Die Schwejks der Anarchie - Die Geschiche des Anarchismus in Tschechien und Slovakien

Am Grunde der Moldau wandern die Steine
es liegen drei Kaiser begraben in Prag
das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine
die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag.

(Bert Brecht)

Anarchismus in der ehem. Tschechoslovakai wird für die meisten von uns "Böhmische Dörfer" bedeuten, oder mährische Märchen. Und das, obwohl so illustre Namen wie Jaroslav Hasek, der Autor des "Braven Soldaten Schwejk" oder der des nicht minder bekannten Schriftstellers Franz Kafka damit untrennbar verbunden sind.

Seit dem Desaster von 1945 und der damit verbundenen Vertreibung von ca. 2 Millionen Deutschen aus dem tschechischen "Sudetenland" (Grenzziehung nach WK I!), ist der Ostblockstaat Tschechoslovakei weitgehend weißes Blatt für jüngere Deutsche gewesen, obwohl die Geschichte beider Völker über rund ein Jahrtausend aufs Engste verknüpft war. Nur der "Prager Frühling" der sozialistischen Reformbewegung von 1968, die von den Panzern des Warschauer Paktes (einschl. derer der DDR) niedergewalzt wurde, ließ das Land eine besondere Rolle in unserem Bewußtsein spielen.

Prag war Jahrhunderte lang Kaiserstadt des sog. "Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation" und die erste Universitätsstadt der Welt. Die Universität Leipzig wurde von dort aus gegründet. Bis Mitte des letzten Jahrhunderts lebten noch etwa 40% Deutsche in Prag. Heute sind es gerade 1%. Aber schon während der Hitlerzeit waren es nur noch etwa 5% Deutschsprachige, denn ihre Abwanderung war kontinuierlich erfolgt, seitdem die deutschen Handelsprivilegien widerrufen worden waren. Lange Zeit, bis zum Ersten Weltkrieg, gehörte die Tschechoslovakei zur ungarisch-östereichischen K&K Donaumonarchie und wurde stark von diesem Einfluß geprägt. Prag nimmt sich denn auch etwas wie eine Mischung von Salzburg und München aus, hat aber einen ganz eigenen Charme und Flair. In dieser zauberhaften Stadt, die durchaus noch zu Fuß erlebbar ist, und in der das Mittelalter noch in der Luft zu liegen scheint, wird Geschichte fühlbar.

Unter dem Eindruck der historisch-politischen Konstellation nimmt es nicht wunder, daß nach heutigem Wissensstand die ersten Einflüsse des Anarchismus aus dem deutschen Sprachraum kamen. "Unsern ersten Vorkäpfern war lediglich die deutsche Literatur zugänglich." (Komuna, 1907). Der vom äußerst erfolgreichen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten zum radikalen Anarchismus der Tat konvertierte Johann Most, beschickte auf geheimen Wegen das deutschsprachige Europa mit seiner Zeitschrift FREIHEIT, die auch spätestens ab Anfang der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts in der Tschechei, besonders in Nordböhmen mit seinem hohen deutschen Bevölkerungsanteil gelesen wurde. Aber aus Chicago U.S.A kam auch Budoucnost (Zukunft), ein revolutionäres Untergrundblatt nach Böhmen. 1883 erschien ein Flugblatt, das mit den Worten begann "Volk öffne deine Augen!" und neulich zum Namensgeber des Büchleins des Historikers Vaclav Tomek von der Karls-Universität Prag wurde. (Edition Wilde Mischung Bd. 11, Verlag Monte Verita, Wien 1995 - ISBN 3-900434-55-7). Das optisch ansprechende, zweisprachige, aber leider nicht sonderlich gut editierte Werklein (Bearbeitung A. Maierbrugger) gibt Auskunft über das Werden des tschechischen Anarchismus nach dem heutigen Stand des Wissens, mit einer aktuellen Gegenwartsergänzung. Auf seiner Basis und zusätzlichem Material (siehe Bibliographie) wurde diese Zusammenfassung erstellt. Weitere Ergebnisse historischer Nachforschungen werden mit Sicherheit zukünftig das hier skizzierte Bild notwendig ergänzen.

