Geschichte des ungarischen Anarchismus (1987)

Seit ca. einem Jahr gibt es in Ungarn wieder erste anarchistische Ansätze. (Siehe dazu da Nr. 66 u. 67; SF Nr. 24 u. 26.) In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, einmal auf die Geschichte des Anarchismus in Ungarn hinzuweisen. Dazu muss bemerkt werden, dass der Anarchismus in Ungarn nie eine entscheidende Rolle gespielt hat. Es gab keine kontinuierliche, breite anarchistische Bewegung. Deshalb wird im folgenden nur auf die herausragenden Beispiele des Anarchismus in Ungarn eingegangen werden. Die erste anarchistische Gruppe bestand hauptsächlich aus radikalen Sozialisten und existierte zwischen 1880 und 1884. Anfänglich begriff sich die Gruppe als parteiinterne Opposition der Ungarischen Allgemeinen Arbeiterpartei. Ihre Mitglieder hatten engen Kontakt zu Johann Most und publizierten ihre oppositionellen Anschauungen in seiner Zeitung "Freiheit". Vorgeblich dieser Veröffentlichungen wegen, wurden sie aus der Partei ausgeschlossen und gründeten daraufhin eine legale, radikale Arbeiterpartei. Sie gingen vom Klassenansatz aus und versuchten, die soziale Revolution zu erkämpfen.

Die sozialdemokratische Taktik des parlamentarischen Kampfes und der Reform des Kapitalismus lehnten sie ab. Sie strebten den Umsturz der bestehenden Klassengesellschaft an um wo unten eine Volksherrschaft zu verwirklichen. Ihre Anschauungen waren stark antiklerikal, internationalistisch und antimilitaristisch. Im Kampf gegen die Klassengesellschaft befürworteten sie (auch) die Propaganda der Tat. In Bezug auf das zukünftige Gesellschaftsmodell kam es allerdings zu Spaltungen; die einen strebten eine selbstverwaltete, anarchistische Gesel1schaft an, die anderen traten für einen sozialistischen Staat ein. Die zweite Richtung des ungarischen Anarchismus ist mit dem Philosophen Henrik Jänö Schmid verknüpft. In seinem Hauptwerk "Religion des Geistes" verkündete er die Prinzipien des "idealen Anarchismus": Der Staat sei nichts anderes als der auf dem Militär beruhende Staatsterror. Sein Wesen bestehe in der Legalisierung der Ausbeutung, die mit Hilfe des Rechtssystems, d.h. mit Zwang und bewaffneter Gewalt durchgesetzt werde.

Gewalt war für Schmid in jedem Fall ein Verbrechen; schon die Existenz des Staates bedeutete also ein Verbrechen. Dementsprechend lehnte er jegliche Gewalt ab. In seiner Zeitschrift "Ohne Staat" (1897-1899) propagierte er die völlige Gewaltlosigkeit. Die Umwälzung der herrschenden Ordnung stellte er sich mittels einer weltanschaulichen und kulturellen Revolution vor, gewissermaßen einem Wandel in den Köpfen der Menschen. Die Basis der neuen Kultur sollte die, von jeglicher kirchlicher Organisation und Dogmatik befreite christliche Idee sein.

Schmid stand in enger Beziehung zu Tolstoi; sein Anarchismus war aber noch spiritueller als der Tolstois. Eine weitere Richtung des ungarischen Anarchismus vertrat Graf Erwin Battyany (1877-1934). In Anlehnung an Kropotkin, Reclus und Carpenter betonte er die Prinzipien der Zusammenarbeit und der gegenseitigen Hilfe. Sie seien die Triebkräfte der Geschichte, ihre vollständige Verwirklichung die Anarchie. Der Mensch müsse sich dem Wirkungskreis des Staates entziehen, das Bewusstsein der Solidarität entwickeln und Respekt und Gehorsamkeit gegenüber staatlicher Autorität untergraben. Battyany lehnte den autoritären Sozialismus ab; er stütze sich anstatt auf gegenseitige Hilfe auf despotische Staatlichkeit. Battyany übernahm auch einige Aspekte der anarchosyndikalistischen Theorie, obwohl er nie Anarchosyndikalist wurde. In Bezug auf die zukünftige Gesellschaft mass er der Arbeiterbewegung eine entscheidende Rolle zu: Die Entwicklungsperiode von Solidarität könne der Mensch mit einer politischen Revolution nicht einfach überspringen; der Sozialismus könne nur von selbständig denkenden und handelnden Menschen verwirklicht werden. Deshalb müsse die Arbeiterbewegung Solidarität praktizieren, was sich z.B. bei Streiks, hauptsächlich dem Generalstreik zeige. Sozialismus lasse sich - so Battyany - nur mit wirtschaftlicher Selbstverwaltung und freien Assoziationen aufbauen, während er, ohne gesellschaftliche Solidarität, mit einer schnellen politischen Revolution nur eine neue repressive Macht, eine neue Staatsreligion hervorrufen würde.

Als letztes Beispiel soll die Budapester Anarchistische Gruppe, die während der Räterepublik von 1919 aktiv war, erwähnt werden. Innerhalb dieser Gruppe gab es drei verschiedene Richtungen, die sich durch ihr Verhältnis zur Räterepublik unterscheiden lassen. Die eine Richtung hielt die Diktatur des Proletariats für akzeptabel und sah ihre Rolle in der ständigen Kritik. Sie begriff sich als linke Opposition, deren Ziel die Errichtung einer anarchistischen Gesellschaft gewesen wäre: autonome Individuen, autonome Gemeinde, föderative Volksallianz.

Die Vertreter der zweiten Richtung propagierten die sofortige soziale Revolution. Kritik am Staatssozialismus hielten sie für hoffnungslos; eine Übergangsphase und ein Absterben des Staates könne es nicht geben. Die Vertreter der dritten Richtung sahen, in Anlehnung an Schmid, im Anarchismus eine kulturelle Bewegung. Nach dem Zusammenbruch der Räterepublik kam der Terror der Weissen; der Anarchismus in Ungarn hörte auf zu existieren. Auch in den 30er Jahren, als die Arbeiterbewegung wieder lebendig wurde, gab es keine Anarchisten mehr. Während der Revolution von 1956 entstanden Arbeiterräte, die anarchistische Tendenzen aufwiesen, aber einen bewussten Anarchismus hat es wohl kaum gegeben (wegen der Unzugänglichkeit der Archive lässt sich Genaues nicht feststellen).

Heute gibt es in Ungarn wieder einige - allerdings verstreut und isoliert lebende - Anarchisten. Es bleibt zu hoffen, daß dies der erste Schritt zu einer (organisierten) anarchistischen Bewegung ist.

Aus: direkte aktion # 68, April 88, redaktionell bearbeitet nach "Schwarze Distel" Nr. 4, 1. Jg., Dez. 1987

Originaltext: http://schwarze.katze.dk/texte/a63.html