Die anarchistische Bewegung in Japan von 1905 bis 1936

In den drei Jahrzehnten von 1905 bis 1936 hatten die anarchistischen Gedanken und Aktivitäten ihre Blütezeit in Japan. Trotz starker staatlicher Zensur und Repression verbreiteten sie sich seit 1905 so sehr, dass die „Landesweite Libertäre Föderation von Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengôkai) eine Mitgliederzahl von bis zu 15.000 Personen aufweisen konnte. Schließlich wurde die anarchistische Bewegung in Japan jedoch durch innere Zerwürfnisse ebenso wie durch noch stärkere Unterdrückung durch den militaristischen Staat im Zweiten Weltkrieg nahezu dem Erdboden gleich gemacht.

In diesem Artikel will ich diese Entwicklung des Anarchismus in Japan möglichst prägnant aufzeigen. Angefangen bei der Entstehung der anarchistischen Bewegung aus der Spaltung der sozialistischen werde ich die Eckpfeiler des Anarchismus in Japan näher beleuchten: Die Ära der Volksunruhen, die geplante Ermordung des japanischen Kaisers und die sich daran anschließende „Winterzeit“ für die radikale Linke, die Reisunruhen mit Hunderttausenden von DemonstrantInnen, die jedoch weniger von anarchistischen oder anderen radikalen AktivistInnen, als vielmehr von der Bevölkerung Japans an sich getragen wurde, die Zusammenarbeit und der Bruch mit bolschewistischen Kommu­nistInnen, die Krise zwischen „reinen“ und syndikalistischen Anar­chistInnen und schließlich die fast endgültige Zerschlagung der Bewegung durch den Staat.

Anarchistischer Syndikalismus, anarchistischer Kommunismus und anarchistischer Terrorismus

Diese drei Strömungen des Anarchismus waren zu unterschiedlichen Zeitabschnitten der hier thematisierten drei Jahrzehnte vorherrschend in Japan. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung von Parlamentarismus und allgemeinem Wahlrecht als unzureichend für eine tatsächliche und radikale Veränderung der Gesellschaft. Als einzige Möglichkeit, wirklich etwas zu erreichen und zu verändern, betrachtete man die Direkte Aktion. (1)

Der anarchistische Syndikalismus hatte seine Blütezeit in den späten 1910er und frühen 1920er Jahren, vor allem unter dem Anarchisten Ôsugi Sakae. Er betonte die Notwendigkeit, die ArbeiterInnen in Gewerkschaften (Syndikaten) zu organisieren, die für ihn nicht nur das geeignete Mittel für ökonomische Aktionen waren, sondern auch ein Mikrokosmos, in dem die Lebensweise der idealen zukünftigen Gesellschaft schon jetzt verwirklicht werden könnte. Ökonomische Aktionen, wie z.B. Streiks, schätzte er vor allem, weil durch sie die ArbeiterInnen ihre eigene Stärke erkennen und weiterentwickeln könnten. (2)

Die Theorie der anarchistischen Kommu­nistInnen in Japan, die sich selbst „reine“ AnarchistInnen nannten, basierten vor allem auf den Schriften Kropotkins. Sie lehnten den syndikalistischen Ansatz ab, da er sich zu sehr auf die (noch) kleine Gruppe der ArbeiterInnen konzentriere. Wirklich revolutionäres Potential hatten für sie, wegen ihrer großen Anzahl und ihren kaum zumutbaren Lebensbedingungen, nur die BäuerInnen. Der Widerspruch zwischen Stadt und Land wurde als Hauptwiderspruch des Kapitalismus betrachtet. Für die Durchführung der Revolution sahen die „reinen“ Anar­chistIn­nen eine Kooperation von Bäu­erInnen und ArbeiterInnen in der Stadt zwar als unerlässlich an, doch für sie konnte die Revolution erst dann als erfolgreich beendet gelten, wenn das Leben in der Stadt zugunsten von bäuerlichen und klein-industriellen Kommunen aufgegeben worden war. (3)