An erster Stelle erwähnenswert ist der Besuch des später bekannten anarchistischen Agitators Michail Bakunin im Jahre 1848 in Prag. Jedoch führte ihn nicht die Propagierung der Anarchie dorthin, deren Idee sich erst rudimentär bei ihm bildete, sondern der Kongress aller Slawen. Seine Vorschläge zu einer sozialen politischen Föderation der slawischen Völker trafen auf eisige Ablehnung. Als die Prager Studenten gegen seinen Rat (er war ehemaliger Offizier) den Juniaufstand gegen die Habsburger Beherrscher durchführten, war er trotz besserer Einsicht an ihrer Seite. Nach drei Tagen wurde der Widerstand gebrochen und Bakunin mußte fliehen.

Mit dem Jahre 1883, 35 jahre später, beginnt erst die uns bekannte anarchistische Geschichtsschreibung, die offenbar weitgehend unter dem Einfluß der terroristischen "Propaganda der Tat" stand. Die tschechischen Anarchisten dieser Epoche wollten offenbar durch Rache und provokative Gewalttaten gegen Systemrepräsentanten die Gesellschaft aufrütteln. Die Herrschenden sollten zu unüberlegter Brutalität gereizt werden, die in der Gegenreaktion zum Volksaufstand, zur Revolution führen sollte. Natürlich dachten nicht alle Anarchisten so und die grellsten Töne standen weitgehend in krassem Gegensatz zur Häufigkeit tatsächlich erfolgter Anschläge und Attentate.

In der FREIHEIT von 1882 fanden sich zum Beispiel solche Sätze wie: "Wir sind für Attentate auf politischem und für aktive Unterdrückung des Privateigentums auf politischem Gebiet." (evtl. schlecht zitiert. d.S.). Will sagen Enteignungsaktionen. Solche Töne finden sich dann auch in einem tschechischen Flugblatt von 1883 ein: "Wenn jeder von denen, die aus Not und Armut sich das Leben nehmen wollen, einen solchen Vampir ins Jenseits begleiten wollte, wäre die Gesellschaft bald von solchen Ungeheuern in Menschengestalt befreit." Das klingt allerdings sehr nach Johann Most.

Im Jahre 1898, am 10. September, nahm der italienische Anarchist Luigi Luccheni per Dolchstoß die Östereichische Kaiserin Elisabeth (besser bekannt als heimatkitschige "Sissi") mit in den Orkus. Das erscheint nicht gerade als sympathische Heldentat, doch galt "Sissi" ihm als Repräsentantin und Symbol der bluttriefenden, imperialistischen Kolonialmacht Österreich, von der ja auch die Tschechoslovakei besetzt war. Knapp zwei Jahre später, im Juli 1900 fand der italienische König Umberto in Monza in dem Anarchisten Angelo Bressi sein Schicksal. Auch die Trauer um Umberto dürfte sich angesichts der königlichen Taten bei den abeitenden Menschen durchaus in Grenzen gehalten haben. Die tschechischen ArbeiterInnen scheint jedenfalls die anachistische Attentatsserie, die damals die Welt erschütterte, nicht davon abgehalten zu haben, sich den Ideen der AnarchistInnen zu nähern.

Tatsächlich faßte mit den terroristischen, antiklerikalen und antiautoritären sozialistischen Parolen die anarchistische Bewegung in der tschechischen Arbeiterschaft bald Fuß. Das Antisozialistengesetz von 1886 wirkte auf die Tendenz nur fördernd und radikalisierend.

Als Kehrseite der Medaille fand sich die anarchistische Bewegung jedoch von Scharen von Spitzeln unterwandert. Die so entstehende Atmosphäre von Mißtrauen und Verdächtigungen hatte eine derart zersetzende Wirkung, daß es schon bald zu massiven Zerfallserscheinungen kam.

In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich eine neue Tendenz im tschechischen Anarchismus, als sich Studenten der Prager Universität mit anarchistischen Arbeitern zu verbünden begannen, und anarchistischen Ideen auch in der Intelligenz langsam mehr Fuß faßten. Der Kristallisationsprozess begann um die Zeitung der Arbeiterjugendbewegung "Omladina" (Jugend), wie ein Polizeibericht von 1891 belegt. In Opposition zur Sozialdemokratischen Partei schreibt Omladina 1893: "Zu unserem Ziel, d.h. der Feiheit oder Unabhängigkeit, führt also ein Vereinigungsprozess unter Beibehaltung der Individualität. (...) Zur Unabhängigkeit kann also kein verschlingender Vereinigungsprozess führen, wie die Zentalisierung ist, sondern ein bewahrender Einigungsprozess, die Föderation. Deshalb bevorzugen wir die Föderation gegenüber der Zentralisierung, deshalb wollen wir Selbstverwaltung (Autonomie), (...)"

