Állam nélkül - ohne Staat! Anarchismus in Ungarn

Vieles in der (kurzen) Geschichte des Anarchismus in Ungarn erscheint verwirrend, konträr, schwer vereinbar. Ein Großgrundbesitzer, der zu einem der ersten Anarchisten wird, ein Spiritueller, der den Begriff des „idealen Anarchismus“ einführt, Libertäre, die Parteien gründen oder neben Proudhon, Kropotkin und Pannekoek auch ungarische Marxisten wie Georg Lukacs zitieren.

Nun denn – hinein in die eigene Welt der ungarischen Anarchist*innen:

1. Radikale Sozialisten und der „gnostische“ Anarchismus

Wenig ist zu dieser Zeit – nachdem ein Aufstand 1848/1849 niedergeschlagen und Ungarn der österreichischen Monarchie unterstellt wurde – über die Lebensbedingungen der Arbeiter und Arbeiterinnen bekannt. Ungarn befand sich zu dieser Zeit in einem Übergang zwischen Restfeudalismus – die überwiegende Mehrheit der ungarischen Bevölkerung arbeitete als abhängige Bäuer*innen oder Landarbeiter*innen für den ungarischen Adel bzw. auf den Ländereien der katholischen Kirche – und expandierendem Kapitalismus.

Die kapitalistische Entwicklung und Industrialisierung fand vor allem in den Bergbaugebieten des Nordens und in Budapest statt. Im August 1869 führte dann eine Arbeiter*innendemonstration zur Gründung der Allgemeinen Arbeiterpartei, die in engem Kontakt zur „Internationalen Arbeiterassoziation“ stand.

Eine zunächst interne Opposition, die sich „Radikale Sozialisten“ nannte, hatte dadurch u.a Kontakt zu Johann Most und der Zeitschrift „Freiheit“ aufgenommen und veröffentlichte dort ab 1880 Artikel. Nachdem sie aus der Partei ausgeschlossen wurden, gründeten sie eine eigene radikale Arbeiterpartei, in der sie einen klaren Klassenstandpunkt vertraten und zur sozialen Revolution aufriefen – wobei sie, ganz im Sinne von Johann Most, auch zur „Propaganda der Tat“ aufriefen.

Verschiedene Ansichten über die zukünftige Gesellschaft spaltete die Gruppe in zwei verschiedene Richtungen: während die einen für einen „sozialistischen Staat“ eintraten, konnte es für die anderen nur eine selbst verwaltete, auf freie Vereinbarungen beruhende Gesellschaft geben.

Die Historiker nennen nur wenige Namen aus dieser Zeit – so wird z.B: Henrik Jänö Schmid( auch „Eugen Heinrich Schmidt“) viel Raum eingeräumt – Henrik studierte Philosophie in Budapest und verfasste um 1880 seine ersten Aufsätze, unter anderem in der Berliner Zeitschrift „Der Sozialist“ und als Anhänger Tolstois trat er öffentlich für eine gewaltlosen Anarchismus ein – oft sehr direkt und die Regierung und dessen Organe herausfordernd – was ihm denn auch immer wieder mal Gefängnisaufenthalte brachte.

In der ungarischen agrarsozialistischen Bewegung aktiv, brachte er die zweisprachige Zeitschrift „Állam nélkül“ („Ohne Staat“ oder „Ohne Gewalt“) 1897 heraus. Bekannter machte ihn allerdings sein Werk „Die Religion des Geistes“, in dem er sich für einen „idealen Anarchismus“ aussprach: Der Staat ist nichts anderes als Terror. Der Sinn seiner Existenz beruhe auf der Ausbeutung des Menschen, die er mit Hilfe der Justiz und des Militärs aufrechterhalten kann. Für ihn ist die notwendige Revolution eine „kulturelle“, also eine die in den Köpfen der Menschen stattfinden muss – hin zu einer Gesellschaft der von Dogmatik und kirchlicher Organisation befreiten christlichen Lehre.