Die zahlenmäßig kleinste Gruppe von anarchistischen TheoretikerInnen und AktivistInnen, aktiv vor allem in den Jahren 1909-11, waren diejenigen, die Anschläge gegen Staatsgebäude und auch Autoritätspersonen der herrschenden Verhältnisse favorisierten. Die bedeutendsten unter ihnen waren Kôtoku Shksui und Uchiyama Gudô. Uchiyama konzentrierte sich in seiner Theorie vor allem auf den japanischen Kaiser, dessen Göttlichkeit er anzweifelte. Kôtoku hingegen wollte die Revolution mit Gewaltakten einer kleinen Gruppe von 40-50 Revolutionären gegen staatliche Gebäude und Verant­wortungs­trägerInnen einleiten. Dies sollte die Bevölkerung dazu inspirieren, sich gegen die Missstände und die Unterdrückung zu erheben. (4)

Kôtoku Shûsui und der Beginn des Anarchismus

Als Startpunkt für die anarchistische Bewegung in Japan wird häufig das Jahr 1905 angegeben. In diesem Jahr schrieb Kôtoku Shûsui , Sozialist und Mitherausgeber der anti-militaristischen Zeitung Heimin Shimbun, aus dem Gefängnis an seinen amerikanischen Freund, den Anarchisten Albert Johnson:

„Ich habe eine Menge dieser sogenannten „Kriminellen“ gesehen und studiert und kam zu der Überzeugung, dass nur die staatlichen Institutionen – Gericht, Gesetz, Gefängnis – verantwortlich sind für sie – Armut und Kriminalität … In der Tat, ich bin als marxistischer Sozialist [ins Gefängnis] gegangen und zurückgekehrt als ein radikaler Anarchist.“ (5)

Die anarchistische Bewegung in Japan entstand aus einer zweifachen Spaltung der selbst noch relativ jungen sozialistischen Bewegung. Als am 20. Mai 1901 die Sozialdemokratische Partei Japans (shakai minshutô) gegründet wurde, waren alle Mitglieder bis auf eines (Kôtoku Shûsui) christlich. Tatsächlich hatten christliche Ideen in der sozialistischen Bewegung in Japan einen so starken Einfluss, dass Kôtoku 1903 missbilligend schrieb:

„In Japan wird Sozialismus lediglich als ein Produkt des Christentums angesehen, oder als sein Anhängsel. Die Men­schen gehen sogar so weit zu glauben, dass ‘sozialistisch’ gleichbedeutend mit ‘christlich’ ist.“ (6)

Die christlichen Ideen waren für die japanischen SozialistInnen vor allem wegen ihres „die Ländergrenzen überschreitenden Kosmopolitismus” und ihres „sämtliche irdische Autoritäten missachtenden Libertarismus“ (7) so attraktiv. Mit dem Beginn des Russisch-Japanischen Krieges 1904 brachen viele Sozialist_innen mit den Christentum, da sich die ChristInnen der allgemeinen nationalistischen Euphorie hingaben, wohingegen der größte Teil der SozialistInnen eine anti-militaristische, pazifistische Haltung einnahm. Ein Jahr später spaltete die sozialistische Bewegung über inhaltliche Fragen, wie z.B. die der freien Liebe, endgültig in eine christliche und eine nicht-christliche Strömung.

Die Anti-Kriegs-Haltung vieler Sozial­ist­Innen, wie sie unter anderem auch in der sozialistischen Zeitung Heimin Shimbun teilweise äußerst radikal ausgedrückt wurde, blieb von staatlicher Seite nicht ungestraft. Durch staatliche Repression im Namen der damals drakonischen Pressegesetze wurde die Zeitung dazu gezwungen, ihre Herausgabe einzustellen, und zwei ihrer Herausgeber, Sakai Toshihiko und Kôtoku Shûsui, verbüßten mehr­monatige Haftstrafen. Während dieser Haftzeit geschah es, dass Kôtoku Shûsui sich dem Anarchismus zuwandte.

Die zweite Spaltung der sozialistischen Bewegung war jene in die Lager der ParlamentaristInnen und der Direkten AktionistInnen. Sie wurde ausgelöst durch eine Rede, die Kôtoku am 28.6.1906 hielt.

Amerikanische Einflüsse und die Abkehr vom Parlamentarismus

Obwohl Kôtoku sich in seinem Brief von 1905 selber als Anarchist bezeichnet, wurde diese Einstellung nicht sofort in seinen Theorien deutlich.