Mit der jungen sozialdemokratischen Opposition ging auch ein großer Teil der ganzen linken sozialdemokratischen Opposition zu den Anarchisten über, ähnlich wie in Deutschland. Als eigenes Publikationsorgan der ursprünglich gemäßigten Sozialdemokraten um Vilèm Körber erschein "Novy vek svobody" (Das neue Zeitalter der Freiheit, i.J. 1892).

Andere Zeitschriften der 90er Jahre waren "Komuna", "Moderni Revue" (seit 1894), "Volny duch" (Freier Geist, 1894-96), "Novy kult" (Neuer Kult, seit 1897), Matice delnicka (Arbeiterverein, 1998).

Nach dem Manifest von 1896 (Zusammenstellung: A.P. Kalina) war das Bestreben der Anarchisten im Wesentlichen die Schaffung eines revolutionären freiheitlich-sozialistischen Bewußtseins in der Arbeiterklasse, das zu ihrer Selbstorganisation führen sollte. Der Parlamentarismus wurde als steril, und das Allgemeine Wahlrecht wurde als "Entschärfung der revolutionären Bestrebungen des Proletariats" abgelehnt. Der Staat und sein Machtmittel Militär wuden als Schutzkräfte des Kapitals klassifiziert, und das Recht auf Privateigentum an Naturgütern und Produktionsmitteln für nichtig erklärt. Ziel war " (...) die Bedeutung, Kompetenz und Leistungsfähigkeit der Mächtigen gegenüber den Individuen durch die Anwendung autonomer Grundsätze (zu) reduzieren und so zu einer völligen Anarchie (zu) gelangen." Und an anderer Stelle: " (...) auf die Entstehung starker, unbeugsamer Charaktere, auf individuelle Selbstständigkeit hinzuwirken, um so der Möglichkeit einer Abhängigkeit von Autorität vorzubeugen (...)". Wie modern klingt das!

"Der politische Radikalismus der Omladina-Generation suchte die Einflüsse des Individualismus, der symbolisch-dekadenten Poesie und des Anarchismus unmittelbar am Anfang, sobald sie sich ihres anarchistischen Kernstücks mit Gewißheit bewußt geworden war, ihren Anarchismus als philosophischen und ökonomischen Individualismus geformt hatte, und zwar lange vor jenem Zustrom der Intelligenz, insbesondere seitens der Literaten." (Komuna)

In diesem Klima wurden die Ideen Friedrich Nietzsches rezipiert und in dessen Gefolge die von Max Stirner (der ja eigentlich dessen geistiger Vater war) und anderer. Schließlich wurden die Ideen Michael Bakunins, Peter Kropotkins und der Franzosen Jean Grave und Elisèe Reclus vermittelt. Seither war auch von "anarchistischen Kommunismus" die Rede.

Immer neue Zeitschriften entstanden: "Matice svobody" (Freiheitsverein), "Bezvládi" (Anarchie, 1906), "Pràce" (Arbeit, 1905), "Novà Omladina", "Mlady prukopnik" (Junge Bahnbrecher, 1910), "Chud'as" (Der Habenichts), "Zadruha" (Gemeinschaft, 1911). Diese waren einer ständigen polizeilichen Verfolgung ausgesetzt, und, je nachdem, wurden Artikel oder ganze Ausgaben der Zeitschriften beschlagnahmt und ihre Redakteure verfolgt.

In diesen Zeitschriften schrieb auch Jaroslav Hasek, der geniale Autor des weltberühmten Antikriegsromans "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" (lies dazu: Lausige Geschichten, Karin Kramer Verlag, Berlin 1992). Hasek war aktives und auch handfest mitmischendes Mitglied der Anarchistischen Föderation, Redakteur verschiedener Zeitschriften, und geriet aus politischen Gründen öfter mit der Polizei aneinander.