„In den Revolutionen der vorigen Epochen kämpfte eine tierische Macht gegen eine andere tierische Macht, in unserer Revolution aber wird der in uns erwachende Gott das Tier zertreten“ (1897) Für ihn war das Ziel des „idealen Anarchismus“ eine Art „Brudergemeinde“, die durch „massenhafte sittliche Selbstbefreiung“ erreicht wird. Wichtiges Kampfmittel: Das Verweigern jedes staatlichen und militärischen Eides, gegen Staatsdienst, Krieg und Armee.

Zum Kreis um Schmid gehörte auch István Várkoni – Sohn einer Bauernfamilie, gelernter Autodidakt. Als überzeugter Anarchokommunist arbeitete und agitierte er bei den Bauern in der Umgebung und organisierte 1898 mit einigen Tausenden einen Streik, um die Löhne der bei den Großgrundbesitzern arbeitenden Bauern zu erhöhen. Die Regierung schickte die Armee und durch Waffengewalt wurden die Streikenden gezwungen, die Ernte einzufahren. Sechstausend wurden verhaftet.

2. Vom Großgrundbesitz zum Anarchosyndikalismus

Die Zahl der organisierten Arbeiter/innen stieg nach 1900 auf über 50.000. Die Mobilisierungen des Proletariats erreichten ihren Höhepunkt am 23. Mai 1912, als 100.000 in Budapest gegen die Kriegsvorbereitungen und für einen unbefristeten Generalstreik für 1913 demonstrierten. Diese Kämpfe der Arbeiter – durch und mit Unterstützung anarchokommunistischer Genossen – sowie einige gewonnene Lohnstreiks schufen eine starke Plattform für die anarchistische Propaganda– die Marxisten hatten zu dieser Zeit sehr wenig Einfluss.

Erwin Szabo – Bibliotheksdirektor aus Budapest – gehörte zu den führenden Vertretern des Anarchosyndikalismus in Ungarn. Er wurde dabei nicht nur finanziell vom Grafen Erwin Batthany (1877 – 1934) unterstützt – wohl einer der schillerndsten Figuren des ungarischen Anarchismus.

Batthany trat für die Prinzipien der Kooperation und der gegenseitigen Hilfe ein. In der Arbeiter*innenbewegung sah er die entscheidende Rolle der künftigen Gesellschaft, nur durch ökonomische Selbstverwaltung und freie Assoziationen sei der Sozialismus zu verwirklichen.

Junge Anarchist*innen wie Ilona Duczynka und Otto Korvin aber auch Künstleraktivisten wie Lajos Kassak und Bela Balazs wurden mit Szabó Kerne der Gruppe der „ Revolutionären Sozialisten“1917. Korvin, Deserteur und Antimilitarist, rief die Marinesoldaten zur Meuterei auf, er und andere wurden in Konzentrationslager gesteckt, doch der Funke des Antimilitarismus war gelegt.

Als Erwin Szabó am 29.September 1918 überraschend starb, versammelten sich unzählige zu einem Trauermarsch. Die Arbeit in den Fabriken ruhte einige Minuten zu seinem Gedenken.

In diese Ruhe klangen die ersten Geräusche der Revolution.

3. Von den Räten zum Terror

Die revolutionäre Erhebung vom 30. Oktober 1918 beendete die lange Herrschaft der Habsburger in Ungarn. Eine Meuterei der Soldaten und ein Generalstreik am 30.Oktober fegten die Reste der Monarchie hinweg. Am 16.11.1918 wurde Ungarn eine unabhängige bürgerliche Republik.

Doch die Menschen erwarteten mehr von der Revolution. Bauern teilten sich selber gegenseitig Land zu, Arbeiter verschafften sich Waffen und kontrollierten die Werke. Hunderttausende von Arbeitslosen, Kriegsinvaliden und Flüchtlinge beunruhigten die bürgerlichen Minister.

Am 24. November 1918 gründete der Leninvertraute Bela Khun die kommunistische Partei Ungarns. Mit ihren Forderungen nach sozialer und nationaler Gerechtigkeit, Verstaatlichung und Enteignung auch des Großgrundbesitzes sahen sich die meisten repräsentiert.