Bis dahin dem japanischen Kaiser (tennô) trotz der eigenen sozialistischen Neigungen immer loyal, überdachte Kôtoku im Gefängnis diese Auffassung und gelangte zu der Erkenntnis, dass der tennô als Dreh- und Angelpunkt der japanischen Staatsideologie und -maschinerie ein grundlegender Stützpfeiler des Kapitalismus ist. Er entschied, nach Beendigung seiner Strafe einige Zeit in den USA zu verbringen, um seine Kritik am Kaiser frei äußern zu können. Bei seiner Ankunft in Kali­fornien im Dezember 1905 propagierte Kôtoku, trotz seiner vorherigen Selbsteinschätzung als Anarchist, noch immer den Parlamentarismus. Kritik an diesem Ansatz wurde ihm vor allem von Mrs. Fritz, einer aus Russland emigrierten Anarchistin, aufgezeigt. Sie war es auch, die ihn mit den Ideen des anarchistischen Terrorismus in Berührung brachte und ihn von der Notwendigkeit des politischen Mordes an Regie­rungs­mitgliedern zu überzeugen versuchte.

Weit wichtigere Einflüsse waren jedoch zunächst die des anarchistischen Kommunismus und des anarchistischen Syndikalismus. Mit letzteren kam Kôtoku vor allem durch die damals frisch gegründete Gewerkschaft Indus­trial Workers of the World (IWW) in Berührung.

Im Juni 1906 kehrte Kôtoku nach Japan zurück. Auf seiner Begrüßungsfeier am 28. Juni stellte er die Frage, was durch Parlamentarismus jemals erreicht worden sei und was dadurch überhaupt erreicht werden könne. Das beste und einzige Mittel seien, wie er in dieser Rede ausführte, nicht Parlamentarismus und allgemeines Wahlrecht, sondern Direkte Aktionen und der Generalstreik. (8)

Nach dieser Rede versammelte sich um Kôtoku eine Gruppe radikaler Sozial­istInnen, die den Parlamentarismus ablehnten und Direkte Aktionen befürworteten.

Ära der Volksunruhen

In der Zeit von 1905 bis 1918 kam es in Japan immer wieder zu Demonstrationen, Unruhen und Aufständen der Bevölkerung, weshalb diese Epoche auch als „Ära der Volksunruhen“ (minshu sôjôki) bezeichnet wird. Zwei davon will ich kurz erwähnen:

1906 wurden im von der Nachkriegsrezession geplagten Japan nicht nur zur Finanzierung der kriegerischen Auseinandersetzungen die Steuern erhöht, sondern auch eine Preiserhöhung für die Nutzung der Straßenbahnen in Tôkyô angekündigt. Daraufhin kam es im Hibiya-Park in Tôkyô zu mehreren von gemäßigten und radikalen SozialistInnen organisierten Demonstrationen mit mehr als tausend TeilnehmerInnen, in deren Verlauf es auch zu Beschädigungen und Zerstörungen von Regierungsgebäuden und Straßenbahnen kam. Zahlreiche DemonstrantInnen wurden verhaftet, doch die Preiserhöhung konnte zumindest für einige Zeit aufgeschoben werden. (9)

1907 mündete in den Kupferminen in Ashio, Präfektur Tochigi, ein sich seit Jahren hinziehender Konflikt in gewaltsamen Ausschreitungen. In den 1880ern durch Furukawa Ichibe vom Staat gekauft, gelangten mit der Ausdehnung der Förderung der Mine immer mehr Abfälle in den Watarase-Fluss, wodurch ganze Landstriche verschmutzt und Reisernten in großem Maßstab zerstört wurden. Bereits in den 1890ern wurde das Problem mehrfach dem Parlament vorgetragen, und im Jahr 1900 versuchten tausend Repräsent­antInnen der betroffenen Bäu­erInnen ihren Sorgen mit einem Protestmarsch nach Tôkyô Luft zu machen. Der Marsch wurde fast direkt nach dem Aufbruch von Polizei und Militär zerschlagen und das Problem blieb weiterhin unbeachtet... Bis zum Februar 1907, als in einem gewalttätigen Aufstand von mehr als 3000 Minen­arbeiterInnen und Bäu­erInnen die Mine mit Feuer und Sprengstoff fast vollständig zerstört wurde. Die Aufständischen lieferten sich Kämpfe mit Polizei und drei Infanterie-Kompanien, die zur Niederschlagung des Aufstandes geschickt wurden, bevor sie sich der Übermacht des Staates ergeben mussten. (10) Dieser Aufstand war „der erste Ausbruch von Gewalt in großem Maßstab in der Geschichte der japanischen Arbeiterbewegung“. (11)