Auch mit von der Partie bei den AnarchistInnen, wenn auch nicht so in vorderster Front wie Hasek, war Franz Kafka, Sproß einer gutsituierten jüdischen FAmilie im Zentrum Prags. Kafka war Angestellter bei einer Arbeiterunfallversicherung, wo er offenbar alles Leid er Welt zu Gesicht bekam. Als Ausdruck dessen und der tiefempfundenen Unterdrückung in der düsteren Atmosphäre seiner patriarchalisch geprägten Familie, wandte er sich der anarchistischen Bewegung zu, deren Ideen er bis zu seinem frühen Tod verbunden blieb, ohne Aufhebens davon zu machen. (ausführlicher Artikel in "trafik")

Daß Hasek einen antimilitaristischen Roman schrieb, ist kein Zufall, denn ein Schwerpunkt der tschechischen anarchistischen Bewegung war der ideologische Kampf gegen das Militär und den Krieg. Der Erste Weltkrieg gab diesen Bestrebungen nur allzu recht. Der Anarchist Fràna Sramek schrieb 1905 im Artikel "Bacil militristicky" (Der militärische Bazillus): "Auf dem Weg des Militarismus werden einige tausend Menschen zu Mördern für den künftigen Augenblick ausgebildet, dessen Eintreten von diplomatischen Gauklern bestimmt wird." Staat und Militär waren für die AnarchistInnen ein und das selbe, weil doch das Militär nur das fürchterlichste und letztendliche Machtinstrument der Machtansammlung Staat darstellte. Als weiteren Hauptfeind sahen sich die AnarchistInnen mit dem Klerikalismus konfrontiert. S.K. Neumann, ein wichtiger anarchistischer Theoretiker schreibt dazu 1904 in der "Omladina": "Die Kirche hält duch ihren Einfluß auf die Gehirne der Leute den Staat aufrecht." Jaroslav Hasek schrieb mit Vorliebe Spottgeschichten auf den Klerus und die Dummgläubigkeit der kleinen Leute.

In Nordböhmen, wo die Kohle-Bergleute "gewaltsam germanisiert" (Radko Pytlik) wurden, wuden die Gewerkschaften mit ihrer Taktik der "direkten Aktion" zu einer Hauptwaffe im Kampf gegen das Kapital und die es schützenden Institutionen. Es gründete sich 1904 die "Ceskà federace vsech odboru", die Tschechische Föderation aller Gewerkschaften", die alle "Revolutionäre und Sozialisten" vereinen sollte. Ihre Zielsetzung war die Liquidierung des Staates durch den Generalstreik und die Organisierung der gesellschaft nach syndikalistischen Prinzipien. Karel Vohrzyzek, der Herausgeber der Nova Omladina und Komuna wurde zum führenden Kopf in ihr. Durch seine Ausweisung aus den nordböhmischen Bezirken war er zu einer Art "Märtyrer" geworden und agitierte von Prag aus weiter. Der Generalstreik wurde in solchem Maße als anarchistische Praxis angesehen, daß mensch sogar bereit war, ihn zum Zwecke der Übung auch bei nicht anarchistischen Zielsetzungen, wie z.B. der Erringung des allgemeinen Wahlrechts anzuwenden, also quasi neutral. Davon wurde 1910/11 aber wieder abgerückt und politisches Bewußtsein in den Gewerkschaften eingefordert. In Nordböhmen konnte sich der Anarchismus so auf einer breiten proletarischen Basis etablieren, die den ArbeiterInnen auch eine politisch-praktische Perspektive zur Gesellschaftsveränderung bot.

Im selben Jahr gründete sich als zweites Kampfinstrument, vergleichbar mit der spanischen FAI, die "Ceskà anarchtisticka federace" (Tschechische Anarchistische Föderation), als bewußt anarchistische Vereinigung, in der auch viele Intelektuelle ihren Platz fanden. Diese Oganisation sollte die anarchistische Agitation in alle Gesellschaftskreise tragen und vertrat den Standpunkt: "(...) der Anarchismus ist keine exklusive Arbeiterbewegung, er ist Ausdruck der Sehnsucht nach allgemeiner Freiheit." Und R. Teshnolidek führt dazu aus: "Unzufriedenheit ist die Quelle unserer Ideen. Radikaler, fortschrittlicher, patriotischer Arbeiter, Realist, Sozialdemokrat, - das sind nur jüngere Bezeichnungen für die selbe Lüge, die anders Konservativer, Liberaler, Kleriker genannt wird. Vergessen wir also nicht, wann immer wir in den Kampf ziehen Gegen alle!"

