Jörg Auberg - Auf den Spuren eines vergessenen Unversöhnlichen. Eine Portraitskizze von Carlo  Tresca

Anarchism goes to Academia. Häufiger als je zuvor steigen Studenten, Doktoranden und längst im Wissenschaftsbetrieb etablierte Akademiker in die Katakomben anarchistischer Geschichte hinab, tauchen in ein "Vakuum der Exterritorialität" (Siegfried Krakauer), wo der historische Gegenstand sie von der Verantwortung der eigenen Existenz befreit, um nach ausgiebiger Leichenfledderei - "im Dienste der Wissenschaft" selbstverständlich - schließlich wieder in die akademischen Paradetruppen sich einzureihen. Nur selten sind sie bestrebt, "in den heute stattfindenden Auseinandersetzungen konstruktive freiheitliche Perspektiven aufzuzeigen", wie Horst Blume einmal schrieb. Aber trotz allem haben sie, wenn ihre Darstellungen über die Faksimiles der University Microfilms International hinauskommen, am Anarchismus interessierten Menschen eine gewaltige Menge an Wissen und Material zugänglich gemacht, ob dies nun ihre Absicht war oder nicht. Allerdings ist die akademische Arbeit auch von Moden (oder karrieristischen Kalkülen) geprägt: Manches wird in den verschiedensten Variationen untersucht; anderes findet kaum Beachtung. Folgt der wissenschaftlichen Erforschung eine Popularisierung, geht damit zuweilen ein "romantischer Kult" einher, wie Georg Woodcock kritisch bemerkt. Wenige historische Gestalten, aus der Obskurität geborgen, werden in die radikale Genealogie aufgenommen, als die "wahren Revolutionäre" idealisiert, welche zur Identifikation einladen. Exemplarisch hierfür ist Emma Goldman. Leistete Richard Drinnon mit seiner Biografie Rebel in Paradise (1961) noch aufklärerische Pionierarbeit, so ist Goldman heute längst Bestandteil einer "Anarcho-Industrie" und Paperback-Kultur, inzwischen mit sechs oder mehr biographischen und literarischen Studien bedacht. Einmal aus der Vergessenheit gezerrt und zum "Star" verschiedener Zirkel aufgestiegen, wird sie tranchiert und Stück um Stück vermarktet. "E.G.'s Gesicht ziert T-Shirts", schreibt Alix Kates Shulman", ihr Name prankt auf Postern, ihre Äußerungen werden auf Transparenten wiederholt. Es gibt eine Emma Goldman-Frauenklinik in Iowa City, eine Emma-Goldman-Brigade in Chicago, eine Emmatruppe in New York; über E.G.'s Leben wurden Drehbücher geschrieben und Theaterstücke produziert in Städten von Indianapolis über Denver bis hin zu Hollywood. Feministinnen von so weit her wie Japan und Schweden sind zu mir gekommen, nach Material über Emma suchend. E.G. ist unzweifelhaft eine der Heldinnen der Frauenbewegung, als eine militante feministische Vorfahrin im Schrein verwahrt." ("Dancing in the Revolution: Emma Goldman's Feminism", Socialist Review, Nr.61, März-April 1982) Nicht nur der Frauenbewegung, ließe sich hinzufügen.

Solch ein Personenkult geht immer auf Kosten anderer. Die übergroße Projektion Emma Goldmans aus ihrer in die heutige Zeit verstellt den Blick auf eine großflächig verschüttete radikale Geschichte. Obgleich Goldman zweifelsohne eine herausragende Bedeutung im US-amerikanischen Anarchismus zukommt, ist sie doch lediglich eine Vertreterin einer überaus aktiven Generation von Radikalen, welche ohne taktische oder machtpolitische Manöver das bestehende System gemäß ihren libertären Idealen revolutionär verändern wollte. Zu dieser Generation gehörte auch Carlo Tresca, ein italo-amerikanischer Anarchist, der Zeit seines Lebens mit einem breitkrempigen Hut und einem flatternden Schlips durch die Geschichte trottete und die Phantasie sowohl liberaler Intellektueller als auch radikaler Aktivisten erregte. Für Suzanne La Follette war er ein "am eindrucksvollsten aussehender Mann" mit "den freundlichsten blauen Augen hinter seiner Brille", und Max Eastman, bis Anfang der vierziger Jahre ein Anhänger Trotzkis und später ein reaktionärer Antikommunist, sah in ihm den legitimen Nachfolger Eugene Debs', den geschätztesten und respektiertesten Menschen in der antitotalitären Linken.

I. America - Are you being sinister or is this some form of practical joke?

1879 in der mittelitalienischen Stadt Sulmona geboren, wuchs Carlo Tresca als sechstes Kind in einer Grundbesitzerfamilie auf, deren Wohlstand freilich im Schwinden war. Rebläuse hatten die einst profitablen Weinberge ruiniert, und die Trescas mußten mehr und mehr Land verkaufen, um die Schulden begleichen zu können. Gerade als er die Schule hinter sich gebracht hatte und einem trostlosen Angestelltendasein entgegenblickte, erlebte Sulmona einen Zustrom militanter Sozialisten, welche aufgrund ihrer "unruhestiftenden" Aktivitäten in der Eisenbahnergewerkschaft in diesen Landstrich verbannt worden waren. Sogleich organisierten sie einen politischen Club, zu dem auch der junge Tresca stieß. Nach nicht allzu langer Zeit wurde er zum Club-Sekretär gewählt und gründete mit Il Germe seine erste Zeitung. Nachdem er einen Hauptmann der Carabinieri "beleidigt" hatte, verbrachte er zwei Monate im Gefängnis, und als er nach einer neuerlichen Verurteilung anderthalb Jahre Knast vor sich hatte, faßte er den Entschluß, sich auf den Weg zu seinem Bruder zu machen, der in New York als Arzt sich niedergelassen hatte.

In Genf Zwischenstation machend, traf er auf einen sozialistischen Lokalmatador, einen verbalradikalen Prahlhans und Schaumschläger namens Benito Mussolini, der das Exil der Einberufung zum Militär vorgezogen hatte. Nach langen nächtlichen Diskussionen verabschiedeten sie sich auf dem Bahnsteig, und der superrevolutionäre Maulheld meinte: "Nun, Genosse Tresca, ich hoffe, Amerika wird aus dir einen wirklichen Revolutionär machen", worauf Tresca erwiderte: "Ich hoffe, Genosse Mussolini, du wirst das Posieren aufgeben und zu kämpfen lernen."