Hochverratsaffäre, Winterzeit, Rice Riots

In den Jahren 1909/10 radikalisierte sich ein Teil der anarchistischen Bewegung um Kôtoku Shûsui zusehends. Kôtoku selber versuchte zu dieser Zeit, eine Gruppe von 40 bis 50 bedingungslosen und hartgesottenen Radikalen zu rekrutieren, die durch Gewaltakte eine „Revolution des Terrors“ initiieren würden:

„Das wesentliche Merkmal der Revolution des Terrors sollte eine Gruppe sein, dazu bestimmt Ausbrüche von Unruhen herbeizuführen, die den unterdrückten Arbeitern signalisieren sollten, dass etwas getan werden könne, um die Verteilung von Reichtum und Gütern zu ändern. […] Die Revolution würde aus Akten des Terrors und der Gewalt gegen Regierungen bestehen, einschließlich der Benutzung von Bomben gegen Personen mit Verantwortung, Anschläge auf die Überbleibsel der Macht, besonders die Polizei und die Gerichte, Freilassung von politischen Gefangenen und die Ausgabe von Nahrungsmitteln aus den Lagerhäusern der Reichen. Diese Akte würden das Volke dazu inspirieren, sich zu erheben und andere Akte der Missachtung zu begehen, wodurch die Machtverhältnisse, die die Regierungen aufrechterhalten hatten, beendet werden würden.“ (12)

Gleichzeitig versuchten zwei Gruppen unabhängig voneinander (obwohl es durchaus Kontakt zwischen beiden gab) Mitglieder der kaiserlichen Familie zu ermorden. Uchiyama Gudô, der die allgemein angenommene Göttlichkeit des tennô anzweifelte, war der Meinung, dass der Welt durch die Ermordung des Kaisers gezeigt werden müsse, dass „das Blut des Kaisers nicht anders war als das Blut, das in den Adern des durchschnittlichen Japaners floss.“ (13) Im Jahr 1910 plante er die Ermordung des Kronprinzen.

In Tôkyô plante derweil eine Gruppe, an der neben anderen die anarchistische Terroristin Kanno Sugako maßgeblich beteiligt war, auf Grundlage von Uchiyamas und Kôtokus Theorie die Ermordung des tennô selbst durch einen Bombenanschlag. Es ist nicht vollständig geklärt, inwieweit Kôtoku Shûsui an diesen Plänen beteiligt war. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass er von der Herstellung der Bomben wusste und auch indirekt daran beteiligt war, indem er Kontakte zwischen einzelnen involvierten Personen herstellte. Weiterhin hatte er sich in Gesprächen mit den TerroristInnen zumindest theoretisch positiv über die Notwendigkeit der Ermordung des Kaisers geäußert, dies jedoch wohl nur sehr vage. Aus den endgültigen vorbereitenden Treffen, auf denen genau Pläne geschmiedet, Aufgaben verteilt und das Werfen von Bomben geübt wurde, hielt er sich jedoch wahrscheinlich raus.

Nichtsdestotrotz war Kôtoku, vor allem wegen seiner Bedeutung für die radikale linke Bewegung, das Hauptziel der polizeilichen Untersuchungen und letztendlich der Anklage, als sowohl die Anschlagspläne von Uchiyama und der Gruppe in Tôkyô, wie auch die Rekrutier­ungs­versuche Kôtokus aufgedeckt wurden. Was dann kam, war eines der bedeutendsten wie auch umstrittensten Gerichtsverfahren in der japanischen Geschichte: Zum ersten und einzigen Mal wurden Personen wegen eines Verstoßes gegen Artikel 73 (Verletzung oder Tötung des Kaisers und eines nahen Angehörigen, bzw. Planung desselben) angeklagt. 26 AnarchistInnen wurden vor Gericht gestellt, 24 von ihnen verurteilt, zwölf davon (darunter auch Kôtoku, Kanno und Uchiyama) zum Tode durch Erhängen. Umstritten ist das Verfahren vor allem deshalb, weil die Staatsanwaltschaft nur fünf der Angeklagten die ihnen zur Last gelegten Taten tatsächlich stichfest nachweisen konnte. Somit ist es ganz offensichtlich, dass die Anklage vor allem dazu diente, die anarchistische Bewegung im Kern zu treffen. (14) Die Rechnung ging auf: 1911 begann die sogenannte „Winterzeit“ für radikale Linke, die Bewegung war zersplittert und wenn über­haupt nur marginal und im Untergrund tätig.

