Ulrich Linse - „Propaganda der Tat“ und „Direkte Aktion“. Zwei Formen anarchistischer Gewaltanwendung

Es würde allen Ergebnissen der modernen Anarchismus-Forschung widersprechen, wollte man die folgenden Ausführungen als Rechtfertigung einer pauschalen Gleichsetzung von Anarchismus und Terrorismus mißverstehen. Zweifellos war auch der Anarchismus des 19. und 20. Jahrhunderts zutiefst von jener aktivistischen Maxime beherrscht, daß es die Welt nicht nur zu erklären, sondern auch zu verändern gelte. Aber die anarchistischen Mittel zur Transformation der Gesellschaft waren vielfältig und reichten von der Bombe bis zur Praxis der „freien Liebe“, vom Generalstreik bis zur ländlichen Ansiedlung. Psychopathen gehörten ebenso zu den Anhängern dieser Lehre wie politische Philosophen. Die meisten Anarchisten starben jedenfalls weder auf den Barrikaden noch auf dem Schaffott. Sicherlich gab es unter ihnen kriminelle Gewalttäter. Aber es ist ebenso legitim, sich den Anarchisten als einen Kulturrevolutionär vorzustellen, der mit der Waffe des Wortes und der Schrift – also durch „Aufklärung“ – kämpft. Dieser Aspekt des Anarchismus als einer „Kulturbewegung“ (Rudolf Rocker) harrt allerdings erst noch der Untersuchung. Diese wird auch die antiautoritäre (gewaltfreie!) Pädagogik, den libertären Pazifismus und den militanten anarchistischen Antimilitarismus zu würdigen wissen.

I

Das Verständnis der „Propaganda der Tat“ war zur Zeit der Entstehung des Konzepts Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts [1] verschieden vom späteren Wortgebrauch. Denn unter „Propaganda der Tat“ verstanden die damaligen Führer des italienischen Anarchismus, Errico Malatesta, Carlo Cafiero und Emilio Covelli, die diese Strategie in persönlichen Gesprächen von Juli bis Oktober 1876 in Neapel entwickelten und dann in die anarchistische Internationale einfließen ließen, die Insurrektion, nicht das politische Attentat. Am 3. Dezember 1876 schrieb Malatesta im Bulletin der Jura-Föderation der Internationale: „Die Italienische Föderation  [der Internationale] glaubt, daß die insurrektionelle Tat, bestimmt sozialistische Prinzipien durch Taten zu bekräftigen, das wirksamste Propaganda-Mittel ist und das einzige, das, ohne die Massen zu täuschen und zu korrumpieren, zu den tiefsten sozialen Schichtendurchdringen und die lebendigen Kräfte der Menschheit in den Kampf hineinziehen kann, den die Internationale führt“. [2] Mit dieser Erkenntnis faßte Malatesta die Erfahrungen der italienischen Föderation zusammen, die – vor dem Hintergrund agrarischen Sozialprotests – ganz unter dem Einfluß Bakunins im Jahre 1874 regionale Erhebungen der Landbevölkerung der Romagna, Apuliens und Siziliens geplant und ansatzweise ins Werk gesetzt hatte, welche das Fanal für eine italienische Revolution sein sollten.

In diesem sozialen und ideellen Kontext muß aber auch noch der berühmte, von Cafiero am 25. Dezember 1880 in Peter Kropotkins Organ Le Révolté veröffentlichte Artikel „L’action“ verstanden werden, der fälschlicherweise oft als Beweis für Kropotkins Bejahung des Dynamit-Terrorismus herangezogen wird: „Unsere Aktion muß die permanente Revolte sein, mündlich, schriftlich, mit der Faust, mit dem Gewehr, mit Sprengkörpern ... Wir sind konsequent, und wir bedienen uns jeder Waffe, wenn es darum geht, in Aufständen zuzuschlagen. Alle Mittel, die nichts mit der Legalität zu tun haben, sind uns recht“. Und an anderer Stelle heißt es dort: „Wir beginnen wir mit der Aktion?“ Und die Antwort lautet: „Sucht nur nach einer Gelegenheit, und sie wird sich euch bald bieten. Überall, wo es nach Aufruhr und Pulver riecht, müssen wir mit dabei sein.“ [3]

Aktion war also gleichbedeutend mit bewaffnetem Aufstand, mit konspirativer Insurrektion als Wegbereiter der Revolution.