Als er 1904 in New York ankam, erwartete ihn das Elend des Lebens im Exil, wo bereits in den Einwanderungsbaracken die Hoffnung der Immigranten "unter der Berührung grober Beamter" zerfloß, wie Bartholomeo Vanzetti schrieb. Amerika war keine wunderbare neue Welt, sondern lediglich eine schäbige Reproduktion der europäischen Klassengesellschaften. Tresca unternahm keine Anstrengungen, sich zu assimilieren; er blieb ein Italiener unter Italienern und ein Außenseiter unter Amerikanern. "Er spricht nicht Englisch mit einem italienischen Akzent", schrieb Max Eastman 1934, "er spricht Italienisch mit englischen Wörtern". In Philadelphia gab er die Wochenzeitung Il Proletario der Italian Socialist Federation heraus und wühlte sich als radikaler "muckraker" durch die kapitalistische Schlammgrube. Ständig die unmenschlichen Existenzbedingungen in den "italienischen Kolonien" in seiner Zeitung anklagend, arbeitete er in einem Bergwerk in Pennsylvania, bei Gleislegern in New Jersey, wo "rückkehrwillige Immigranten" (wie man sie im heutigen herrschenden Jargon nennen würde) im Schlaf erdrosselt und ihrer Ersparnisse beraubt wurden, nahm Bordelle in Augenschein, in denen italienische Immigrantenmädchen zur Prostitution gezwungen wurden. Es dauerte nicht allzu lange, und Tresca bekam wegen "Verleumdung" einen Platz in Uncle Sams Staatspensionat zugewiesen. Noch ehe der den Weg dorthin antrat, wandte er sich von der Italian Socialist Federation ab, deren Ideologie ihm zu rigide erschien. Von nun an betrachtete er sich als Anarchosyndikalisten.

Von Philadelphia zog er nach Pittsburgh, um den vielen italienischen Arbeitern näher zu sein, welche in den Bergwerken und Stahlfabriken sich verdingen mußten, und gab dort von 1906 bis 1909 die Wochenzeitung La Plebe heraus. Er schrieb gegen die bedrückenden Verhältnisse an, agitierte und organisierte Streiks in den grauen, trostlosen Arbeitersiedlungen der Bergwerksregionen in Pennsylvania, Ohio und West Virginia. Bei den Arbeiterfamilien war er ein gern gesehener und geschätzter Gast, mit dem sie ihre wenigen Annehmlichkeiten teilten. "Er war ein netter Kerl, und er war für den Arbeiter", erinnert sich John Chessa. "Selbst die Amerikaner mochten ihn, weil er ein ehrlicher Mann war."

Doch Tresca beschränkte sich nicht allein auf das Organisieren italienischer Immigranten. Eine zweite Leidenschaft von ihm war das Attackieren des heuchlerischen Klerus, was ihn zuweilen hinter Gitter brachte. Manche Katholiken nahmen ihm seine Verhöhnungen derart übel, daß sie meinten, "Gottes Strafe" ausführen zu müssen. Als Tresca am Vorabend einer seiner Inhaftierungen eine Rede hielt, tauchte plötzlich hinter ihm ein Schatten auf, welcher ihm die Kehle aufzuschlitzen gedachte, jedoch mit einem tiefen Schnitt von den Lippen hinab zum Kinn sich begnügen mußte. Mit Glück und Geistesgegenwart dem Tod entkommen, war Tresca durch eine entstellende Narbe gezeichnet, so daß er von nun an einen Bart trug. Der Möchtegern-Attentäter wurde vom Gericht zwar freigesprochen, jedoch zwei Monate später von italienischen Bergarbeitern getötet.

II. America - I feel sentimental about the Wobblies

Nach seiner Entlassung eilte Tresca nach Lawrence (Massachusetts), wo die IWW einen ihrer großen Streiks organisiert hatte. Um die Streikenden ihrer Speerspitze zu berauben, hatte die Staatsgewalt zwei populäre Wobblies, Joe Ettor und den anarchistischen Poeten Arturo Giovannitti, wegen angeblicher Verstrickung in die Ermordung der Arbeiterin Lo Pezzi verhaftet und angeklagt. Trotz aller Widrigkeiten konnte die IWW an großer Popularität gewinnen. Der Auszug der hungernden und von der Polizei verprügelten Arbeiterkinder zu sympathisierenden Familien in den umliegenden Städten wie auch die täglichen Berichte über Polizeiausschreitungen ließen eine landesweite Sympathie aufkommen, so daß das Unternehmen letzten Endes auf die Forderungen der Streikenden eingehen mußte.

Allerdings hielt diese günstige Stimmung nicht allzu lange an. Als der Prozeß gegen Ettor und Giovannitti nach fünf Monaten eröffnet wurde, organisierte die IWW eine Parade zu deren Unterstützung, die jedoch nur unter Auflagen genehmigt wurde: Es mußte der Sternenbanner getragen, auf rote Fahnen und Musikkapellen verzichtet werden, und die Parade sollte ohne jegliche Störung ablaufen. Im Laufe des Vormittags trafen mehrere tausend Italiener aus der Umgebung ein, brachten eine Kapelle, fünfzig rote Fahnen und ein großes Transparent mit der Aufschrift "Kein Gott, kein Herr" mit sich. Sie liefen unbehelligt durch die Straßen, bis eine Polizistenmeute Carlo Tresca, der die Parade anführte und Hauptredner des Tages sein sollte, zu verhaften suchte. Im anschließenden Aufruhr konnte Tresca entkommen, und zwei Polizisten wurden niedergestochen. "Das Ereignis wurde von der Presse im ganzen Land zur Mammutoffensive gegen die Wobblies aufgegriffen", schreibt der marxistische Historiker Philip S. Foner. "In Lawrence gab es den Widersachern der IWW den Vorwand, nach dem sie gesucht hatten." Es wurde die stereotype Kampagne abgespult, die IWW sei eine "atheistische", "anarchistische" Organisation.