Viele der Anarchisten traten der Partei bei, auch Otto Korvin und Tibor Szamuelly. Tibor Szamuelly war Anfangs Anarchist, 1918 besuchte er Kropotkin und lernte Bela Khun kennen, mit dem er eine kommunistische Gruppe organisierte. Szamuelly war derjenige, der viele Anarchisten zum Beitritt zur Kommunistischen Partei überredet hatte. Alle Anarchosyndikalisten folgten ihm und auch einige der „Revolutionären Sozialisten“. So bestand die Kommunistische Partei vor allem aus Syndikalisten und Anarchisten, die auf eine libertäre Perspektive hofften.

Die kommunistische Partei gewann so mehr und mehr Einfluss in die zwischendurch entstandenen Arbeiter-, Bauern-und Soldatenräten. Die Regierung antwortete mit Erschießungskommandos, von ihnen entsandte Polizisten überfielen die Redaktionsräume der kommunistischen Zeitung „Vöros Ujsá“. In den weiteren Repressionen wurden etwa 200 Personen verhaftet, darunter auch der Parteichef der Kommunisten, Bela Khun. Mitte März erreichten große Arbeiter*innendemonstrationen die Freilassung der Inhaftierten, am 20.März trat die bisherige Regierung zurück und die verbliebenen Sozialdemokraten beschlossen mit der KP eine Koalition, die dann auch prompt die Errichtung einer proletarischen Diktatur forderte. Und ohne erkennbaren Widerstand wurde dann am 21.3.1919 die Ungarische Räterepublik ausgerufen. Béla Khun, gestern noch inhaftiert und gefoltert, war nun Volkskommissar für Auswärtige Angelegenheiten – für 133 Tage.

Die fortlaufende Bolschewisierung der „Räterepublik“ forderte mehr und mehr die Kritik vieler Anarchist*innen heraus. Sie versuchten über die Gründung einer „Anarchistischen Union“ eine Neuformierung der Bewegung.

Otto Korvin u.a. blieben jedoch in der Partei und vor allem Tibor Szamuelly, der im Laufe seiner Karriere Volkskommissar für militärische Angelegenheiten wurde und verantwortlich für den „Roten Terror“, in dem 130 Personen erschossen oder aufgehängt wurden, davon 40 von Szamuelly persönlich ausgesucht, dabei viele Anarchisten, die sich inzwischen gegen die Kommunisten gewandt hatten und deshalb als „Konterrevolutionäre“ galten.

Mit dem Zusammenbruch der Räterepublik am 1.August 1919 durch rumänische Truppen wurde auch Otto Korvin verhaftet und gefoltert. Andere Anarchisten erstochen, erhängt oder erschlagen. Tausende von Arbeiter*innen am 10.August mit Maschinengewehren niedergemäht, andere zu Tode gefoltert.

Szamuelly selbst wurde auf seiner Flucht nach Österreich an die Polizei verraten und zu Tode geprügelt. Bauern zerhackten anschließend wütend seinen Leichnam und verstreuten die Teile über die Äcker.

Die noch lebenden Anarchisten versuchten in dem Kreis um Henrik Jänö Schmid sich neu zu organisieren, hielten Kontakt zu den Gefangenen in den Konzentrationslagern. 1924, der „Weiße Terror“ hatte etwas nachgelassen, begannen sie wieder mit dem Aufbau von Syndikaten und Genossenschaften, doch viele von ihnen wurden verhaftet, und in den Untergrund gezwungen.

Von da an sollten sie lange keine Rolle mehr spielen, bis zum Aufstand 1956!

Ein Aufstand ohne Führer und Organisation – Teil 2 zum „Anarchismus in Ungarn“

Zwischen 1919 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden im Ungarn des Regimes von Admiral Horthy, Tausende ermordet und über 400.000 Juden in die Konzentrationslagern der Nazis deportiert. Als im Jahre 1944 das Land von der sowjetischen Armee angeblich „befreit“ wurde, installierte die Sowjetunion mit Bela Miklos einen Mann, der von Adolf Hitler persönlich mit einem „Eisernen Kreuz“ dekoriert worden war – dieser Bela Danolki-Miklos, der zwischen dem Regime der deutschen Nazis und der Regierung des Admirals Horthy als „Vermittler“ gedient hatte – jenem Horthy, der 1919 den „weißen Terror“ gestartet hatte. Der sowjetische „Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten“, Molotow bemerkte dazu, dass „vor allem jetzt Recht und Ordnung aufrechterhalten werden muss, um den Anstieg der Anarchie in diesem Land zu verhindern.“ Als Dekoration durften dann auch einige Sozialdemokraten und ungarische Kommunisten an der Regierung beisitzen.

