen.

Dein Martin Drescher.

Aus: "Wohlstand für Alle", 3. Jahrgang, Nr. 7 (1910). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.