Lawrence zog Tresca nicht nur aus der Obskurität der Minencamps in Pennsylvania; hier entsponn sich auch eine für ihn außerordentlich lange Liebesbeziehung mit Elizabeth Gurley Flynn, der "Jeanne d'Arc der East Side", wie der Romancier Theodore Dreiser sie einmal nannte. Allerdings war dieses Verhältnis nie frei von Komplikationen, denn Tresca war für seinen hohen "Verbrauch" an Geliebten bekannt. "Ich mag eine Frau, und dann vergeht die Zeit, und ich mag eine andere", erzählte er Max Eastman. "Ich mache viele gute Freundschaften mit Frauen, weil ich immer sehr freimütig sage: 'Vertrau mir nicht. Mein Charakter ist sehr emotional. Ich habe jetzt eine große und wirkliche Leidenschaft, aber wenn die fort ist, bin ich auch fort!'" Mit Gurley blieb er jedoch dreizehn Jahre zusammen, und häufig litt sie unter seinen Absprüngen. Als Tresca mit der Flynn-Familie in der New Yorker Bronx lebte und Gurley auf einer Organisationstour durchs Land reiste, hatte er mit ihrer jüngsten Schwester Bina eine Liebesaffaire und einen Sohn, was unweigerlich zu Tumulten führte.

Während sich Tresca jegliche Freiheit zugestand, verlangte er von Gurley, so viel Zeit wie nur irgend möglich ihm zu widmen und ihr politisches Engagement ihm zuliebe etwas zurückzustellen. Als er einmal aus dem Gefängnis kam, war er schockiert, daß Gurley ihn "verließ", um Verteidigungsarbeit für andere Inhaftierte zu leisten. "Aber du bist jetzt draußen", protestierte sie, "und all diese Männer sind im Knast". Tresca war so verärgert, daß er ihr sechs Wochen lang nicht schrieb. Aber trotz allem blieben die beiden bis 1925 zusammen, häufig im Streit über persönliche und politische Angelegenheiten liegend. Während Gurley mehr und mehr leninistischen Vorstellungen sich näherte, beharrte Tresca auf seinem anarchosyndikalistischen Standpunkt, und hätten sie nicht gemeinsam in der Solidaritätskampagne für Sacco & Vanzetti gearbeitet, wäre die Trennung sicherlich eher erfolgt.

III. America - I've given you all and now I'm nothing

Der kalte New Yorker Winter von 1913-14 traf die Armee der Arbeitslosen, die nichts zu essen hatten und keinen Unterschlupf finden konnten, besonders hart. Durchfroren und ausgehungert hingen sie auf der Bowery herum, stundenlang wartend, daß ihnen irgendwelche Hilfsorganisationen ein Stück Brot oder eine Tasse heißen Kaffees zukommen ließen. Aber die Herrschaften, die mit vollgeschlagenen Bäuchen an den Tischen feiner Restaurants vor sich her rülpsten, speisten sie mit hohlen Phrasen ab. Tresca hatte in Harlem ein kleines Büro, wo er seine Zeitung L' Avvenire redigierte, und dies war der Treffpunkt junger Leute, die durch die IWW radikalisiert worden waren. Unter ihnen befand sich ein aufgeweckter, rastloser Jude namens Frank Tannenbaum, der nach fruchtlosen Appellen an die Stadtverwaltung "Invasionen" in die Kirchen organisierte, wo die Ausgestoßenen Obdach und Essen verlangten. Manche Kirchenherren duldeten die "Eindringlinge", andere ließen sie hinauswerfen. Die New Yorker Presse - ob nun liberal, konservativ oder reaktionär - entpuppte sich wieder einmal als großes Maul des Großkapitals und forderte ob dieser ungeheuerlichen Verletzung der heiligen Dreifaltigkeit von Eigentum, Gesetz und Ordnung die unverzügliche Vertreibung der Ruhestörer. Um dem Gesetz die nötige Achtung zu verschaffen, könnten ruhig die Köpfe der "Vagabunden" und "Spitzbuben" zertrümmert werden, und dies geschah dann auch. Ermutigt durch die Geiferer in den Redaktionsstuben schlugen Horden uniformierter Staatschergen bei der Räumung einer Kirche auf jeden Kopf ein, der ihnen unter die Ordnungsknüppel kam. Blut spritzte an die Wände, und in den angrenzenden Straßen blieben vor Schmerzen stöhnende Menschen liegen, bis die Ambulanz sich bequemte, sie abzutransportieren. In den folgenden Tagen veranstalteten Sondereinsatzkommandos regelrechte Hetzjagden auf alle, die wie "Vagabunden" aussahen. Wie oft nach solchen Polizeiausschreitungen, wenn die Grenze der akzeptierten staatlichen Brutalität überschritten ist und unansehnlich blutüberströmte Schädel ins Blickfeld rücken, regte sich das liberale Gewissen und das gute Herz. Dem verhafteten Tannenbaum wurde Kaution angeboten und ein Anwalt besorgt; viele Kirchen öffneten "im Namen des Herrn" den Arbeitslosen ihre Pforten; Suppenküchen wurden eingerichtet. Aber damit hatte sich das Problem nicht erledigt. Tresca stimulierte die Arbeitslosen zum weiteren Kampf mit einem einfachen Argument. In organisierten Gesellschaften sei der Mensch ein zahmes Tier geworden sagte er. Selbst den Drang zum Leben habe er verloren; dieser natürliche Instinkt sei unterdrückt worden. "Wenn die Arbeitslosen - und es gibt Millionen von ihnen - anstatt zivilisierte Arbeiter-Wölfe, hungrige Wölfe wären, würden sie ganz anders Handeln. Anstatt an Straßenecken zu betteln oder auf Barmherzigkeit an den Türen der Reichen oder vor den zu wenigen Hilfseinrichtungen zu warten, würden sie geradewegs zu den Orten gehen, wo Kleidung und Lebensmittel gelagert wären, sie sich nehmen, und dann würden die 'Besitzenden' ganz anders über die 'Habenichtse' denken." Die Wobblies organisierten Geld- und Kleidersammlungen, beschafften Unterkünfte und Lebensmittel und gaben den von der Gesellschaft Entwürdigten ihre menschliche Würde zurück. Become a Wobbly and then we'll probably free ourselves from slavery, wie es in einem IWW-Song heißt. "Ein kleines Beispiel dafür, was klassenbewußte Arbeiter für sich selbst tun können", meinte Tresca. "Nicht viel, aber ein Anfang. Der Tag wird kommen, an dem sie viel mehr tun werden."