Dieser bakunistische Inhalt des Begriffes und der südländisch-agrarische Erfahrungshintergrund dominierten auch auf dem Londoner Kongreß von 1881 der anarchistischen Internationale. Dort wurde die überragende Bedeutung der „Propaganda der Tat“ gegenüber bloß rednerischer oder schriftstellerischer Werbung herausgestellt, dieser Gedanke aber mit der erläuternden Erklärung verknüpft: „In Anbetracht der Tatsache, daß die Landarbeiter immer noch außerhalb der revolutionären Bewegung stehen, ist es absolut notwendig, jede Anstrengung zu unternehmen, sie für unsere Sache zu gewinnen, und zu beachten, daß eine gegen die bestehenden Institutionen gerichtete Tat die Massen weit mehr anspricht als Tausende von Flugblättern oder ein Strom von Worten, und daß die „Propaganda der Tat“ auf dem flachen Land von größerer Bedeutung ist als in den Städten.“ [4]. Neben diesem total bakunistischen Gedanken wird dann allerdings in einem weiteren Abschnitt der große Dienst erwähnt, welche die technische und chemische Wissenschaft der revolutionären Sache in Zukunft leisten könnte, und ferner angeregt, daß sich deswegen die Mitglieder der Internationale auch dem Studium dieser Wissenschaften widmen sollten. Es war jedoch nicht die persönliche Schuld Kropotkins, daß seit dem von ihm beherrschten Londoner Kongreß der Anarchismus auf den Holzweg des Attentatismus geriet. Es müssen vielmehr strukturelle Umstände gesucht werden, welche erklären, daß nicht der in London noch dominierende Gedanke der bewaffneten Insurrektion nach dem Vorbild der italienischen Bakunisten, sondern der individuelle Terrorismus gegen Vertreter der Staatsgewalt und der „herrschenden Klasse“ für das nächste Jahrhundert das öffentliche Erscheinungsbild des Anarchismus und den Inhalt des Begriffes „Propaganda der Tat“ bestimmten. Dabei war merkwürdigerweise der auslösende Faktor für die Übernahme des Dynamit-Aktionismus durch den Londoner Kongreß nicht die Berufung auf die anarchistische Tradition, sondern der gewaltige Eindruck gewesen, den das erfolgreiche Attentat der nihilistischen Bewegung Rußlands auf den Zaren Alexander II. in Europa hinterlassen hatte. Bald gehörte dieser Attentatismus zu den revolutionären Hoffnungen der Anarchisten. Die übernationale Verbreitung dieser Form der „Propaganda der Tat“ macht jedenfalls deutlich, daß die strukturellen Ursachen dafür zunächst nicht in nationalen Besonderheiten (noch weniger in individuellen Biographien!), sondern in übergreifenden Zusammenhängen zu suchen sind.

Bakunin – Vertreter eines mystisch-apokalyptischen Revolutionarismus, Geheimbündler und Berufsrevolutionär – starb 1876, ohne daß sich sein Lebensziel – die soziale Revolution in Europa – erfüllt hatte. In seiner letzten, der Tessiner Lebensperiode (von 1869 bis 1876) [5], welche bekanntlich mit einem Rückzug aus den Propadandazentren der Exilrussen – Zürich und Genf – verbunden war, wechselten bei ihm Resignation und das Aufflackern revolutionärer Hoffnungen. 1869 hatte Bakunin Genf verlassen; als Gründe wurden die Suche nach einem ruhigeren und billigeren Wohnort ohne Polizeischikanen und die Schwangerschaft seiner Frau genannt. 1870 kehrte er vorübergehend nicht nur nach Genf zurück, er erhoffte auch von der französischen Niederlage gegen Preußen-Deutschland die sozialistische Revolution in Frankreich, ja in Europa. So reiste der 56jährige nach Lyon, um die dort nach der französischen Niederlage von Sedan ausgerufene Kommune zu lenken und „vielleicht sein letztes Spiel zu spielen“. Doch die bewaffnete anarchistische Insurrektion scheiterte in Lyon, und Bakunin mußte fliehen. Die Pläne seines „Komitees für die Errettung Frankreichs“ waren damit erledigt“ und er sah eine reaktionäre preußisch-russische Hegemonie in Europa als wohl langfristigen Rückschlag für jede revolutionäre Bewegung voraus. Doch als 1873 in Spanien eine Revolution bevorzustehen schien, beschloß er auf Drängen seiner Freunde, dorthin zu reisen. Aber die 1873 in Spanien ausgerufene Republik brach ebenso zusammen wie die ersten Ansätze eines insurrektionellen andalusischen Bauern-Anarchismus in diesem Jahr, und Bakunin hatte nicht einmal das Fahrgeld, um sich diesen fehlgeschlagenen Unternehmungen anzuschließen. Als Altersruhesitz für ihn und als revolutionäre Zentrale erwarben Freunde im gleichen Jahr die Villa Baronata bei Minusio-Locarno über dem Lago Maggiore. Bakunin erklärte öffentlich, sich künftig der aktiven revolutionären Politik zu enthalten. Aber als es zu ernsthaften Mißstimmungen wegen der vom Umbau der Baronata verschlungenen Summen kam und Bakunins finanzielle Lage katastrophal erschien, gleichzeitig aber die geplanten italienischen Insurrektionen des Jahres 1874 noch einmal die Hoffnung auf eine allgemeine Revolution in ihm wachriefen, beschloß er, nach Bologna – dem vorgesehenen Zentrum des Aufstandes – zu reisen und dort entweder zu siegen oder zu sterben. Doch ebenso wie in Süditalien scheiterte auch der Aufstand in Bologna. Bakunin hielt die entscheidenden Stunden der Nacht vom 7. auf 8. August 1874 im Tagebuch fest: „Enttäuschung; eine schreckliche Nacht; Revolver, zwei Zoll vom Tod entfernt“ [6]. Doch der für 4 Uhr in der Frühe vorgesehene Selbstmord unterblieb, da Freunde ihm die Sache ausredeten. Der nun heimatlose Bakunin heckte noch während der Flucht aus Italien einen Plan für einen bewaffneten Aufstand in Florenz aus, der jedoch ebensowenig erfolgreich endete. Dies war Bakunins letzte revolutionäre Tätigkeit. Für den Rest seines Lebens war er dann damit beschäftigt, seine privaten Verhältnisse zu ordnen und seiner Familie ein Dach über dem Kopf zu schaffen. Im Oktober 1874 kam er in Lugano unter, ein physisch und psychisch gebrochener Mann, der sich allein noch mit Gemüse- und Obstanbau beschäftigte. Der revolutionäre Traum von 1848, den Bakunin bis 1874 wachgehalten hatte, war nicht nur für ihn, sondern für die gesamte anarchistische Bewegung ausgeträumt.