Die Sowjetunion begann durch die kommunistische Partei Ungarns – inzwischen von altem Ballast gereinigt – das Land mehr und mehr zu kontrollieren. Das Innenministerium und vor allem die ungarische Geheimpolizei, die AVO („Magyar Államrendőrség Államvédelmi Osztálya“, = Staatsschutzabteilung der ungarischen Staatspolizei) wurde nun Teile der Partei. Die AVO war wegen ihren Folterungen und Morden gefürchtet und in der ungarischen Gesellschaft auch deshalb verhaßt, weil sie das bis zu 10fache eines Arbeiterlohnes bekamen. Die sowjetische Armee nahm auf ihrem Rückzug eine ungeheure Anzahl von „Kriegsbeute“ mit, große Mengen von Gemüse, Getreide, Milchprodukten usw. wurden für das Sowjetregime beschlagnahmt. Hinzu kamen immense Reparationszahlungen, die vornehmlich die ungarischen Arbeiter*innen zu zahlen hatten – neben der Nahrungsmittelknappheit und den niedrigen Löhnen. Ungarn wurde russische Kolonie.

Trotz Geheimpolizei und Teile der Roten Armee blieb die Situation in Ungarn angespannt. Es kam immer wieder zu Bummelstreiks und Sabotageaktionen, auch innerhalb der kommunistischen Partei wuchs die Unzufriedenheit. Es begannen interne Säuberungen, 500.000 wurden ausgeschlossen, Hunderte hingerichtet.

Im März 1953 starb Stalin. Arbeiterrevolten in Pilsen und der Aufstand in Ostberlin wurden von der Armee niedergewalzt, in Ungarn wurde eine neue Strategie eingeführt, um dort eventuelle Aufstände nicht entstehen zu lassen.

Doch am 28.Juni 1956 wurde ein Arbeiteraufstand in Poznan, Polen vom Militär niedergeschlagen. Es gab 57 Tote, etwa 600 Verletzte, 100 000 hatten den Protest mitgetragen. Hatten die Arbeiter in Ungarn anfangs noch mit Solidaritätsstreiks ihre Kolleg*innen in Polen unterstützt, wurde nun die Bewegung größer.

Intellektuelle, Künstler und Studierende stellten nun ihrerseits Forderungen. Bekannt wurde der „Petöfi-Kreis“, eine Gruppe Studierender aus der kommunistischen Jugend. Zur gleichen Zeit tauchten aus dem Untergrund Flugblätter auf, halböffentliche Sitzungen wurden abgehalten, die ersten – auch von Anarchosyndikalisten initiierten – Fabrikräte forderten die Übernahme durch die Arbeiter. Der „Petöfikreis“ unterstütze die Forderungen der Arbeiter und organisierte am 23.Oktober 1956 eine Demonstration der Solidarität mit den Aufständischen in Poznan. Trotz Verbotes strömten immer mehr Menschen zur Kundgebung. Viele entschieden sich, zum Rundfunksender zu marschieren, um dort ihre Forderungen senden zu lassen. Auf dem Weg dorthin wird eine Riesenbüste von Stalin heruntergezerrt und in viele Teile geschlagen.

In dieser Situation ändert sich der Verlauf des Aufstandes drastisch. Als die Demonstranten aus dem Rundfunkgebäude von AVO Schlägern beschossen und viele von ihnen getötet werden, entlädt sich die Wut und die Verzweiflung. Polizisten vor dem Gebäude werden entwaffnet, Arbeiter gehen zurück in die Fabriken, um Waffen zu holen, die kommunistischen Parteiführer geraten in Panik und rufen die Rote Armee zur Hilfe.

Ein Revolutionsrat aus Arbeitern und Studierenden bildet sich und ruft zu einem Generalstreik auf. Russische Panzer rollten noch am gleichen Tag durch Budapest, Barrikaden aus Fässern und Eisenbahnwaggons waren die Antwort.