In der Folgezeit kappte Tresca jedoch seine Verbindung mit der IWW. Die Trennung resultierte aus Ereignissen während des Streiks in Mesabi Range (Minnesota) im Jahre 1916. Um fünf Organisatoren aus dem Gefängnis zu bekommen, überredeten Gurley, Tresca und Ettor drei Bergarbeiter, die Schuld für den Mord an einem Deputy Sheriff auf sich zu nehmen. In einem Deal mit der Staatsanwaltschaft wurden sie zwar zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, kamen jedoch nach drei Jahren wieder frei. Dieses Vorgehen stieß beim General Executive Board (GEB) der IWW allerdings auf scharfe Kritik. Kurze Zeit später machten sie sich noch unbeliebter, als sie während der Prozesse gegen die Wobblies von der Verteidigungslinie des GEB abwichen. Big Bill Haywood befürwortete eine Strategie des Massenprozesses, in dem sich alle angeklagten Wobblies gemeinsam der Justiz stellen sollten. In seinen Augen (oder in seinem Auge, denn er hatte ja nur noch eins) war der ganze Fall dermaßen konstruiert, daß ein Freispruch, wie er ihn erwartete, einen ungeheuren propagandistischen Erfolg nach sich ziehen würde. Gurley Flynn dagegen war der Überzeugung, man müsse jede gesetzliche Möglichkeit ausschöpfen, um die gefährliche Zeit der nationalen Hysterie zu überbrücken, und der Lauf der Dinge sollte ihr recht geben: Gurley, Tresca, Giovannitti und Ettor erreichten durch diese Taktik, daß die Anklagen gegen sie fallengelassen wurden, während jene, die Haywoods Weg folgten, zu Haftstrafen bis zu 20 Jahren und Geldstrafen bis zu 20000 Dollar verurteilt wurden.

Auch wenn Tresca mit der IWW brach, wurde er doch kein politischer Renegat. Wie viele Wobblies widersetzte auch er sich der imperialistischen Politik, was zur Folge hatte, daß L'Avvenire 1917 vom Postvertrieb ausgeschlossen wurde und er unter ständiger Polizeiüberwachung stand.

IV. America - I refuse to give up my obsession

Carlo Tresca ist nicht als typischer Vertreter des italo-amerikanischen Anarchismus zu betrachten, denn dieser formierte nie einen monolithischen Block mit einem einzig anerkannten "Führer". Wie so oft in der Geschichte anarchistischer Bewegungen waren sich die verschiedenen Flügel nicht unbedingt freundschaftlich gesonnen. Dem Anarchosyndikalisten Tresca stand als Rivale der Anarchokommunist Luigi Galleani gegenüber, der mit seiner Strömung, bekannt als anti-organizzatori, eine starke Aversion gegen alle Formen politischer Organisation hegte, da er darin die Erstickung individueller Freiheit sah. Stattdessen befürwortete er die Taten revolutionärer Individualisten. In seiner Zeitung Cronaca Sovversiva feierte Galleani, wie Tresca ein brillanter Propagandist und Polemiker, sowohl Leon Czolgosz, den Attentäter des US-Präsidenten McKinley, als auch Gaetano Bresci, der nach Italien zurückgekehrt war, um König Umberto zu töten. Galleani billigte auch die Expropriation, solange die Einnahmen solcher Aktionen der anarchistischen Bewegung zugutekamen. Aus Sympathie für diese Form der sozialen Rebellion veröffentlichte er in seiner Zeitung zwischen 1916 und 1917 die Memoiren des französischen Expropriateurs Clement Duval, doch fand die Expropriation unter italo-amerikanischen Anarchisten kaum Anklang. Der einzige espropriatore war offenbar Cesare Stami, ein individualistischer Anarchist (jedoch kein Galleanista), der die Untergrundzeitung La Rivolta degli Angeli herausgab und im Mai 1924 während einer Enteignungsaktion in einem Feuergefecht mit der Polizei erschossen wurde.

Die ideologischen Differenzen bezüglich des Syndikalismus führten 1915 zu scharfen Polemiken zwischen Tresca und Galleani, welche die Kluft zwischen den beiden Flügeln noch vertieften. Auch wenn Tresca Galleani nicht zu seinen Freunden zählte, zollte er doch dem älteren Anarchisten stets Respekt. Galleani dagegen vermochte nie über persönliche und politische Streitigkeiten hinausblicken und betrachtete seinen Rivalen mit Mißbilligung und Herablassung. Während des Krieges wurde die Cronaca Sovversiva aufgrund ihrer Aufrufe zur Kriegsdienstverweigerung verboten, und im Mai 1919 wurde Galleani deportiert. Bald danach explodierten Bomben in acht Städten, und Carlo Valdinucci wurde in der Luft zerfetzt, als er dem Generalstaatsanwalt Palmer eine Bombe ins Haus legen wollte.

In den Jahren nach dem Krieg nahmen die Streitigkeiten zwischen den beiden Flügeln an Heftigkeit noch zu. Tresca, der die seit 1917 erscheinende vierseitige, großformatige Wochenzeitung Il Martello redigierte, trat für ein breites Bündnis radikaler Antifaschisten ein. Die um die Zeitung L'Adunata dei refrattari geschalten Galleanisti lehnten dagegen jegliche Zusammenarbeit mit Sozialisten, Kommunisten und anderen Marxisten strikt ab. Sie attackierten nicht allein diese Gruppierungen, sondern setzten auch eine Kampagne in Gang, welche Trescas Ansehen in der Bewegung nachhaltig schädigen sollte. Diese Angriffe, welche 1925 begannen und 1938 ihren Höhepunkt erreichten, bewirkten bei Tresca Enttäuschung und Verbitterung über die Anarchisten, welche doch eigentlich seine Genossen hätten sein sollen, nun aber nur Verachtung für sein langes Engagement für die Sache der Arbeiterklasse zeigten.