Zwar brachten auf dem Berner Kongreß der anarchistischen Internationale im Oktober 1876 die Italiener Cafiero und Malatesta den Gedanken der insurrektionellen „Propaganda der Tat“ zum erstenmal in die Internationale ein. Aber schon der bescheidene Versuch – unter Verzicht auf die große Perspektive der italienischen Aufstände von 1874 als Fanale einer allgemeinen Erhebung -, wenigstens durch die Insurrektion von Benevent vom April 1877 bei der italienischen Landbevölkerung sozialistische Propaganda zu machen, scheiterte kläglich. „Mit einer Verschwörung kann ...  [keine] soziale Revolution bewirkt werden“ [7], war damals Andrea Costas Fazit. Es galt, neue Wege der Massenbeeinflussung zu finden.

Die Lebensdauer der anarchistischen Internationale war nur von kurzer Dauer: Entstanden war sie aus der Ersten Internationale, einem ideologisch heterogenen Gebilde, in dem sich zunächst Marxismus und Proudhonismus, dann Marxismus und Bakunismus rivalisierend gegenüberstanden. Als Präludium ihres Zerfalls spaltete sich ihre romanische Föderation auf dem Kongreß in Chaux-de-Fonds im April 1870 und die gesamte Internationale auf dem Haager Kongreß vom September 1872. Formell ging es dabei um die Frage der „Diktatur“ des Generalrats, welche von den Nichtmarxisten als Einführung des Prinzips der Autorität in die Internationale bekämpft wurde. In Wirklichkeit spiegelte der Ausschluß von Bakunin und James Guillaume im Haag nur die Tatsache wider, daß die Internationale bereits seit 1869 dadurch in Zersetzung begriffen war, daß sich ihre Föderationen in der romanischen Schweiz, in Spanien und Italien für den Anarchismus von Bakunin entschieden hatten und die belgische und holländische Föderation sich diesem ebenfalls zuneigten. Auf dem von der Opposition dann noch im September 1872 nach Saint-Imier einberufenen Gegenkongreß wurden die Beschlüsse des Haager Kongresses verworfen, die Anerkennung des dort gewählten Generalrates verweigert; der Kongreß erklärte sich außerdem als die legitime Vertretung der Internationale. Diese Saint-Imier-Internationale war die Schöpfung von Anarchisten aus dem Schweizer Jura, aus Spanien und Italien; ihr gehörten aber auch noch nicht-anarchistische Föderationen an. Aus diesem Grunde wird sie auch oft als antiautoritäre Internationale bezeichnet – im Unterschied zu der rein anarchistischen Internationale, welche als Torso nach der Spaltung der antiautoritären Internationale auf dem Genter Sozialistischen Weltkongreß im September 1877 übrigblieb. Seit dem Jahre 1877 desintegrierte die anarchistische Internationale schnell; auch die Wiederbelebungsversuche auf dem schon erwähnten Londoner Kongreß von 1881 erwiesen sich als vergeblich. Während zwischen 1872 und 1877 die Bakunisten in Europa eine weit größere Gefolgschaft zu verzeichnen hatten als die Marxisten, änderte sich mit dem Zusammenbruch der anarchistischen Internationale dieses Verhältnis. Der politische Mord trat also in einer Phase auf, als der Anarchismus jede Hoffnung aufgeben mußte, Einfluß auf die Mehrheit der Land- und Industriearbeiter in Europa zu nehmen.

Das hier Gesagte gilt aber nicht nur für die Internationale, sondern in gleicher Weise lösten sich auch die einzelnen anarchistischen Landes-Föderationen der anarchistischen Internationale auf. Ebenso wie auf internationaler Ebene lag die Ursache in einer Mischung von eigener Organisationsfeindlichkeit und den Auswirkungen staatlicher Verfolgung nach der Liquidierung der Pariser Kommune. So läßt sich in Spanien, Italien und Frankreich der Mangel von Landesföderationen bis zum Ersten Weltkrieg zeigen und der Rückzug auf lokalere oder regionalere Formen der Organisation. Aus gesetzlichen Gründen hatte es zunächst für Deutschland keine Föderation der Internationale gegeben, sondern nur die Einzelmitgliedschaft von Personen. Die ab der Jahrhundertwende dann in Deutschland aufgebaute „Anarchistische Föderation“ mit ihren Regional- und Bezirksföderationen profitierte dagegen vom sozialdemokratischen Organisationsfetischismus ihrer Mitglieder, ohne je über den Status einer politischen Sekte hinauszukommen.