S.K. Neumann charakterisierte die Funktionen der beiden Organisationen so: die Gewerkschaften sollten mit Massen operierend "(...) Die Faust des tschechischen Anarchismus werden.", während die Anarchistische Föderation eine "(...) freie Vereinigung der anarchistischen Aktivisten aus allen Schichten werden (...)" sollte, die "(...) vor allem die moralischen und kulturellen Bestrebungen aufrechterhalten (...)" sollte. "Sie kann ein Gehirn (des Anarchismus) werden." Mit Neumanns Vorstellung von einer "Auswahl intelligenter Aktivisten" stellte die Föderation faktisch die "Avantgarde" der Anarchie dar. Sie sollte "(...) durch ihren Willen die indifferente Mehrheit mit sich fortreißen.", wie es L. Knotek in der Schrift "Zásady anarchistickeho boje" (Prinzipien des anarchistischen Kampfes) formuliert.

Aber auch das Verhältnis untereinander in dieser Föderation wurde kritisch beleuchtet. Neben der vollen Autonomie der sich anschließenden Gruppen wurde die völlige Autonomie des Individuums betont. R. Tesnohildek schreibt dazu 1906: "Ich kenne Verantwortung gegenüber der Bewegung, ich hasse dieses Wort, es wird selbst zur Autorität, zum Götzen, und zwar nicht unwillkürlich, sondern berechnend und absichtlich (...)".

Ein weiterer Gedanke, der bei der Konstituierung der tschechischen anarchistischen Bewegung der Jahrhundertwende eine Folle spielte, war der Bezug auf tschechische antiautoritäre Traditionen des Mittelalters. Die Wiederholten Rebellionen gegen das deutsche Kaiserreich als Zentralstaat und den katholischen Klerus spielen im historischen Bewußtsein der tschechischen Nation eine entscheidende Rolle. Der Reformator Jan Hus und die nach ihm benannten Hussiten hatten in der tschechischen Geschichte eine bedeutende und militante Stellung. Die zweite hussitische Persönlichkeit mit dem Nimbus eines Volkshelden ist der Heerführer Ziska, der den Kaiserlich-Katholischen empfindliche Schlappen beibringen konnte. Bekannt sind auch die beiden sprichwörtlichen "Prager Fensterstürze", deren einer zum 30jährigen Krieg geführt hat. Ebenso bezogen sich die AnarchistInnen auf den "(...) äußersten linken Flügel der Taboriten (...)" im 15. Jahrhundert, die auf einem Meeting 1906 als "(...) ihrem Wesen nach anarchistisch und kommunistisch (...)" bezeichnet wurden. So ist gut zu verstehen, daß sich die tschechischen Anarchisten darauf stützen und behaupten konnten, daß "(...) Zentralismus und Autoritätsgehabe in völligem Gegensatz zum tschechischen Nationalcharakter stehen.", ein Satz, den man leider mit einem gewissen Schmunzeln quittieren muß. Immerhin fand die Bürokratie auch im Tschechien unserer und vergangener TAge willige DienerInnen.

Im Jahre 1914 kam aus dem Bedürfnis nach größerer gesellschaftlicher Wirksamkeit zum ersten Mal der Gedanke einer anarchistischen Parteigründung auf. Bohuslav Vrbensky schrieb in seinem Modernisierungsentwurf programmatisch: "Die Organisation der Partei der tschechischen Anarchististen-Kommunisten unterscheidet sich völlig von der Organisation der anderen Parteien. Grundlegendes Organisationsprinzip ist die Selbstverwaltung. Wichtigste Einheit ist die autonome Gerwerkschaftsorganisation." Ziel sollte trotz evolutionärer Methoden dennoch die Revolution, herbeigeführt durch den Generalstreik, bleiben.