1918 wurde die Winterzeit gewissermaßen von unten, vom Volke selbst, gesprengt. Ausgehend von einem kleinen Fischerdorf in Toyama rollte eine Aufstandswelle über ganz Japan hinweg, die von Juli bis September 1918 andauerte. In 42 der 47 Präfekturen Japans gingen Schätzungen zufolge zwischen 700.000 und 10 Millionen Menschen unterschiedlichsten Alters, Einkommens und Bildungsstandes auf die Straße, um ihrem Unmut Luft zu machen. Der Hauptgrund für diese Aufstände waren die täglich steigenden Reispreise, die Reisspekulation und das Horten des Grundnahrungsmittels durch einige Händler, die versuchten aus der Inflation größtmöglichen Gewinn zu schlagen.

Man kann diese „Rice Riots“ jedoch genauer in vier Kategorien unterteilen: die in den Fischerdörfern (15), in den Städten (16), auf dem Land (17) und in den Kohleminen (18). Dieser Einteilung entsprechend gab es weitere thematische Schwerpunkt der Aufstände. In den Städten protestierte man unter anderem auch gegen die geringen Löhne der Arbeit­erInnen bei einem allgemeinen Wachstum der japanischen Wirtschaft und für mehr politisches Mitspracherecht, besonders auch für die ArbeiterInnen. Auf dem Land forderte man die Senkung der Abgaben der PachtbäuerInnen an die Grund­besitz­erInnen und mehr Rechte für die BäuerIn­nen gegenüber den GrundbesitzerInnen. Die Aufstände in den Kohleminen waren schwerpunktmäßig Arbeitskämpfe, wobei die MinenarbeiterInnen vor allem höhere Löhne und bessere (und vor allem sicherere!) Arbeitsbedingungen forderten. Gleichzeitig kämpften sie für das Recht, über diese beiden Punkte mit den Arbeit­geberInnen verhandeln zu dürfen, denn Gewerkschaften, ArbeiterInnen­be­weg­ungen, Arbeitskämpfe und -ver­hand­lungen waren seit 1900 durch das Polizeigesetz zur Wahrung des öffentlichen Friedens (chian keisatsu hô) verboten. Die Formen des Aufstands reichten von gewaltfreien Sitzblockaden und friedlichen Märschen über den Boykott der Verfrachtung von Reis für den Export und die Aneignung von Reis zu Preisen, die als gerecht erachtet wurden, bis hin zu zum Teil heftigen und blutigen Straßen- und Barrikadenkämpfe mit Polizei und Militär, bei denen 30 Aufständische getötet, unzählige verletzt und verhaftet wurden. Im Anschluss an die Rice Riots wurden landesweit 8185 Menschen wegen unterschiedlichster Vergehen vor Gericht gestellt. Doch die Aufstände wurden nicht durch staatliche Repression zerschlagen, sondern durch Preissenkungen für Reis und Hilfsmaßnahmen der Regierung.

Es ist nicht vollständig geklärt, ob und inwieweit radikale oder anarchistische AktivistInnen an den Aufständen beteiligt waren, doch die Wahrscheinlichkeit ist gering, da die Polizei schon im Voraus alle als radikal oder potentiell gefährlich eingeschätzten Personen in Gewahrsam nahm oder unter Hausarrest stellte. (19)