Max Nettlau [8] und nach ihm George Woodcock [9] haben ferner auf die interessante Tatsache hingewiesen, daß das Ende des Bakunismus und der Aufstieg Kropotkins nicht nur eine ideologische Wende des Anarchismus darstellte — nämlich den Übergang vom Mutualismus Proudhons und dem Kollektivismus Bakunins, welche beide die Leistungen der Zukunftsgesellschaft für den einzelnen nach der von ihm investierten Arbeitszeit messen wollten, zum anarchistischen Kommunismus Kropotkins, für welchen das Prinzip „Jedem nach Maßgabe seines Bedürfnisses“ gelten sollte. Diese Neuorientierung sei vielmehr einhergegangen mit einer unterschiedlichen Einstellung zur Organisation: Die Kollektivisten hätten, ganz in der Tradition der Ersten Internationale, an Organisationen der Arbeiter-Massen gedacht, welche zwar von einer (oft geheimbündlerisch organisierten) Elite überzeugter Anarchisten geführt würden, ohne daß man die gleiche Überzeugungsstärke auch von den Massen der Mitglieder verlangte. Die anarchistischen Kommunisten dagegen seien in Italien, Frankreich und Spanien von dem Gedanken ausgegangen, daß es nötig sei, sich in Gruppen zu organisieren, welche ausschließlich aus überzeugten anarchistischen Propagandisten des Wortes und der Tat bestünden. Diese Abschließung von den Massen hing wohl ebenso mit der Abwendung der inzwischen sozialreformerisch eingestellten Massen vom Anarchismus wie mit der Notwendigkeit einer stärkeren Abschließung gegenüber der Gefahr einer Sprengung der Gruppen durch polizeiliche Spitzel und Agents provocateurs zusammen. So wurde die bisher formelle Organisation durch freie Gruppenbildungen ersetzt.

Im Gefolge der hier konstatierten anti-organisatorischen Wende des Anarchismus nach den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts ergab sich die Tatsache, daß Aktionen nicht mehr von den Repräsentanten größerer Organisationen beraten und beschlossen wurden, sondern — wie die anarchistischen Attentate zeigen – das Werk fanatisierter Einzelner oder verschworener Kleingruppen waren. Mit dem Zerfall der bisherigen Organisationen entfiel auch deren kontrollierender Einfluß auf die Mitglieder.

Ein wesentlicher Auslöser für die Welle der Attentate war nach der Niederschlagung der Pariser Kommune die harte Reaktion der europäischen Mächte auf den Insurrektionismus der bakunistischen Internationale. Dies läßt sich ebenso an nationalen Abwehrmaßnahmen zeigen wie am internationalen Vorgehen: Bereits 1871 kam es durch Initiative Bismarcks zu einer Konferenz der europäischen Regierungen zur Beratung gemeinsamer Maßnahmen und dem Abschluß einer europäischen Allianz gegen die Internationale. Nach Englands Ablehnung folgten 1872 gesonderte deutsch-österreichische Verhandlungen, welchen strafrechtliche und sozialpolitische Maßnahmen zur Bekämpfung der Internationale erörtert wurden. Diese Politik setzte sich dann in bilateralen Abkommen einzelner europäischer Staaten gegen den Anarchismus in den 80er und 90er Jahren ebenso fort wie in den internationalen Abmachungen, deren Realisierung indes lange Zeit am Widerstand der Exilländer England und der Schweiz scheiterte (auch die diesbezügliche Rechtspflege der Vereinigten Staaten wurde von deutscher Seite hart getadelt [10]) ehe die Römische Konferenz von 1898 (gegen die Vorbehalte der Vertreter Frankreichs, Portugals, Schwedens, Norwegens und der Schweiz – England war gar nicht erst zur Konferenz erschienen) auf Druck Deutschlands, Rußlands, Österreichs und der Türkei endlich ihre Vorschläge, unter anderem die Todesstrafe für Attentäter auf Staatsoberhäupter, durchsetzte. Im Petersburger Geheimprotokoll von 1904 zur Bekämpfung des Anarchismus (von der Schweiz nicht unterzeichnet) wurden dann die schon in Rom debattierten administrativen Maßnahmen gegen Anarchisten präzisiert. Dies geschah freilich zu einer Zeit, als die Terrorwelle der 1880er und frühen 1890er Jahre schon wieder abgeklungen war. Offenbar wollte die Berliner Regierung nicht mehr auf die Anarchistenbekämpfung als ein außenpolitisches Instrument verzichten.

Nachdem einmal die staatliche Verfolgung der bakunistischen Insurrektion der 1870er Jahre die politischen Attentate der Folgezeit ausgelöst hatte, mußte sich der Teufelskreis von Attentat-polizeilicher Repression-Attentat immer weiter drehen, bis die anarchistische Bewegung durch diese „Propaganda der Tat“ an den Rand der Selbstzerstörung geraten war. Jeder folgende Attentäter rächte gleichzeitig seine exekutierten Vorgänger. „Terrorismus steckt an,“ sagt deshalb James Joll [11]. Der politische Mord entwickelte sich zur Vendetta.