V. America - Sacco & Vanzetti must not die

Am 15. April 1920 wollten in South Braintree (Massachusetts) ein Kassierer und ein Wächter Lohngelder im Werte von 16000 Dollar vom Büro zu ihrer Fabrik bringen, als ihnen zwei Männer auflauerten und sie erschossen. Das Geld an sich nehmend, sprangen sie in einen Wagen und rasten davon.

Drei Wochen später wurden Nicola Sacco und Bartholomeo Vanzetti verhaftet, als sie ihren anarchistischen Freund Mike Boda, welcher der Verstrickung in das Verbrechen verdächtigt wurde, begleiteten, um dessen Wagen aus einer Reparaturwerkstatt abzuholen. Zu dieser Zeit hatte Tresca, der innerhalb der italienischen radikalen Bewegung über die besten Verbindungen zu Anwälten, Politikern und anderen einflußreichen Amerikanern verfügte, zusammen mit seinen Genossen der Martello-Gruppe das Comitato Italiano Pro-Vittime Politiche ins Leben gerufen, um den Opfern der Radikalenhatz zu helfen. Es war dieses Komitee, zu dem im April 1920 Vanzetti von den Bostoner Anarchisten geschickt worden war, um etwas über den Verbleib der beiden Genossen Andrea Salsado und Roberto Elio in Erfahrung zu bringen. Zwei Komiteemitglieder warnten Vanzetti vor neuerlichen Überfällen auf Radikale und drängten ihn, inkriminierendes Material wie Pamphlete und andere anarchistische Literatur zu verstecken. Damit waren Sacco, Vanzetti und ihre Freunde wohl am Abend ihrer Verhaftung beschäftigt, nachdem Salsado in der Nacht zum 3. Mai 1920 aus dem Fenster des Polizeigefängnisses "gefallen" war. Tresca setzte sich unmittelbar mit seiner Zeitung und seinem Prestige für die beiden Angeklagten ein, um Geld und öffentliche Unterstützung zu erhalten. Zusammen mit Gurley Flynn gewann er den erfahrenen Wobbly-Anwalt Fred Moore für den Prozeß, der bald schon ein cause celebre werden sollte.

Obwohl Tresca in all der Zeit zwischen dem Prozeß und der Hinrichtung der beiden Anarchisten seine Talente als engagierter Journalist, öffentlicher Redner, glühender Agitator und unermüdlicher Geldsammler für das Verteidigungskomitee einsetzte, war es doch nie eine Vollzeitbeschäftigung für ihn. Ein Grund hierfür mag sein, daß er und der Sekretär des Komitees, Emilio Coda, einander haßten. Da seine direkte Teilnahme an den Aktivitäten des Komitees von Coda und wahrscheinlich anderen Galleanisti unterbunden wurde, beschränkte sich Tresca auf die Öffentlichkeitsarbeit. Nachdem alle rechtlichen Möglichkeiten erschöpft waren und die Exekution bevorstand, startete er eine Kampagne zur Organisierung eines landesweiten Generalstreiks, um dies zu verhindern. Doch all dies nutzte nichts. Am 23. August 1927 wurden Sacco & Vanzetti ermordet.

Obwohl Tresca nicht zum engeren Kreis des Komitees gehörte, wird er von revisionistischen Historikern als Kronzeuge für die Schuld zumindest eines Anarchisten herangezogen, als der "eine Mann in Amerika, zu dem man gehen würde, um Informationen aus erster Hand darüber zu erhalten, was bei den italienischen Anarchisten vor sich ging", wie es der nach rechts gewendete Max Eastman ausdrückte. Kurz vor Trescas Tod habe er, Eastman, Tresca nach der "Wahrheit" über Sacco & Vanzetti gefragt, worauf dieser erwidert haben soll: "Sacco war schuldig, aber Vanzetti war es nicht." Auf dieses Statement, das Eastman erst 19 Jahre später in einem Artikel in der reaktionären National Review veröffentlichte, stürzte sich der Populärhistoriker Francis Russell, der drei Jahrzehnte lang nach Spuren, Beweisen und Zeugen suchte, um die beiden Anarchisten des Verbrechens zu "überführen". In den Augen Russells war Tresca der "Schutzengel oder Großvater" des Sacco & Vanzetti-Prozesses, der "anerkannte und bewunderte Führer" der italo-amerikanischen Anarchisten, welcher die "Wahrheit" wissen müsse. Betrachtet man Eastman als fragwürdige und nicht gerade verläßliche Gestalt, so ist andererseits zu beachten, daß auch der Sozialistenchef Norman Thomas, welcher eine durchaus integre Persönlichkeit war, im privaten Kreis ein solches Statement Trescas gehört haben will. Was ist also davon zu halten?

Trescas Tochter, Beatrice Tresca Rapport, ist der Überzeugung, ihr Vater habe in diesem Fall nur wegen des theatralischen Effekts so geredet. In der Tat war Tresca ein Mann mit glühendem Temperament, welcher im Rampenlicht stehen mußte und manchmal in Effekthascherei sich erging, um dieses Verlangen zu stillen. Aber würde er nur um eines grellen Effekts wegen Sacco zum Schuldigen erklären? Ein anderer Grund könnte sein, daß Tresca aufgrund der fortwährenden Attacken der Galleanisti verbittert war, daß die Angriffe in ihm Zweifel und Verdächtigungen gegen Sacco, der wahrscheinlich zu den Bostoner Galleanisti gehörte, nährten, auch wenn diese nur Projektionen waren, für die es in der Realität keine Grundlage gab. Nach der Meinung Russells fühlte sich Tresca betrogen, und aus dieser Quelle speise sich sein Drang zu reden, denn die "Wahrheit" sei zu bitter für ihn gewesen, um sie für sich zu behalten. Aber warum vertraute er diese "Wahrheit" Amerikanern und nicht seinen italienischen Freunden, nicht einmal seiner Tochter an, die in engster Beziehung zu ihrem Vater stand? Dies sind freilich alles Spekulationen, und Trescas Statement - ist es denn gemacht worden - sollte keine zentrale Bedeutung zukommen.