Ab dem 24.Oktober weiteten sich die Aufstände auf andere Ortschaften aus, überall entstanden Arbeiter- und Revolutionsräte.

Die kommunistische Regierung versuchte mit verschiedenen Wechselmanövern die Aufstände zu entkrampfen, doch der revolutionäre Funke war gezündet, überall übernahmen die Fabrikräte die Organisation der Arbeit, Bauern und Landarbeiter*innen ihrerseits die Versorgung mit Lebensmitteln oder teilten sich in manchen Orten selber Land zu – Kollektive entstanden.

Die Rote Armee verstärkte ihre Kämpfe und gewann langsam an Übergewicht. Die Geheimpolizei kam aus ihren Löchern und stürzte sich auf jede*n Aufständischen, den sie zu sehen bekamen. Die meisten, die von ihnen in den nächsten Tagen erschlagen oder aufgehängt wurden, waren revolutionäre Arbeiter*innen.

Am 14.November 1956 waren die größten Kämpfe vorbei– Munitionsmangel und fehlendes Kriegsmaterial auf Seiten der Aufständischen hatten schon in den Tagen davor die Niederlage angedeutet. Über 20 000 bezahlten ihre Wünsche nach Freiheit und Selbstbestimmung mit dem Leben.

Bis 1957 gingen die Verhaftungen und Hinrichtungen weiter.

Die westlichen Gewerkschaften hatten die Aufstände nicht unterstützt. Der „Internationale Bund der Freien Gewerkschaften“ hatte einen internationalen Boykottaufruf der ungarischen Arbeiterräte abgelehnt.

“Wir wollen Freiheit und nicht ein gutes bequemes Leben. Auch wenn heute Brot und andere lebensnotwendige Mittel fehlen sollten, wir wollen mehr. Vor allem wir Jungen werden daran gehindert, weil wir unter Lügen erzogen wurden. Wir mussten ständig lügen.“

Der Charakter dieser Aufstände zeichnete sich vor allem in einem klaren Wunsch nach einem Leben ohne jedwede „Führer“ aus. Das war das Bemerkenswerte bei diesem Aufstand, dass sie keine „Führer“ hatte, es wurde nicht groß organisiert, nicht zentral geleitet. Der Wille nach Freiheit war die Kraft, die die Aufstände vorantrieb.

„Es gab keine Organisation, also auch keine Disziplin, aber eine verdammt gute Zusammenarbeit …. einige Menschen, die gerade noch gekämpft hatten, gingen nach Hause, dafür kamen andere und kämpften weiter.“

Der ungarische Aufstand leuchtete einen Weg zu einer neuen Gesellschaft aus, für den viele ihr Leben geben mussten und der noch lange nicht beendet ist.

Budapesti Anarchista Csoport u.a. – Teil 3 von „Anarchismus in Ungarn“

Aus welchen Gegebenheiten reden wir von der Präsenz anarchistischer Bewegungen? Wenn einzelne Personen oder Organisationen ganz klar zu benennen sind? Oder wenn wir den Eindruck haben, dass das Zusammenleben und tägliche Agieren der Menschen von den Ideen und Handlungen des Anarchismus geprägt ist – und dies nicht nur in kleinen „widerständigen“ Gruppen? Lassen wir diesen Aspekt gelten, so war spätestens seit dem Aufstand 1956 in Ungarn klar, dass die libertären Ideen und Gedanken durchaus auch in Ungarn präsent waren und in dieser Zeit des Aufstandes sogar öffentlich gelebt wurden.

1. Zusammenarbeit auf Grund der persönlichen Freiheit und durch die sich bildende
Selbstverwaltung
2. Freie Agitation und Kooperation
3. Kampf gegen alle repressiven Institutionen und Emanzipation jede*s einzelnen

zumindest in diesen drei Wochen des Herbstes 1956.