Eine Fraktion "protestierender Kameraden" mit ihrem Sprecher, dem Schuhmacher Michael Kàcha (Zeitschrift Práce) leistete umgehend vehementen Widerstand, denn sie erblicken in den Vorschlägen "eine Keimzelle, und zwar für künftige Kompromisse". Man befürchtete als Auswirkung der politischen Partei die Diktatur der Mehrheit und also ihr Umschwenken zum Autoritarismus. Weiter wurde angeführt, daß sci die "(...) breite, gefühlsmäßige, gedankliche Strömung (...)" wie sie die Anarchie darstelle, nicht in das rückschrittliche Korsett einer Partei zwängen lasse. Dennoch wurde im April 1914 der Vorschlag der Parteigründung auf dem anarchistischen Kongress angenommen und zur weiteren Bearbeitung und folgenden Beschlußfassung an eine Kommission delegiert. "Die unabwendbare Autorität des Ersten Weltkrieges" (Vaclav Tomek) beendete zunächst diese Diskussion.

Im Internationalen anarchistischen Manifest (London, 1915), erklären die AnarchistInnen zwar dem imperialistischen Krieg den Krieg, "In dem Wirbelsturm des Krieges wurde jedoch die einst deklarierte anarchistische Emanzipationsidee der Freiheit des Menschen unter den historischen Umständen zum Kampf ums nackte Überleben degradiert." (V. Tomek).

Während des Krieges kommt es in Übereinstimmung mit antiösterreichischen Gefühlen, Antimilitarismus und Atheismus zur Fühlungnahme mit anderen selbstandigen, radikalen Gruppierungen auch z.T. nationaler Ausrichtung. Dies führte um 1918 zu einer Annäherung an die tschechische Aozialistische Patei. Unter dem Druck der historischen Ereignisse, der nationalen Befreiung durch Österreichs Niederlage im Kriege, und dem Eindruck der russischen Revolution glaubte man, sich einem neuen Realismus übereignen zu müssen und fundamentale Prinzipien gingen über Bord. Man meinte euphorisch, anarchistische Grundsätze in die neue Sozialistische Partei einbringen zu können und B. Vrbensky, ein bedeutender Repräsentant der AnarchistInnen, wurde dadurch vermutlich der erste anarchistische Minister der Welt. Auch S.K. Neumann, bekannter anarchistischer Radikaler, bekleidete nun den Posten eines Abgeordneten und trat in den Dienst des Schulministeriums. Natürlich gab es auch Bedenken gegen Teile des Parteiprogramms. Auf dem Kongress der AnarchistInnen vom Februar 1919 rechtfertigte man sich mit "dem Augenblick der Tat" (M. Kàcha), der schließlich nicht verpaßt werden dürfe, und daß ja ein Minister in der Regierung die anarchistischen Grundsätze verteidige und vertrete. Man bemühte sogar Kropotkins Werke zur theoretischen Untermauerung und fälschlich seine angebliche Zustimmung zur Sowjetregierung, deren Verbrechen wohl bekannt waren. Vrbensky wiegte sich sogar in dem frommen Selbstbetrug, letztendlich werde die sozialistische Partei das anarchistische Programm anerkennen und übernehmen. Selbstkritisch schreibt die Zeitschrift "Cerven" im März 1919: "Die Autorität wird öfter als die Liebe zur Freiheit triumphieren." Dennoch glaubte man sich ersterer bedienen zu müssen, um die Massen zu erziehen, allerdings weniger brutal als in Rußland. S.K. Neumann schob das "Recht der Wirklichkeit" gegen die widerstrebenden "Freiheitsgefühle" vor. Krieg und sozialer Umsturz scheinen bei ihm und großen Teilen der Bewegung zu völligen Resignation und zum Rückzug auf "Sachzwänge", "Formen, wie sie vom Leben und vom Kampf erzwungen wurden" (Cerven) geführt zu haben.

Im Mai 1920, als sich innerhalb des anarchistischen Flügels der sozialistischen Partei Spannungen breit gemacht haben, wendete sich S.K. Neumann mit einem Aufruf zum Bruch mit den Sozialpatrioten und zur Gründung einer unabhängigen Kommunistischen Partei an das Proletariat des Nordens. "Wir sollten des Programm der Dritten Internationale verbreiten und das Programm des Sozialismus der Tat befolgen, die endlich nach alten utopischen und pseudowissenschaftlichen Irren entsprang."

Die zweite größere Gruppe um Vrbensky jedoch verblieb noch bis 1923 in der Sozialistischen Partei, in der sie immer mehr unter Beschuß geriet und letztendlich ausgeschlossen wurde. Nach einigen Scheingefechten mit der KP schloß sich dieser 1925 endlich doch an. Das erste Kapitel des tschechischen Anarchismus war zu Ende.