Was bei der ganzen Angelegenheit nachdenklich stimmt, ist die Sorte von Leuten, welche sich auf dieses Statement stürzen. Unter dem Vorwand, der "historischen Wahrheit" auf den Grund gehen zu wollen, will Russell, ein auf Geschichtsdetektiv getrimmter Rambo, gegen das "Dogma liberaler Intellektueller" von der Unschuld von Sacco & Vanzetti anstürmen, als Obersturmführer das linke Pantheon am liebsten dem Erdboden gleichmachen. Seit den fünfziger Jahren ist eine reaktionäre Polit-Soldateska mit einer Meuchelkampagne beschäftigt, deren Sinn darin liegt, Sacco & Vanzetti noch einmal vor Gericht zu stellen, zu verurteilen und hinzurichten. Für den reaktionären Chefschwadroneuer William F. Buckley jr., den Herausgeber der National Review (in der die Anti-Sacco & Vanzetti-Kampagne mit besonderer Penetranz geführt wurde) war der Fall, wie er 1960 schrieb, "ein menschliches Vehikel, durch das die bestehende Ordnung angeklagt, unsere Institutionen verdammt, die Sache des proletarischen Sozialismus dramatisiert, die puritanische Ethik weggekratzt, die Nation zerrissen und durch die Seiten der Geschichte bluten lassen" werden solle. Das Ziel der Operation ist klar: Buckleys Historikerkorps wollen die Autorität und Unfehlbarkeit des Systems wiederherstellen, zementieren und unangreifbar machen, den radikalen Geist exorzieren, die Legende zerstören, das Terrain einnehmen und kontrollieren. Indem die ideologischen Revisionisten Sacco & Vanzetti ihrer angeblichen Tatbeteiligung im nachhinein "überführen", hoffen sie, den vom Staat ausgeführten Mord zu rechtfertigen, und wenden sich damit einer Strategie zu, wie sie schon in ähnlich gelagerten Fällen wie des Wobbly-Barden Joe Hill (1915 ermordet) oder der angeblichen kommunistischen Atomspione Julius & Ethel Rosenberg (1947 ermordet) angewandt wurde.

VI. America - When will you be angelic?

Schon während des I. Weltkriegs begann innerhalb der italo-amerikanischen Welt ein italienischer Patriotismus sich auszubreiten, welcher das Fundament für eine starke faschistische Strömung legte, nachdem Mussolini 1922 in Rom die Macht ergriffen hatte, und selbst einzelne Radikale wurden vom Faschismus angezogen. Die Karriere von Edmondo Rossoni zeigt auf, wie der Weg von der radikalen Linken zur extremistischen Rechten verlaufen kann. In der Vorkriegszeit war Rossoni Redakteur bei der anarchosyndikalistischen Zeitung Il Proletario in New York und organisierte die Seeleute in der IWW. Zu dieser Zeit bewies er noch seinen Haß auf den Patriotismus, indem er auf die italienische Fahne spuckte. Als er später nach Italien zurückkehrte, organisierte er in Genua unterprivilegierte Hafenarbeiter, welche ähnliche Merkmale wie Teile der IWW-Anhänger in den USA aufwiesen, und führte sie in die Arme des Faschismus. 1925, inzwischen zu Mussolinis Korporationsminister aufgestiegen, erklärte er den Arbeitern der Welt, der Faschismus sei der elementarste Ausdruck der syndikalistisch-nationalistischen Idee.

Es gehört zu den Absurditäten der Geschichte, daß Mussolini selbst in der italo-amerikanischen Linken kein Unbekannter war. In seinen frühen Jahren schrieb er flammende Artikel für Il Proletario und nutzte während des Streiks in Lawrence seine eigene Zeitschrift Lotta di Classe, um die US-Mittelklasse, "das brutale Volk des Dollars", in Grund und Boden zu verdammen und die Republik als kriminelles Operationsgebiet zu demaskieren, wo die Millionäre Morgan und Rockefeller die "Verbrechen des Kapitalismus" begingen. Zehn Jahre später posierte der "sozialistische" Krakeeler freilich als Held der US-Bourgeoisie und klopfte an die Stahltüren der Schatzkammern des Morgan-Bankimperiums. Das nennt man dann wohl Realpolitik.

Carlo Tresca führte von Beginn an einen kompromißlosen Kampf gegen den Faschismus. Exemplare seines Martello schmuggelte er nach Italien und organisierte in New York "Guerillaaktionen" gegen die Schwarzhemden. In der Bronx hatten die Faschisten eine Organisation namens Fascio Mario Souzini gegründet, welche im Schutz der Kirche agierte und von der Polizei unbehelligt blieb. Mit Knüppeln bewaffnet zogen sie in Horden durch die Straßen und verprügelten Antifaschisten, die allein und unbewaffnet unterwegs waren. Um diesem Treiben Einhalt zu gebieten, war es notwendig, den Faschisten entschlossen entgegenzutreten. "Wir argumentieren nicht mit den Faschisten", erklärte Tresca. "Wenn sie sich der Diskussion mit uns stellen wollen, sagen wir, daß wir diskutieren werden, wenn unsere Brüder in Italien eine freie Presse und das Recht haben, reden zu halten und auf den Straßen sich zu treffen. Bis dahin tragen wir unseren Disput mit Waffen aus." Tresca rechnete es sich als Verdienst an, daß die Faschisten seit 1925 nicht mehr offene Versammlungen abzuhalten gewagt hätten, und er verbuchte den starken Polizeischutz bei Besuchen italienischer Regimemitglieder als persönlichen Sieg im "Bürgerkrieg". Was Tresca zum antifaschistischen Kampf vor allem beitrug, war eine zähe Integrität, welche auch nicht durch Bedrohungen seines Lebens erschüttert werden konnte.