Das Scheitern des bakunistischen Insurrektionismus am Widerstand des Nationalstaates und der unheiligen Allianz der antidemokratischen Monarchien verwies die Anarchisten in einen sektiererischen Minderheitsstatus; die Mehrheit der Sozialisten wandte sich dem legalistischen Weg sozialer Reformen durch Parlamentsarbeit zu. Der Anarchismus oder Anti-Autoritarismus war nicht mehr die dominierende Kraft des Sozialismus, nicht einmal in den südwest-europäischen Ländern. Wie Nettlau vermutet, war bereits die erste Definition der „Propaganda der Tat“ durch Malatesta 1876 eine Abwehrformel gegen den Parlamentarismus gewesen. Denn – wie oben bereits angeführt – wurde von ihm die „Propaganda der Tat“ als einziges Mittel angesehen, das die Massen nicht „täusche“ oder „korrumpiere“; dies war offenbar die Erwiderung auf einen Vorschlag einer Teilnahme an Wahlen zu Propagandazwecken, wie ihn Anarchisten aus Bari auf dem italienischen Anarchistenkongreß von Florenz im Oktober 1876 geäußert hatten [12]. Italien lieferte auch den Musterfall für die Sogkraft des Parlamentarismus selbst in Anarchistenkreisen: Andrea Costa war zunächst einer der leidenschaftlichen Anhänger der insurrektionellen Politik und der prominenteste italienische Anarchist neben Malatesta und Cafiero. Schon 1877 aber hatte er versucht, letztere vom Plan der Beneventer Erhebung abzubringen, da die soziale Revolution nicht durch Verschwörungen, sondern allein durch die Organisation der Massen möglich sei. Offenbar war Costas lebhafter Aktionismus in den Jahren 1871 bis 1878 durch den Glauben an einen schnellen Erfolg der revolutionären Bewegung beflügelt gewesen; als diese Hoffnung zerbrach, verkündete er 1879 noch aus dem Gefängnis seine Absage an den Anarchismus und sein Ja zur politischen Aktion und zum parlamentarischen Sozialismus. 1882 wurde er in die italienische Abgeordnetenkammer gewählt, und in den folgenden Jahren war er eine der führenden Persönlichkeiten in der italienischen Sozialistischen Partei. Kein Wunder, daß in einem italienischen Zirkular von 1883 [13] der Kampf der Anarchisten gefordert wurde gegen „die reformistischen und parlamentarischen Illusionen, welche die größte Gefahr darstellen, die heute den Sozialismus bedroht“. Eine ähnliche Entwicklung wie Costa nahmen auch Jules Guesde und Paul Brousse, die später zu Führern des französischen Sozialismus wurden.

Die Gründung derartiger nationaler sozialistischer Parteien ging zurück auf eine Empfehlung der Ersten Internationale von 1871 an die Arbeiter der industriell entwickelten Länder. In Deutschland in den 60er, im übrigen Europa in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts kam es zu erfolgreichen sozialistischen Parteibildungen. Es wurde für die damalige Generation der Arbeiter zur wesentlichen Erfahrung, daß sich ihre wirtschaftliche Lage langsam besserte, und zwar dank der sozialpolitischen Korrekturen des Staates, wobei dieser Staatsinterventionismus wiederum nicht ohne die drängende reformerische Tätigkeit der Arbeiterparteien und der mit ihnen verbundenen Gewerkschaften möglich war.

Der politische Terrorismus war so ein verzweifelter Versuch der anarchistischen Bewegung, aus der Isolierung – in welche sie durch den parlamentarischen Sozialismus geraten war – auszubrechen. Gleichzeitig aber bekräftigte der Terror die Ghetto-Position, in welche die erfolgreiche politische Kooperation von Staat und Arbeiterschaft die anarchistische Bewegung getrieben hatte. Der Anti-Etatismus der Anarchisten war ohnmächtig gegenüber der sich in der Arbeiterschaft durchsetzenden Erkenntnis, daß nur die Einflußnahme auf den Staat – mit dem Maximalziel seiner Inbesitznahme – die durch die Industrialisierung herbeigeführte und den Liberalismus verschärfte soziale Frage lösen könne. Demgegenüber erschien die anarchistische Staatsverneinung als eine Sackgasse. So wurde der politische Mord zur Ersatz-Revolution der Anarchisten und zum Protestsignal gegenüber dem Parlamentarismus.

Die insurrektionelle Phase des Anarchismus deckt sich soziologisch mit dem Agraranarchismus und kann so ganz als ideologische Überhöhung der von Eric Hobsbawm geschilderten Tradition des sozialen Rebellentums und Banditentums verstanden werden, die durch die ausbleibende Entfeudalisierung der Agrarverfassung aktualisiert wurde. Die „Propaganda der Tat“ in Gestalt des von Handwerker-Anarchisten vollzogenen politischen Mordes setzte dagegen genau zu dem Zeitpunkt ein, als die im Handwerkeranarchismus artikulierte soziale Krise der Übergangsphase von der vorkapitalistischen zur kapitalistischen Wirtschaftsweise durch die Etablierung des organisierten Kapitalismus einen gewissen Abschluß erreicht hatte und das Ende des traditionellen Handwerkertums durch den Druck neuer industrieller Produktionsverfahren absehbar war. Der agraranarchistische Insurrektionismus und handwerkeranarchistische Individualterrorismus wären damit auch Formen gewaltsamen sozialen Protestverhaltens.