Die Zeit von 1925-1989

Natürlich war dies nicht das Ende anarchistisch denkender Menschen in der Tschechoslovakei. Aber z.B. Jan Opietal mit seiner Zeitschrift "Matice svobody" (bis 1924) und Cenel Koerber mit der Zeitschrift "Bezvlàdi" (bis 1923) mußten diese aus Geld-und LeserInnenmangel einstellen. Michae Kàcha ist seiner anarchistischen Überzeugung bis zum Tod treu geblieben. Doch diese Menschen standen in den 20er und 30er Jahren weitgehend alleine, da die junge Revolutionsgeneration die Avantgarde der Kommunistischen Partei unterstütze. Wie und ob sich diese KP von den gängigen moskautreuen KPs unterschied, konnte für diesen Artikel nicht ermittelt werden. Dies, und die Forschung nach eventuellen, von der stalinistischen Geschichtsschreibung "gesäuberten" anarchistischen Aktivitäten der Zeit bis 1989 muß einer künftigen Forschung vorbehalten bleiben.

Nach dem nazi-deutschen Einmarsch und der Annektion zuerst des Sudetengebietes (deutscher Siedlungsraum) am 29.9.1936 und ein halbes Jahr später, am 15.3. 1939 der Rest-Tschechoslovakei als "Reichsprotektorat Böhmen-Mähren", gab es weniger Möglichkeiten für die AnarchistInnen denn je. In den Jahren nach dem Weltkrieg setzte sofort die phase des "Kalten Krieges" ein, der nicht nur in den stalinistischen Paktländern, sondern auch beim Gegner im Westen ein schlimmes politisches Klima schuf. In den späten 60er Jahren schienen die Fronten etwas aufzutauen, doch nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen 1968 in Prag, verschlimmerte sich alles nochmal.

Die linken oppositionellen Gruppen der Zeit von den 30ern bis etwa 1980, die bekannt wurden, waren keine AnarchistInnen, sondern i.d.R. LinksmarxistInnen und TrotzkistInnen. In den 30er-40er Jahren gab es z.B. die künstlerische SurrealistInnen-Gruppe um Karel Telge oder revolutionäre marxistische Antistalinisten wie Závis Kalandra, der in den 50er Jahren von den StalinistInnen hingerichtet wurde. Aus dem Reformprozess von 1968 sind verschiedene radikale antistalinistische StudentInnen und Intellektuelle hervorgegangen. 1969 wurde die Gruppe "Hnuti revolucni nladeze HRM" von der Repression zerschlagen. Einer ihrer Aktivisten war der Trotzkist Petr Uhi, der zu den "Charta 77"-Dissidenten gehörte. Sein Samisdat-Buch (untergründig verbreitet) "Programm spolecenske samapravy" (Programm der gesellschaftlichen Selbstverwaltung) von 1982 wurde später auch von anarchistischen Kreisen gelesen, wo viele Gedanken daraus auf Sympathie stießen. In den 70er und 80er Jahren entstand die kulturelle UNDERGROUND-Bewegung, aus der Anfang der 80er auch die ersten Punk-Gruppen kamen. Einer der bekanntesten Künstler des UNDERGROUND, der Dichter und Philosoph Egon Bondy (eigentl. Name Z. Fiser), war ein revolutionärer Marxist, der auch vom Buddhismus beeinflußt war, und in den 90er Jahren freundschaftlich mit anarchistischen Kreisen verkehrte. Ende der 80er Jahre hatte sich dieser antiautoritären Oppositio0nsbewegung des politischen Dissenses und des kulturellen Underground der junge tschechische und slovakische Anarchismus entwickelt. Auch mittlerweile leichtere Kontakte in den Westen hatten das ihre zur Verbreitung antiautoritären Gedankengutes und dessen Musik und Literatur getan. Die jungen AnarchistInnen, die 1989 die damals noch illegale CAS gründeten, hatten schon an den antiautoritären Demonstrationen von 1988, die dann zur Revolution von 1989 führten, teilgenommen. Diese Revolution öffnete das Tor zu einer neuen Welle des tschechischen Anarchismus.

Jan Lamann, Kalendàr Revolucionàru 1903, Prag 1902

Aus: Kalenda (anarchistischer Taschenkalender) 96

Originaltext: http://schwarze.katze.dk/texte/a73.html