Und es sollte erst 1987/1988 möglich sein, diese Ideen wieder öffentlich zu machen, als sich zum ersten Mal wieder Oppositionsgruppen bilden und auftreten konnten.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich in einer „zweiten Öffentlichkeit“ in einer Grauzone zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich ein Netzwerk von Szenen, Gruppen und kulturellen Produkten gebildet, wobei sich die „Samisdat“ Publikationen besonders hervortaten – mit Schreibmaschine hergestellt, durch viele Kanäle vertrieben, Zeitschriften wie „Demokrata“ oder „Égtájak Között“ („der dritte Weg“) u.a. , deren Autoren*innen permanent überwacht und verhört wurden --- im Laufe der nächsten Jahre ließen die Kontrollen mehr und mehr nach, und die Zeitungen konnten hin und wieder an der Straßenecke verkauft werden, Aktivist*innen aus anderen Ländern innerhalb des „Eisernen Vorhanges“ konnten sich treffen, der Punk und die Anarchie der Siebziger Jahre wurde von der ungarischen Jugend entdeckt.

In einem solchen Milieu konnten wieder die ersten libertären Initiativen beginnen.

Gruppe „Autonomia“

Die wohl erste anarchistische Gruppe in diesen Zeiten des Übergangs (1988-1990, Übergang zum Mehrparteiensystem) war „Autónomia“, die mit einem „Manifest“ sich offiziell im November 1988 vorstellte. Flugblätter wurden verteilt, einige Demos organisiert – am bekanntesten wurden sie wohl durch die Herausgabe der gleichnamigen Zeitschrift.

In ihren Erklärungen erkennen wir die Ideen und Ziele anarchistischer Bewegungen der achtziger Jahre wieder. Autonome Gemeinschaften im sozialen und wirtschaftlichen Bereich würden jegliche Art von zentraler Steuerung ersetzen – durch „direkte Demokratie“.

Spektakulär war, als sie in einer öffentlichen Aktion vor mehreren Hunderten von Menschen ihre Ausweise und Militärpapiere verbrannten – mindestens so spektakulär war es für viele aber auch, dass die Polizei sich zurückhielt.

In ihrer Zeitschrift wurde zum einen durch Texte von Bakunin und Malatesta die „Geschichte des Anarchismus“ erzählt, aber auch ein langes Interview einer britischen feministischen Zeitung zur Abschaffung des Patriarchats prägten darüber hinaus die Aktivitäten dieser Gruppierung. Mehrere Artikel befassten sich mit den lokalen sozialen Bedingungen, und der Kritik an den Versprechungen des „Übergangs“.

Nach 18 Monaten, im Frühjahr 1990, löste sich die Gruppe auf. Einige der Aktivist*innen werden wir jedoch im Folgenden „wieder sehen“

Anarchistische Gruppe Budapest

So bei der wohl bekanntesten Vereinigung, der „Budapesti Anarchista Csoport““, der „Anarchistischen Gruppe Budapest“ , während einige der jüngeren die Anarchopunkgruppe NAP bildeten, so genannt nach einem Ende 1989 besetzten Haus, in deren Entwicklung es noch zu mehreren Besetzungen kam, sei es als Wohnprojekt oder als Kulturzentrum.

In diesem Zusammenhang sei der Verein „GEO“ erwähnt, der ca. 5 Jahre lang (1990-1995) eine anarchistische Lebensgemeinschaft mit Selbstversorgung versuchte.

Anarchista Csoport

Im Sommer 1990 gebildet, waren immer etwa 40 bis 50 Menschen in den Aktivitäten der Gruppe involviert.Es gab Unterstützer*innen im ganzen Land. Die Gruppe traf sich einmal wöchentlich, organisierte Vorträge, Diskussionen und öffentliche Aktionen. Ihre Zeitung – einfach „Anarchistische Zeitung“ genannt – hatte eine Auflage von ca. 2500 und wurde auf der Strasse verkauft.

In ihr propagierten sie die gegenseitige Hilfe, Solidarität und Autonomie in allen Bereichen des täglichen Lebens.
Als sich bei einem Papstbesuch die Zeitung speziell auf die katholische Kirche konzentrierte, wurden einige Straßenverkäufer vorläufig festgenommen und die Ausgaben beschlagnahmt.

Ein häufiges Thema war vor allem die Diskriminierung der Frauen in Ungarn. In einer klar feministischen Haltung wurde gegen die sexistische Praxis im Lande Stellung bezogen, „Kein Gott, keine Nation, keine Familie“ einer der dabei oft benutzten Slogans.