Die „Propaganda der Tat“ liegt historisch an der Nahtstelle von älterem Anarchismus – Peter Lösche [14] versteht darunter den Agrar- und Handwerker-Anarchismus – und neuem Anarchismus; gemeint ist damit der organisierte Syndikalismus der großbetrieblichen Arbeiterschaft in Industrie und Bergwerken. Die „Propaganda der Tat“ markiert so eine entscheidende soziologische Zäsur in der Geschichte des Anarchismus.

Genau an diesem Scharnier der Bewegung bildete sich Ende der 80er Jahre bis um 1900 der europäische Intelligenz- und Künstler-Anarchismus; vielleicht – wie Eric Hobsbawm vorschlägt -, weil damals auch der Künstler ein niedergehender Handwerker war. Dieser Bohème-Anarchismus feierte die heroischen Opfergänge, wie er es sah, der Attentäter, da diese ebenso wie die Intelligenz und Künstler selbst (diese nicht zuletzt unter dem Einfluß der Philosophie Max Stirners und Nietzsches) einem a-sozialen Ich-Kult zu frönen schienen. So witterte der Bohème-Rebell gegen den Mucker-Staat und das satte Bürgertum im einsamen Attentäter einen Gesinnungsgenossen. Die politische Rebellion schien mit der ästhetischen zusammenzufallen. Die jugendbewegte Empörung der Bürgersöhne des bohemischen Anarchismus mündete so in einen messianischen Übermenschenkult, in eine Glorifizierung des Verbrechers und in der Faszination durch Konspirateure und Terroristen: „Die Subjektivierung eines Absoluten in der Aggressivität der Terroristen imponierte als extremer Gegensatz zum Juste-Milieu“ [15]. Freilich blieb es meistens dabei, daß die Bohèmiens Attentate besangen, aber davon Abstand nahmen, selbst welche durchzuführen.

Es muß allerdings auch bedacht werden, daß es neben der literarischen Verherrlichung anarchistischer Raubmörder und Bombenleger [16] in der anarchistischen Intelligenz-Szene auch Gegner dieser Tendenz gab. Während etwa in Deutschland Erich Mühsam den Terror bejubelte [17], distanzierte sich sein väterlicher Freund Gustav Landauer von dieser Form der „Propaganda der Tat“. Diese könne vielmehr nur in einer geistigen Erneuerung des Menschen als Voraussetzung der gesellschaftlichen Regeneration bestehen: „Das ist die Propaganda der Tat, wie ich sie verstehe; alles andere ist Leidenschaft oder Verzweiflung oder toller Unverstand. Nicht darum handelt es sich, Menschen zu töten, sondern es handelt sich im Gegenteil um die Wiedergeburt des Menschengeistes ...“ [18]

Die „Propaganda der Tat“ zeigte das Ende des älteren Anarchismus an, der in der Stunde seines Verlöschens noch vom neuen Bohème-Anarchismus gerade seiner destruktiven Gewalttätigkeit wegen begrüßt wurde. Dabei richtete der Terrorismus vollends die alte anarchistische Bewegung zugrunde, da er sie der rücksichtslosen staatlichen Verfolgung aussetzte und der Mehrheit der Arbeiterschaft entfremdete. In dieser Situation entschwand das revolutionäre Ziel des alten Anarchismus in das Nirgendwo der Utopie. Nachdem sich die revolutionäre Abschaffung des Staates als unmöglich erwiesen hatte, blies man zum Rückzug aus Gesellschaft und Politik. An die Stelle der revolutionären Umgestaltung der politischen und sozioökonomischen Wirklichkeit traten als Resignationsphänomene kultur- und bewußtseinsrevolutionäre Zielsetzungen, welche über rurale Siedlungen oder antiautoritäre Schulen Ansätze zur Schaffung einer Alternativbewegung in einem subkulturellen Milieu boten. In Deutschland wurde hingegen vor dem Weltkrieg von dem anarchistischen Führer Rudolf Lange zu Recht gesehen, daß nur die Beteiligung am Parlamentarismus den Anarchismus wieder in Kontakt mit den Massen bringen könnte; doch dieser Anarcho-Sozialdemokratismus fand keine Gefolgschaft [19]. So gab allein der neue syndikalistische Anarchismus der libertären Idee noch einmal – in gewandelter Gestalt – die Chance für eine Massenbasis in der Arbeiterschaft.

In den 80er und beginnenden 90er Jahren des letzten Jahrhunderts war der politische Mord ein wesentliches Merkmal des Anarchismus. Gewisse unterschiedliche nationale Ausprägungen sind dabei schon bei der zeitlichen Feingliederung ins Auge springend: In Frankreich etwa lag der Schwerpunkt der anarchistischen Attentate in den Jahren 1892 bis 1894, obwohl die terroristische Propaganda der Anarchisten bereits 1880 eingesetzt hatte [20]; in Deutschland und Österreich dagegen bereits in der ersten Hälfte der 80er Jahre [21] und in einem von den Sicherheitsbehörden rasch erstickten erneuerlichen Aufflammen von Attentatsplänen im Jahre 1893 [22].