Dem Mussolini-Regime war Trescas Widerstand ein Dorn im Auge, und es versuchte mit aller Macht, den unliebsamen Anarchisten zum Schweigen zu bringen. Im Mai 1923 richtete die italienische Botschaft eine diplomatische Note an das US-Außenministerium, in der sie sich über die "berüchtigten italienischen Arbeiteragitatoren Carlo Tresca, Arturo Giovannitti ... und andere sozial-kommunistische Elemente in New York" beschwerte, welche im Auftrag Moskaus die italienische Regierung verleumden würden. Botschafter Caetani legte den US-Behörden nahe, den "giftsprühenden" Martello vom Postvertrieb auszuschließen und seinen Herausgeber vor Gericht zu stellen. Außenminister Hughes konferierte daraufhin mit dem Postminister, dem Generalstaatsanwalt und dem New Yorker Bezirksanwalt, und einige Wochen später wurde Tresca tatsächlich angeklagt. Aus einer zweizeiligen Anzeige für ein Buch über Geburtenkontrolle wollte man ihm einen Strick drehen und verurteilte ihn zu einem Jahr Gefängnis. Doch mußte er "nur" vier Monate einsitzen, denn die liberale Presse ergriff Partei für ihn, so daß Präsident Coolidge sich gezwungen sah, Trescas Entlassung anzuordnen.

Auch in der Folgezeit blieb Tresca die Zielscheibe heimtückischer Nachstellungen, nachdem "legale" Manöver auf diplomatischer Ebene nicht viel gefruchtet hatten, besannen sich die Machthaber in Rom ihrer kriminellen Energie und heuerten einen Killer an. Tresca kam bald zu Ohren, daß ihm jemand an den Kragen wollte, und es entspann sich ein Katz-und-Maus-Spiel. Da Tresca an seinem Leben hing, schlief er aus Vorsicht jede Nacht in einem anderen Zimmer, doch schließlich tauchte der Killer bei ihm auf, und es stellte sich heraus, daß die Faschisten eine schlechte Wahl getroffen hatten. Der Killer sagte, er wolle Tresca nicht töten, und verlangte stattdessen 4000 Dollar, um das Land verlassen zu können. Etwas später trafen sie sich in einem italienischen Restaurant im Greenwich Village, wo der Killer im Beisein einiger Mafiosi Trescas Hand küssen mußte, und damit war die Angelegenheit aus der Welt geschafft. Auch wenn bei weitem nicht alle Italo-Amerikaner in New York Trescas politische Ansichten teilten, hielt dies sie doch nicht davon ab, Tresca eine gewisse Protektion zu gewähren.

Die Faschisten ließen sich allerdings dadurch keinesfalls abschrecken und unternahmen weitere Mordversuche. Als Tresca eines Abends während einer antifaschistischen Versammlung in East Harlem eine Rede hielt, wurde er plötzlich von einem donnernden Lärm jäh unterbrochen. Unweit des Versammlungsortes war eine für ihn bestimmte Bombe frühzeitig in einem Auto explodiert, in dem drei Männer saßen, von denen zwei später als Angehörige einer faschistischen Organisation identifiziert wurden. Als man ihm mit weiteren Morddrohungen das Leben schwermachte, legte er sich 1931 schließlich einen Revolver zu, doch schoß er sich damit nur in den eigenen Fuß.

Die antifaschistische Arbeit in den zwanziger und dreißiger Jahren, die fraktionsübergreifende Bündnisse erforderte, wurde von sektiererischen Rivalitäten innerhalb der Linken überschattet. Die Anti-Fascist Alliance of North America (AFA-NA), in den Zwanzigern ins Leben gerufen, war ein Versuch, die verschiedenen Gruppierungen der Linken in ein Bett zu bringen, doch schon bald machten Eifersüchteleien und Besserwisserei gemeinsame Aktionen unmöglich. Die IWW beispielsweise beschuldigte die AFL-Gewerkschaften, den faschistischen Geist zu nähren, und Ende 1926 zog sich eine Reihe von Gewerkschaften aus dem Bündnis zurück, weil sie die Kommunisten verdächtigten, sie würden Tarngruppen aufstellen, um die Zahl ihrer Delegierten zu erhöhen. In den dreißiger Jahren war die Zusammenarbeit nicht besser. Zwar hatte der VII. Kongreß der Komintern im Juli 1935 eine Politik der Volksfront gegen Krieg und Faschismus gefordert, welche alle progressiven Kräfte sammeln sollte, doch verfolgten die KP-Kader ein machtpolitisches Kalkül, um die antifaschistischen Organisationen in ihrem Sinne zu dominieren, was anderen Linken verständlicherweise nicht gefiel.

VII. America - When will we end the human war?

Wie viele seiner Generation hatte Carlo Tresca die Oktoberrevolution enthusiastisch gefeiert, doch die Einkerkerung vieler Anarchisten und anderer Revolutionäre ernüchterte ihn, und er nannte Lenin den "Totengräber der russischen Revolution". In einer 1928 gehaltenen Rede gab er seiner Überzeugung Ausdruck, nach der alle revolutionären Bewegungen gegen die Tyrannei im allgemeinen mit der Machtergreifung neuer Kräfte der Unterdrückung endeten. Seiner Meinung zufolge würden die italienischen Kommunisten ebenfalls ein repressives Regime errichten, wenn Mussolini einmal gestürzt sei, und die Anarchisten würden weiterhin gegen jegliche Autorität, auch jene der italienischen Kommunisten, agitieren. Nichtsdestotrotz stellte Tresca seine Vorbehalte gegenüber den stalinistischen Kommunisten angesichts der faschistischen Bedrohung zunächst zurück.

Mitte der dreißiger Jahre trat Tresca jedoch in offene Opposition zu den Stalinisten. 1934 nahm er am Dewey-Komitee teil, das die angeblichen Verbrechen Trotzkis, wie sie bei den Moskauer Schauprozessen aufgelistet worden waren, untersuchte und den alten Revolutionär rehabilitierte. Tresca hatte keine Scheu, für ihn sich einzusetzen, ganz im Gegensatz zu Emma Goldman und Alexander Berkman, die aufgrund ihrer Kronstadt-Erfahrungen kein gutes Haar am "Schlächter" ließen. ("Würde ihm recht geschehen, wenn ihn jemand erschösse", schrieb Berkman 1932.) Trotz vieler Divergenzen in politischen Fragen blieb Trotzki dem Anarchisten in Dankbarkeit verbunden und sah in ihm "einen Mann, der jeder Zoll ein Kämpfer" war. "Ihr sechzigster Geburtstag wird von Ihren Freunden gefeiert", schrieb er im April 1939 an Tresca, "und ich nehme mir die Freiheit, mich zu ihnen zu zählen. Ich hoffe, daß ihre moralische Kraft und revolutionäre Glut für eine lange künftige Zeit erhalten bleiben werden." Die Kommunisten urteilten weniger freundlich: Sie nannten Tresca einen Faschisten, einen agent provocateur, einen Freund der Polizei und einen Feind des Volkes.