Im Herbst 1992 wandelte sich die „Anarchistische Gruppe Budapest“ um in die Anarchistische Föderation Budapest und verstärkte im Laufe der nächsten Jahre ihre öffentlichen Aktionen – anfangs noch gegen den Golfkrieg(1991), wuchs der Widerstand gegen Militarismus und Nationalismus – bei einer nicht legalisierten Aktion vor dem Kriegsministerium wurden Dutzende Antimilitaristen und Anarchistinnen verhaftet und eine Zeitlang festgehalten.

Für die Föderation war eine Welt ohne Autorität nur mit den Mitteln einer gewaltfreien sozialen Revolution herstellbar. In ihrem Wirken (bis Ende 1995) entstanden kleinere, weniger effektivere Organisationen, wie die sich „Allianz der Klassenkämpfer“ nennende Gruppierung, die eher eine Ideenwerkstatt war, die vor allem durch Veröffentlichungen zum so genannten „Klassenkampfanarchismus“ auffiel.

Der Klassenkampfanarchismus setzt auf die Tradition des libertären Kommunismus, aber auch auf den Anarchosyndikalismus und überschneidet sich dabei z.B. mit dem Rätekommunismus eines Anton Pannekoek.
Die menschliche Gesellschaft sei in zwei Klassen aufgeteilt, argumentierten sie, deren Interessen antagonistisch gegenüberstehen. Demzufolge seien sie keine Kommunisten oder Anarchisten, sondern „Classist“: „ Wir wollen keine Reformen, sondern die Revolution“.

„Barrikadennotizbücher“ hießen die Broschüren, die vor allem zur Geschichte des ungarischen Anarchismus in dieser Zeit herausgegeben wurden. Aber wie einzelne Kleingruppen danach, beschränkten sich die Aktivitäten auf die Herausgabe von Broschüren, einige Plakate und ne Unmenge von Graffitis.

Um die Jahrtausendwende gab es einen Generationenwechsel. Mit dem Verschwinden der alten Gruppen fanden sich viele Anarchist*innen in einem Vakuum. Andererseits konnte jetzt ohne grosse Einschränkung gereist werden und so Zusammenarbeiten über die Landesgrenze hinaus erschien auf einmal möglich.

Bis in die Mitte der 90er Jahre geschah nun das in der sozialen Wirklichkeit, was die Libertären schon vorausgesagt hatten – das Mehrparteiensystem und vor allem die propagierte Marktwirtschaft brachte für die meisten keine soziale oder wirtschaftliche Verbesserungen und nur für wenige individuelle Freiheit. Soziale Unterschiede wuchsen dramatisch – gesteuert und verstärkt durch die einsetzende Privatisierung.

Es entwickelte sich so etwas wie ein „Lebensstilanarchismus“, Gruppen wie „Food not Bombs“ als einer der Ergebnisse der Antiglobalisierungsbewegung tauchten in den Städten auf, Infoshops, „Freeshops“ – das Internet als alternatives Medium brachte mehr oder weniger erfolgreich ab 2001 das Nachrichtenportal „Indymedia“. Bis 2010 sollte es die Plattform für die verschiedenen Aktivitäten autonomer und libertärer Aktionen hier wie auch auswärts sein, schaffte Raum für Debatten. Debatten auch für eine erneute anarchistische Organisation …..

Még, még, még…vörös-feketék!“ - Abschliessender Teil von Anarchismus in Ungarn !

Öffentliche Debatten erzielten auf jeden Fall die Aktionen der Gruppe „Zentrum“, die in direkten Aktionen 2002 ein großes Grundstück in Budapest besetzten, um dort eine selbstorganisierte und sich selbstverwaltende Gemeinschaft zu bilden. Die Aktivist*innen waren nicht alle Libertäre, aber letztere gehörten zum „harten Kern“ und bestimmten so entscheidend Inhalt und Praxis vieler Diskussionen. Alles in allem waren es wohl vier Gebäude, die sie eine Zeitlang besetzt hielten und konnten bis zu 100 Leuten mobilisieren. Solcher Art direkter Aktion und Selbstverwaltung erregte das Interesse vieler, leider das auch der Polizei und der Justiz. Nachdem die Gebäude relativ schnell „geräumt“ waren, kam es zu mehreren Prozessen mit allerdings unterschiedlichen Urteilen. Gelang es noch im ersten Prozess die Richter davon zu überzeugen, dass das Besetzen von Häusern durchaus mit den Bürgerrechten vereinbar, ja sogar teilweise berechtigt sei, wurden die Besetzer*innen im zweiten Prozess zu Bewährungsstrafen verurteilt.