Bei einer Faktorenanalyse des deutschsprachigen Terrorismus muß ferner bedacht werden, daß in den 1880er Jahren, als der Anarchismus in Deutschland und Österreich zur organisierten Bewegung wurde, wichtige Entscheidungen im internationalen Kontext bereits gefallen waren: Die bewaffnete Insurrektion als Stimulans zur Erhebung der ruralen Bevölkerung hatte sich als undurchführbar erwiesen. Außerdem beschäftigten sich weder der deutsche Anarchismus noch der Anarcho-Syndikalismus ernsthaft mit der Propaganda unter der ländlichen Bevölkerung [23]. Ferner sahen sich die anarchistischen Propagandisten von Anfang an der überwältigenden Konkurrenz der Sozialdemokratie gegenüber. Ihre einzige Hoffnung konnte darin bestehen, daß es ihnen unter dem Eindruck der Bismarckschen Sozialistenverfolgung gelänge, den Verbalradikalismus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in einen Radikalismus der Tat umzuwandeln. Neben solchen Bestätigungen der bereits geschilderten übernational gültigen Gesichtspunkte sind hinsichtlich des deutschsprachigen anarchistischen Terrorismus einige Spezifika zu bedenken.

So werden als dessen mögliche Ursachen persönliche Momente genannt: etwa Johann Mosts unbändiger Tyrannenhaß, den er selbst in seinen Memoiren aus der durch seine herzlose Stiefmutter verursachten „negativen Gefühlsentwicklung“ ableitete [24], oder August Reinsdorfs Wunsch, noch einen entscheidenden Beitrag zur Befreiung der Menschheit zu leisten, ehe ihn die „Buchdruckerkrankheit“ (Tuberkulose) dahinraffte [25]. Gegenüber einer solchen individual-psychologischen Deutung der Genannten müssen überpersönliche strukturelle Gründe als bedeutsamer erachtet werden.

Bereits in einem Artikel in Kropotkins Le Révolté von 1880 wurde eine interessante soziologische These ventiliert [26]: Der staats-zentralistische und „autoritäre“ Sozialismus der Sozialdemokraten sei ein Produkt der industriellen Regionen Norddeutschlands; in Süddeutschland dagegen seien der Mentalität der Bevölkerung die autonomistisch-föderalistischen Tendenzen des Anarchismus angemessener. Und ganz im Sinne des mediterranen ländlichen Insurrektionismus wird an die Tradition der Bauernkriege und insbesondere an den Bauernführer Florian Geyer erinnert, ohne daß allerdings die Handwerker-Komponente dieser historischen Bewegung besonders betont würde. Es bedürfte einer erneuten Nachprüfung, ob sich in der deutschen anarchistischen Bewegung der 1870er und 1880er Jahre der Widerstand der unselbständigen Handwerker gegen den großbetrieblichen Organisierten Kapitalismus und der mit ihm korrespondierenden Organisierten Arbeiterschaft artikulierte und im Handwerker-Terrorismus seinen Höhe- und Endpunkt erreichte.

Weiter ist zu bedenken, daß der deutsche und österreichische Terrorismus nur mit Vorsicht als rein anarchistisch gekennzeichnet werden darf. Die ihn tragende Bewegung wurzelte nämlich in der Spaltung der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie in eine wortradikale aber legalistisch-sozialreformerische Richtung und einen Sozialrevolutionären Flügel. Eine mögliche These wäre, daß gerade die Verschmelzung dieser gefühlsmäßig Sozialrevolutionären Gruppierung mit der theoretischen Tradition des Anarchismus jene starke Dynamik auslöste, welche in den Terrorismus ausmündete. Die explosive Verkörperung dieser beiden sich potenzierenden Tendenzen wäre dann Johann Most, Arbeiterführer, Prophet der Bombe und Rhetoriker der Gewalt.

Eine alternative Schlußfolgerung findet sich bei Nettlau, allerdings mit exkulpatorischer Funktion für den Anarchismus. Er geht von der Überlegung aus, daß die Reaktion der Sozialdemokratie auf die staatliche Verfolgung während der Zeit des Sozialistengesetzes bei vielen Arbeitern Enttäuschung hervorbringen und eine Sozialrevolutionäre Stimmung auslösen mußte. Gerade weil diese radikalisierten Sozialdemokraten aber noch nicht mit dem Ideengut des freiheitlichen Sozialismus vertraut gewesen seien, habe sich die radikale Gesinnung „bei diesen innerlich noch durchaus autoritären Sozialisten ... in der Disposition zu Gewalt gegen die heutige Gesellschaft, politischem und sozialem Terrorismus und in Parteihaß gegen die konsequenten Vertreter der bisherigen friedlichen Taktik der Sozialdemokratie“ geäußert [27]. Und an anderer Stelle sagt er, man habe geradezu im „Kult der unmittelbaren Gewalt im Sinn von sozialrevolutionärem Terrorismus“ geschwelgt: „Diesen und nicht den Anarchismus hatte man an die Stelle der Sozialdemokratie gesetzt, und um den Anarchismus kümmerte man sich nicht mehr als wie um ein fernliegendes Endziel“ [28]. Freilich scheint Nettlaus reinliche Trennung von „Anarchisten“ und „Sozialrevolutionären“ historisch fragwürdig, wenn auch in Deutschland diese Linien nach der Ausrufung des Sozialistengesetzes ein paar Jahre gesondert nebeneinander herliefen, ehe sie sich vereinigten.