Besonders die Ereignisse in Barcelona im Mai 1937 ließen Tresca einen scharfen antikommunistischen Kurs einschlagen, und er versuchte die italo-amerikanische Linke zu überzeugen, daß es moralisch falsch sei, mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten. Ein grausiges Entsetzen packte ihn, als er erfahren mußte, daß der POUM-Mitbegründer Andres Nin von Enea Sormenti alias Vittorio Vidali alias Carlos Contreras alias Major Carlos, einem der bedeutendsten Auslandsagenten des russischen Geheimdienstes, ermordet worden war. Ironischerweise waren Tresca und Sormenti in den zwanziger Jahren Freunde gewesen, hatten zusammen in der AFANA gearbeitet, und Tresca hatte ihn damals vor der drohenden Deportation bewahrt.

Als die Niederlage des Mussolini-Faschismus sich abzeichnete, drängten KP-Kader an die Spitze der italo-amerikanischen antifaschistischen Organisationen, um auf diese Weise ihre Aussichten auf entscheidende Posten in der künftigen Regierung Italiens zu verbessern. Tresca allerdings wollte ihren Einfluß so gering wie nur irgend möglich halten und den Eintritt der Stalinisten in den Italian-American Victory Council und die Mazzini-Gesellschaft, zwei einflußreiche Antifaschisten-Organisationen in New York, verhindern, soweit dies in seinen Kräften stand.

VIII. America - When will you look at your-self through the grave?

Am Abend des 11, Januar 1943 verließ Tresca zusammen mit seinem Freund Guiseppe Callabi, nachdem ein Treffen mit einem Unterkomitee der Mazzini-Gesellschaft geplatzt war, sein Büro in der Fifth Avenue. Als sie die dunkle Straße hinuntergingen und an der Ecke auf das Umspringen einer Ampel warteten, tauchte plötzlich ein dunkler Wagen auf. Ein Mann sprang heraus und feuerte aus dichter Nähe drei Schüsse auf Tresca ab, welche ihn in den Kopf und den Rücken trafen. Der Attentäter sprang zurück in den Wagen, der sogleich davonraste. Tresca ging noch einige Schritte und fiel schließlich blutüberströmt in den Rinnstein. Diesmal konnte er dem Tod nicht entkommen.

Der Mord an Carlo Tresca blieb unaufgeklärt. Zahlreiche Spekulationen machten in der Stadt den Umlauf, ob er von Faschisten, stalinistischen Agenten oder der Mafia getötet worden war. Der Schriftsteller John Dos Passos (der nach seinem Engagement für Sacco & Vanzetti im Orbit der KP agierte und nach den Ereignissen im spanischen Bürgerkrieg zur Rechten driftete, um schließlich in den Sechzigern den erzreaktionären Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater zu unterstützen) vermutete, sein Freund Tresca sei auf Weisung der "gleichen Bande, die Trotzki in Mexiko tötete", ermordet worden, obgleich es dafür, wie Dos Passos eingestehen mußte, keinen Beweis gab. In seinen Augen wurde Tresca als "ein Kämpfer für die amerikanische Freiheit" niedergeschossen. In seinen letzten zehn Lebensjahren, im Kampf gegen Faschisten und Stalinisten sei er "im besten Sinne des Wortes" ein Konservativer geworden: "Gegen die Bandenführer, die die Italiener Amerikas für die Zerstörung unserer Regierungsform und Existenz zu organisieren suchen, hielt Carlo Tresca einen schwierigen und unbarmherzigen Krieg aufrecht. Wie die meisten guten Generäle hielt er Angriff für die beste Verteidigung." Aber Tresca war nie ein "General", der eine Armee befehligte, und es ging ihm auch nie um irgendein "Amerika", dessen "Werte" er hätte verteidigen müssen. "Ich strebe nach Freiheit, nicht nach Anarchie", hatte er einmal gesagt, und ihm war klar, daß diese Freiheit in einer Klassengesellschaft nicht zu erreichen war. So blieb er ein "Unversöhnlicher", wie er sich einmal beschrieb, jemand, der verändern, nicht wie gewendete Ex-Radikale am Erhalt des bestehenden Systems mitwirken wollte. Er starb, wie es die Schlagzeile auf der Titelseite der New York Times unterstrich, als Radikaler.

Für Leute wie Russell ist Tresca der "letzte der Anarchisten", sozusagen ein schwarzroter Unkas in den Schluchten New Yorks, mit dessen Tod auch der Anarchismus in den USA untergegangen sei. Aber mit Tresca starb nicht die Idee. Kurz nach seinem Tod übernahm ein sozialphilosophischer Künstler namens Holley Cantine jr. Trescas Druckmaschine, um in den vierziger Jahren damit seine anarchistische sozialphilosophische Zeitschrift Retort herzustellen, als deren Setzer, Drucker, Binder, Geschäfts- und Vertriebsleiter er in einer Person fungierte. "Wir haben einen unserer geschätztesten Ratgeber und Lehrer verloren", schrieb Cantine in seiner Reminiszenz an Tresca, "aber wir können dennoch aus seinem Leben Nutzen ziehen. Unsere Hochachtung an seine Erinnerung ist eine neuerliche Hingabe an die Ideale, die er für uns lebendig hielt." Etwa zur gleichen Zeit gab der ehemalige Trotzkist und spätere Anarcho-Pazifist Dwight Mac-Donald seine Zeitschrift Politics heraus, welche ihr Leben unter anderem der finanziellen Zuwendung Margaret de Silvers, der Witwe Carlo Trescas verdankte. In ihr erschienen Artikel von Simone Weil, Albert Camus und George Orwell. So wirkte in gewisser Weise Carlo Tresca fort, auch wenn er heute weitgehend vergessen ist, wahrscheinlich mehr von den Anarchisten als alten Italo-Amerikanern.

Anmerkungen: Die unübersetzten Zwischentitel sind Zitate aus Allen Ginsbergs Gedicht "America", veröffentlicht in Howl and Other Poems (1956)

Literatur:


Aus: Schwarzer Faden Nr.30 (1/1989)

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