Kooperation und Bruch mit den KommunistInnen

Als 1917 in Russland die Revolution ausbrach, reagierte man in Japan enthusiastisch und freudig erregt. Sie wurde als „außerordentlicher Ansporn für Anarchisten in allen Ländern“ (20) und als effektive vereinigte Front von ReformistInnen und SozialistInnen aller Couleur betrachtet. Zu dieser Zeit noch machte u.a. der anarchistische Syndikalist Ôsugi Sakae keine Unterscheidung zwischen der anarchistischen Strategie und der der bolschewistischen KommunistInnen. Erst 1921, nachdem Ôsugi die Berichte von Emma Goldman und Alexander Berkman über die weiteren Vorgänge in Russland und auch in der Ukraine gegen die Machnowschtschina (eine anarchistische BäuerInnen- und Partisanenbewegung in der Ukraine, benannt nach dem ukrainischen Anarchisten Nestor Machno) verfolgt hatte, kam er zu der Einsicht, dass die anarchistische und die bolschewistische Ideologie nicht miteinander vereinbar sind. Die Publikation der anarchistischen und bolschewistischen Zeitung rôdô undô (Arbeiterbewegung, gegründet: Januar 1921) wurde im Juni 1921 eingestellt und die von Bolsche­wistInnen und AnarchistInnen gegründete „Union der Arbeitergewerkschaften“ (rôdô kumiai dômeikai) löste sich auf. Ein erneuter Versuch der Kooperation zwischen BolschewistInnen und Anar­chist­Innen in Form der „Landesweiten Föderation der Arbeitergewerkschaften“ (zenko­ku rôdô kumiai sôrengô) scheiterte schon auf der Grün­dungs­versammlung an der Frage der Organi­sationsform: Föderalismus oder Zentralismus. Damit war auch die kurze Periode der Kooperation zwischen Bol­sche­wistInnen und Anarchist­Innen in Japan endgültig vorbei. (21)

Krise zwischen „reinen“ AnarchistInnen und anarchistischen SyndikalistInnen

Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg war in Japan die Strömung des „reinen“ Anarchismus vorherrschend, deren AnhängerInnen sich dem Ziel verschrieben hatten, den Anarchismus von dem als „unrein“ betrachteten Syndikalismus zu befreien. Die „reinen“ Anar­chistInnen kritisierten am Syndikalismus vor allem drei Dinge: Erstens sei im Syndikalismus notwendig der Abfall zum Reformismus enthalten. Laut dem „reinen“ Anarchisten Hatta Shûzô sei dies in einer fehlenden einheitlichen Theorie des Syndikalismus begründet. Dass er Momente des „Marxismus“ (da Hatta selbst nie marxistische Texte gelesen hat, meinte er hiermit das, was in Russland unter dem Slogan „Marxismus“ realisiert wurde) und des Anarchismus miteinander vereine, zwei für Hatta gegensätzliche Theorien, sei die Schwäche des Syndikalismus und mache ihn anfällig für den Abfall in den Reformismus. (22) Zweitens setze er durch die Konzentration der Gewerkschaften auf einzelne Industriezweige die Arbeitsteilung und Austauschbeziehungen fort, die wirtschaftliche Ungleichheiten und somit Hierarchien reproduzieren würden. Drittens wäre die „künstlich geschaffene Orga­nisationstheorie“ der Syndikal­istInnen unnötig, da der Mensch sich ganz natürlich zu einer freien Assoziation von Gruppen mit einem gemeinsamen Ziel zusammenfinden würde, wie dies auch unter Tieren und als „primitiv“ angesehenen Menschen der Fall wäre. (23) Vor allem die Ablehnung von Austauschbeziehungen wurde von einigen „reinen“ Anar­chist­Innen soweit radikalisiert, dass die Autarkie der Kommunen über die „Luxus“-Bedürfnisse der Menschen gestellt wurden. Dies bedeutet u.a. auch, dass eine Kommune, die ein bestimmtes Gut (selbst wenn es sich um ein Gut wie künstliches Licht handelt) nicht produzieren kann, Alternativen dafür suchen oder ganz darauf verzichten müsse. (24)

Organisatorisch stellte sich diese Krise vor allem durch den Rückzug der anarchistischen SyndikalistInnen aus den beiden anarchistischen Bündnissen in den Jahren 1927/28 dar: dem Anfang 1926 mit ca. 700 Mitgliedern gegründeten „Bündnis der Schwarzen Jugend“ (kokushoku seinen renmei), kurz: kokuren, und der 1926 von 400 Delegierten aus 25 Gewerkschaften gegründeten „Landesweiten Libertären Föderation von Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengôkai), kurz: zenkoku jiren. Letztere hatte auf ihrem Höhepunkt eine vereinte Mitgliederzahl von 15.000.

Staatliche Repression und die Zerschlagung der anarchistischen Bewegung im Zweiten Weltkrieg

Dabei konnte der Zeitpunkt für Streitigkeiten innerhalb der anarchistischen Bewegung kaum ungünstiger gewählt worden sein. Mit dem Einfall der japanischen Armee in die Mandschurei 1931 begann nicht nur eine Zeit der Aggression nach außen, sondern auch eine steigende Repression gegen alle Dissidenten innerhalb des Landes.