Zwischen 2005 und 2007 versuchten einige Aktivist*innen des „Centrum“ jetzt über einen libertären Verein „AK57“(Tüzoltóstr. in Budapest) eine anarchistische Bibliothek, einen Infoladen und verschiedene Wohnprojekte einzurichten.

Wie und wo der Anarchismus als effektive Bewegung wieder wahrnehmbar ist, ist unklar. Es wird versucht, über den Infoladen einige Räume durch Besetzungen, ein kulturelles Zentrum und dem „Kaszinó Community Space“ das ganze am Leben zu erhalten. Im Kaszinó , zwischen Nyárstrasse und Klauzálstrasse, wurde in den beiden letzten Jahren wohl so etwas wie eine kommuneähnliche Gemeinschaft aufzubauen — Aktionen, Workshops und die Zusammenarbeit mit anderen auch ausländischen, Gruppen prägten das Tagesgeschehen. Im Gegensatz dazu ist der „Belá Club“ eher so was wie Party und Gruppenraum, wo auch Veranstaltungen zur Geschichte der Arbeiter*innenbewegung stattgefunden haben – finanziert durch Beiträge.

Aber so wirklich starke anarchistische Gruppen gibt es wohl nicht – wenn wir von den üblichen Fanzines und Webseiten mal absehen – wie z.b. die des „Barricade Collective“ oder das „Rednews Portal“. Eher hat sich in den letzten Jahren – seit der Regierungskrise 2006 – eine recht muntere rechtsradikale Szene aufgetan, die sich durch die Machtübernahme der FIDESZ noch öffentlicher artikulieren kann und mit paramilitärischen Aktionen vor allem gegen Roma u.a. vorgeht. Zurzeit ist die nationale Frage eines der Hauptthemen in der ungarischen Öffentlichkeit und die Regierungspartei versucht dies mit totalitären Methoden zu bestimmen. Hin und wieder kommt es zu „empörten“ Demonstrationen gegen deren Politik – vor allem gegen die Aktionen der rechtsextremen Partei „Jobbik -, zu einigen alternativen Organisationen – dies alles aber im Rahmen der „bürgerlichen Demokratie“ – von Aktionen der „Antifa Budapest“ abgesehen.

Die Anarchist*innen sind seit 1988 wieder in einer eher untergeordneten Situation, obwohl gerade jetzt die libertären Ideen der Solidarität und gemeinsamen Hilfe, der Selbstorganisation und Freiheit gefragt sein müssten. Von außen die Entwicklung und die Situation des heutigen Anarchismus in Ungarn zu betrachten, nach relevanten oder gar tragenden Bewegungen zu suchen, fällt schwer — oft bleibt es nur beim Entdecken kleiner „Widerstandskulturen“ – oft im Bereiche des Punks, des Feminismus — vom Anarchosyndikalismus, der gerade eine wichtige Rolle in den wirtschaftlichen Krisen spielen könnte ( Ungarn hängt seit 2008 am Tropf von IWF und Weltbank) erfahren wir wenig.

Wer vielleicht mehr erfahren will, sei auf einige Webseiten verwiesen


Originaltexte: http://radiochiflado.blogsport.de/2011/10/05/allam-nelkuel-ohne-staat-erster-teil-vom-anarchismus-in-ungarn/ und http://radiochiflado.blogsport.de/2011/10/07/ein-aufstand-ohne-fuehrer-und-organisation-teil-2-zum-anarchismus-in-ungarn/ und http://radiochiflado.blogsport.de/2011/10/11/budapesti-anarchista-csoport-u-a-teil-3-von-anarchismus-in-ungarn/