Birgit Schmidt - Kosmoproleten für die Frayhayt

Zwischen Wilna und New York, zwischen Esperanto und Jiddisch: Die anarchistische Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg war von einem kosmopolitischen Bewusstsein geprägt.

Die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bildete einen fruchtbaren Boden für Eman­zipa­tionsbestrebungen wie die Idee des polnischen Augenarztes Ludwig Zamenhof. Er ging davon aus, dass die Menschen einander friedlich und freundlich behandeln würden, sofern sie nur miteinander kommunizieren könnten, und entwickelte die leicht erlernbare Plansprache Esperanto. Im Sommer 1887 stellte er sie der Öffentlichkeit vor. Bialystok, die Herkunftsstadt des Dr. Zamenhof, gehörte damals zum von Po­gromen erschütterten Russland, in dem die jüdische Jugend und Intelligenz, zu der auch Zamenhof gehörte, das Jiddische für sich entdeckt hatte. Im Nachhinein berühmt gewordene Dichter wie Sholem Aleichem, Itzok Perez oder der Lyriker Semen Frug griffen bewusst auf Jiddisch als Literatursprache zurück; die jüdische Gewerkschaft Bund, die sich zehn Jahre nach Dr. Zamenhofs Sprachentwurf in Wilna gründete, strebte an, mit dem Jiddischen eine jüdische Nationalsprache zu etablieren.

Zamenhof hatte das Esperanto nur als Versuch, als eine Art Testballon konzipiert. Trotzdem wurde es berühmter als die überarbeitete Version, das Ido. Es begeisterten sich in erster Linie Arbeiter und Arbeiterinnen für Esperanto und die dahinter stehende Idee von Frieden, Völkerfreundschaft und Internationalismus. Besondere Aufmerksamkeit weckte die Idee bei den Anarchisten. Doch während Esperanto sich in Frankreich und Deutschland auszubreiten begann, exportierten die russischen Anarchisten das Jiddische vor allem in die englischsprachige Welt.

Einen maßgeblichen Anteil daran hatte der deutsche Anarchosyndikalist Rudolf Rocker. Ihn hatte es aus dem französischen Exil nach London verschlagen, bei den anderen Ausländern, die in den Arbeitervierteln Londons ums tägliche Brot kämpfen mussten, handelte es sich zumeist um aus Deutschland (vor dem Sozialistengesetz von 1878) Geflohene und um russische Juden. Dieses große deutsch- bzw. russisch- und jiddischsprechende revolutionäre Potenzial brachte die Anarchosyndikalisten in Großbritannien dazu, auf Jiddisch zu rekurrieren. In dieser Sprache revoltierten sie gegen die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie. Und in dieser Sprache brachten sie die seit 1885 existierende Zeitschrift Der Arbeiterfreund heraus, die Rocker 1898 als Chefredakteur übernahm. Zu diesem Zweck lernte er, der Nichtjude, Jiddisch, und machte aus dem Arbeiter­freund eines der wichtigsten Organe des Anarcho­syndikalismus, der immer mehr Zulauf bekam. Bald entstand eine anarchosyndikalistische Bewegung von San Francisco bis zum Londoner Stadtteil Whitechapel. 1905 gründete sich in Chicago die Gewerkschaft Industrial Workers of the World (IWW), deren Mitglieder auch unter dem Namen »Wobblies« bekannt wurden, und organisierte Kämpfe und Streiks von Minenarbeitern, Wanderarbeitern und Textilarbeiterinnen an der US-amerikanischen Ostküste. 1907 trat in Amsterdam die Anarchistische Internationale zusammen.

Zwei Jahre später wusste die New Yorker Textilarbeiterin Clara Lemlich nicht, wo sie während der Arbeitszeit ihren Hut lassen sollte. Sie stieg auf einen Stuhl und rief ihren Arbeitskolleginnen zu: »Es gibt keine Umkleideräume für die Mädchen in den Fabriken, keinen Platz, um einen Hut hinzuhängen, ohne dass er am Ende des Tages verdorben ist. Wir sind Menschen, alle sind wir Mäd­chen, und wir sind jung. Wir mögen neue Hüte genauso wie andere junge Frauen. Warum sollen wir nicht?«