Die anarchistische Bewegung versuchte mittels dreier Strategien, sich dieser Repression zum Trotz am Leben zu halten:

Im Jahr 1934 kam es zur Wiedervereinigung der zenkoku jiren mit der anarchistisch-syndikalistischen „Landesweiten Konferenz der Libertären Föderation der Arbeitergewerkschaften“ (zenkoku rôdô kumiai jiyû rengô kyôgikai) zu einer großen, dezentralen anarchistischen Organisation, die jedoch deutlich reformistische Züge aufwies. Nach der Machtergreifung der Nazis in Deutschland kooperierte man dann zunehmend auch wieder mit Bol­schewistInnen und Sozial­demo­kratInnen. Doch die Repression stieg auf ein Maß an, wo Versammlungen binnen Minuten aufgelöst wurden, was eine Arbeit der zenkoku jiren nahezu unmöglich machte. (25)

Zweitens gründete sich im Februar 1931 die deutlich anti-syndikalistische „Assoziation der Landjugend“ (nôson seinen sha), die sich v.a. auf ländliche Gegenden konzentrierte. Diese Gruppe radikalisierte das Prinzip der Dezentralisierung bis hin zu der Frage, ob überhaupt noch eine Art verbindende Organisation zwischen den einzelnen Grüppchen nötig sei. Im Februar 1932 löste sich die Gruppe auf, teils aus strategischen Gründen, zum Teil aber auch nachdem mehrere Mitglieder nach einer Reihe von Raubüberfallen in Tôkyô zur Beschaffung von finanziellen Mitteln für die Revolution verhaftet worden waren. Im Oktober 1934 wurden vor einem Militärmanöver, an dem der tennô teilnehmen sollte, vorsorglich noch weitere anarchistische AktivistInnen verhaftet, besonders auch ehemalige Mitglieder der nôson seinen sha. (26)

Am 30.1.1934 wurde, drittens, die streng geheim gehaltene „Anarchistisch Kommunistische Partei Japans“ (nihon museifu kyôsantô) gegründet, die nie mehr als ein Dutzend handverlesener Mitglieder hatte. Diese Gruppe sah die derzeitige Situation als so bedrohlich an, dass sie es für gerechtfertigt hielt, bolschewistische Methoden anzuwenden und absoluten Gehorsam von ihren Mitgliedern zu verlangen, der die Hinterfragung von getroffenen Entscheidungen verbat.

Die Existenz der Partei wurde jedoch 1935/36 aufgedeckt und etwa 400 als solche bekannten AnarchistInnen wurden verhaftet. 1936 wurden erneut 300 AnarchistInnen verhaftet und obwohl letztlich nur wenigen führenden Mitgliedern der Partei und der nôson seinen sha der Prozess gemacht wurde, saßen viele der Verhafteten für mehrere Monate in Untersuchungshaft. Gemeinsam mit den Medien wurde im ganzen Land eine anti-anarchistische Hysterie geschürt, die die Verbreitung von anarchistischen Gedanken unmöglich machte. 1936 löste sich auch die zenkoku jiren auf und die AnarchistInnen hatten kaum eine andere Möglichkeit, als sich ins Private zurückzuziehen und die Kriegsjahre abzuwarten. (27)

Ausblick: Anarchismus in Japan nach 1945

Nach dem Ende des Zweitens Weltkrieges musste die anarchistische Bewegung in Japan von Grund auf wiederaufgebaut werden. Dabei galt es, sowohl innere, als auch äußere Hindernisse zu überwinden. Vor allem der Konflikt zwischen anarchistischen SyndikalistInnen und „reinen“ AnarchistInnen war noch immer nicht überwunden. Im Jahr 1951 spaltete sich die 1946 gegründete „Japanische Anarchistische Föderation“ (nihon anakisuto renmei) aufgrund eben dieses Konflikts in den „Japanischen Anarchistischen Verein“ (nihon anakisuto kurabu) der „reinen“ AnarchistInnen, der bis 1980 existierte, und die neugegründete „Japanische Anarchistische Föderation“ der anarchistischen SyndikalistInnen, die 1968 aufgelöst und 1988 wiederbelebt wurde. Daneben gab es noch andere anarchistische Organisationen, keine von ihnen erreichte jedoch die Mitgliederstärke der Zeit vor dem Krieg.

Staatlich wurden Gewerkschaften und politische Linke zwar zuerst im Kampf gegen die politischen Rechten gefördert, doch spätestens mit Beginn des Kalten Krieges schlug diese Taktik ins Gegenteil um. Repräsentativ dafür ist die sogenannte „Red Purge“: Die Entfernung von politischen Linken aus öffentlichen Ämtern aufgrund einer politischen Strategie, die ursprünglich die ursprünglich gegen die Rechten gerichtet war, gegen 1950 jedoch ins Gegenteil gekehrt wurde. Gleichzeitig sorgten der langanhaltende wirtschaftliche Aufschwung Japans und ein bewusst propagiertes Konsum- und Mittel­stands­denkens für eine Ent­poli­tisierung eines Großteils der Bevölkerung. (28)

Dies bedeutet natürlich keineswegs, dass es keine anarchistischen Aktivitäten oder Organisationen gab oder gibt. Außerdem bietet die zunehmende Prekarisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse neuen Zündstoff für politische Ideen. Und besonders nach der Erdbeben- und Atomkatastrophe im März 2011 erlebt Japan einen Aufschwung der Protestkultur, der auch für politische Meinungsbildung nicht irrelevant sein dürfte.

Die weitere Entwicklung der anarchistischen und emanzipatorischen Bewegungen in Japan ist natürlich keineswegs isoliert, vielmehr betrifft sie alle, die sich für eine tiefgreifende Veränderung auf der gesamten Welt einsetzen.

kyon

Fußnoten:
(1) Vgl. Notehelfer, Fred G. (2010): Kôtoku Shûsui. Portrait of a Japanese Radical. Cambridge (Mass.); New York, Melbourne; Madrid; Cape Town; Singapore; São Paulo; Delhi; Dubai, Tokyo: Cambridge University Press, S.134
(2) Vgl. Stanley, Thomas A. (1982): Ôsugi Sakae. Anarchist in Taishô Japan. The Creativity of the Ego. Cambridge (Mass.); London: Harvard University Press, S.118
(3) Vgl. Crump, John (1993): Hatta Shûzô and Pure Anarchism in Interwar Japan. New York: St. Martin’s Press, S.63
(4) Vgl. Plotkin, Ira L. (1990): Anarchism In Japan. A Study of the Great Treason Affair. Lewiston; Queenston; Lampeter: The Edwin Mellen Press, S.29
(5) Nach: Notehelfer (2010), S.113. Alle Übersetzungen sind Übersetzungen der Autorin.
(6) Nach: Crump (1993), S.49
(7) Ôsugi Sakae, Jijôden: www.aozora.gr.jp/cards/000169/files/1273.html
(8) Vgl. Notehelfer (2010), S.134f
(9) Vgl. ebd. S.136f
(10) Vgl. ebd. S.65f, Crump (1993), S.141
(11) Notehelfer (2010), S.141
(12) Plotkin (1990), S.29
(13) Ebd. S.31
(14) Eine detaillierte Analyse des Falles (der auch alle hier verwendeten Informationen entnommen sind) liefert Ira L. Plotkin, Anarchism In Japan. A Study of the Great Treason Affair. Lewiston; Queenston; Lampeter: The Edwin Mellen Press, 1990.
(15) Vgl. Lewis, Michael (1990): Rioters and Citizens. Mass Protest in Imperial Japan. Berkeley; Los Angeles; Oxford: University of California Press, S.34-81
(16) Vgl. ebd. S.82-134
(17) Vgl. ebd. S.135-191
(18) Vgl. ebd. S.192-241
(19) Vgl. Lewis (1990); libcom.org/library/osugi-sakae-biography, libcom.org/library/1918-rice-riots-strikes-japan
(20) Ôsugi Sakae, Nihondasshutsuki: www.aozora.gr.jp/cards/000169/files/2582_20705.html
(21) Vgl. Crump (1993), S.39-42
(22) Vgl. Crump (1993), S.63
(23) Vgl. Crump (1993), S.101-103
(24) Vgl. ebd. S.143
(25) Vgl. ebd. S.159-171
(26) Vgl. ebd. S.172-180
(27) Vgl. ebd. S.181-185
(28) Vgl. www.spunk.org/texts/places/japan/sp001883/japchap3.html

Originaltext: http://www.feierabendle.net/index.php?id=980