Die Bedingungen, unter denen Clara Lemlich und ihre Kolleginnen arbeiten mussten, spotteten jeder Beschreibung: Sie arbeiteten rund 65 Stunden pro Woche, zu Hochzeiten gar 75 Stunden. Die Bezahlung der Frauen lag weit unter der der Männer, und sie mussten zum Teil ihre eigene Nähmaschine und ihren eigenen Stuhl von zu Hause mitbringen. Dazu kamen zahlreiche Schikanen. So gehörte es bei Triangle, einer Firma für Damenoberbekleidung in New York, zu den Gepflogenheiten, die Arbeiterinnen einzuschließen. Wer die Toilette aufsuchen musste, musste einen zumeist männlichen Vorarbeiter darum bitten, die Tür aufzuschließen. Diese Praxis führte am 25. März 1911 bei einem Brand des Gebäudes zu einer Katastrophe. 145 Menschen, die meisten von ihnen junge Frauen, verbrannten bei lebendigem Leib oder starben beim Versuch, sich aus dem Fenster zu retten.

Zwei Jahre zuvor hatte Clara Lemlich zum Streik aufgerufen, und ihre Kolleginnen gingen spontan auf die Straße. Sie wurden niedergeknüppelt, sie wurden verhaftet. Aber sie hatten die öffentliche Meinung hinter sich gebracht. Die Jahre 1909 und 1910 sind unter der Bezeichnung »Die große Revolte« in die Geschichte der USA eingegangen, immer wieder flackerten die Kämpfe auf und erreichten bald Großbritannien. »Im April 1912«, schreibt Rudolf Rocker in seinen Memoiren, »brach auf der Westseite Londons ein allgemeiner Streik in der Bekleidungsindustrie aus, der sich rasch zu einem erbitterten Lohnkampf entwickelte.«

Viele Protagonistinnen und Protagonisten dieser Kämpfe in den USA wie in Großbritannien waren russische Juden, zu denen in den US-amerikanischen Textilfabriken junge Frauen aus Irland und aus Italien stießen. Auch in den USA war Jiddisch die Lingua Franca dieses kosmopolitischen, gemeinsam kämpfenden Proletariats. US-amerikanische Anarchisten und Anarchosyndikalisten publizierten und kommunizierten auf Jiddisch, ihre Zeitungen hießen zum Beispiel Der Shturm und Frayhayt.

Der Internationalismus der Bewegung und die Bewegung selbst wurden mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs von den beteiligten Nationalstaaten zerschlagen. Rudolf Rocker wurde in Großbritannien als feindlicher Ausländer interniert. In den USA wurde das Grundrecht der Meinungsfreiheit außer Kraft gesetzt; die Wobblies kamen nun schon mit dem Gesetz in Konflikt, wenn sie zum Streik aufriefen. Viele von ihnen emigrierten nach Mexiko.

Intern geriet die anarchosyndikalistische Bewegung an ihre ideologischen Grenzen, als der von allen bewunderte Anarchist Fürst Peter Kropotkin Partei ergriff und sich gegen das Deutsche Reich und für die Alliierten aussprach. Gemeinsam mit einigen Gesinnungsgenossen erklärte er: »Wenn Anti-Militaristen bei einem Krieg nur Zuschauer bleiben, unterstützen sie durch ihre Inaktion die Angreifer; sie verhelfen ihnen dazu, noch stärker zu werden und damit ein noch stärkeres Hindernis für die soziale Revolution der Zukunft zu sein.« Damit hatte Kropotkin die Anarchisten gespalten. Rockers Sohn Fermin schrieb später: »Vor allem meine Mutter war kompromisslos und äußerst vehement in ihrer radikalen Ablehnung des Kriegs. Sie hatte absolut kein Verständnis für Kropotkin und seine Anhänger und ihre Parteinahme für die Alliierten.«

Während des Zweiten Weltkriegs, als viele US-amerikanische Anarchisten zu dem Schluss kamen, dass man die Nationalsozialisten nur mit der Waffe bekämpfen könne, dass man also den Kriegseintritt der USA unterstützen müsse, verschärfte sich der Gegensatz noch. Denn prinzipiell antimilitaristische und pazifistische Mitglieder der Bewegung beharrten weiterhin auf ihrer Vorstellung von Internationalismus und Pazifismus. In von Deutschland annektierten Polen und in den besetzten Teilen der UdSSR wurde die jüdische Bevölkerung derweil ermordet. Einst sprachen zwölf Millionen Menschen Jiddisch, heute sind nur noch wenige dieser Sprache mächtig. Und ebenfalls wenige wissen von der Hoffnung auf Frieden und Internationalismus, die sich mit dem Namen des Dr. Zamenhof verbindet.

Originaltext: http://jungle-world.com/artikel/2007/51/20873.html