Als konstitutives Element des deutschsprachigen Terrorismus ist jedenfalls die Unterdrückung der Arbeiterbewegung durch den Staat seit dem Ausnahmegesetz von 1878 zu nennen. Eine Folge dieser repressiven Politik war die Unmöglichkeit jeder legalen Arbeit für die Anarchisten, die dann — zur Vermeidung der Durchsetzung ihrer Organisation mit Polizeispitzeln – „nach Mazzinischem und Blanquischem Muster“ taktierten, wodurch „die ganze Bewegung auf die geheimen Gruppen beschränkt blieb und die Massen nur insofern berührte, als  [diese] durch zeitweise Verbreitung von Zeit- und Flugschriften erreicht wurden“ [29]. Die natürliche Folge dieser konspirativen Kleingruppen war ihr militanter Charakter.

Dazu kam der Haß der von der Polizei wegen anarchistischer Umtriebe Ausgewiesenen. So schrieb schon 1885 der Schweizerische Bundesanwalt Eduard Müller – nicht ohne Spitze gegen deutsche politische Pressionen wegen der angeblich zu laschen Emigrantenpolitik der Eidgenossen: „Immer wieder tritt uns ... der Kampf gegen das Ausnahmegesetz dieser beiden Länder  [Deutschland und Österreich] entgegen, deren Härte die Verbannten eben zu spüren bekommen und welche sie mit grenzenlosem Haß gegen ihre heimatlichen Institutionen erfüllt haben“ [30]. In diesem Sinne schrieb auch der durch die Polizei von Ort zu Ort gehetzte August Reinsdorf (der Organisator des Niederwald-Attentats) 1882 an einen Genossen in Amerika, man brauche Dynamik, um endlich „Rache zu finden“: „Rache für alle Schurkereien, gründliche Rache, ungeheure, die ganze Bourgeoisie und ihre Knechte in Schrecken und Angst setzende Rache möchte ich haben, und sollte ich dabei gevierteilt werden“ [31] Das politische Ziel der Sozialrevolutionäre war ein „punktartiger Umsturz“; diese intentional-revolutionäre Naherwartung verband sich mit dem Glauben, daß individuelle heroische Akte des Terrorismus die vorausgesetzte revolutionäre Stimmung der Massen bis zu diesem Punkte verschärfen könnten [32]. So äußerte der Attentäter Anton Kammerer in einem Brief: „Wir dürfen nicht ruhen, bis der letzte morsche Stein der kapitalistischen Gesellschaft von den Hammerschlägen der sozialen Revolution zermalmt ist“ [33].

Diese chiliastische Hoffnung der Verfolgten, die sich die Märtyrerkrone selbst aufs Haupt setzen wollten, ist in einem zeitgenössischen Bericht über die Geistesverfassung der Beteiligten besonders gut beschrieben: „Die ewigen Verfolgungen, denen jeder von uns ausgesetzt war, die unerhörten Opfer, welche die Bewegung fast täglich zu bringen hatte, erzeugten bei vielen von uns einen ganz abnormalen Zustand, der sich schwer beschreiben läßt. Das sonderbarste aber war, daß uns die Verfolgungen keineswegs unangenehm waren: viele von uns sehnten sie förmlich herbei, da wir fest davon überzeugt waren, daß gerade dadurch die Entscheidung, die unserer damaligen Auffassung nach unmittelbar vor der Tür stand, am besten gefördert würde ... Wir sahen die Welt sozusagen durch gefärbte Gläser und erblickten überall Zeichen und Wunder, die nur wir richtig zu deuten verstanden. Unser Hass gegen das bestehende System entwickelte sich zu einer Art Privathass gegen jeden Träger desselben“. [34]

Diese Stimmung wurde noch durch die Hinrichtungen überführter Attentäter angeheizt, welche neue Racheakte nach sich zogen, und durch die Polizei selbst stimuliert, die durch in die Bewegung geschleuste Agents provocateurs ihr bekannt gewordene Attentatspläne nicht vereitelte, ja solche sogar mit vorbereitete, da sie diese propagandistisch bei der Unterdrückung der Sozialdemokratie und gleichzeitigen Entliberalisierung der Liberalen ausschlachten konnte.

Bemerkenswert bleibt freilich bei all diesen strukturellen Überlegungen, daß die terroristische Form der „Propaganda der Tat“ auch „exportiert“ werden konnte: Anders als in der deutschen und österreichischen Arbeiterschaft, innerhalb derer der Anarchismus nur ein Randphänomen blieb, setzte sich der sozial-revolutionäre Kult der Gewalt unter den deutschsprachigen (aber auch den italienischen) Arbeitern, die nach Amerika ausgewandert waren (viele davon als Opfer des Sozialistengesetzes) in den 1880er Jahren durch, und Most, der selbst 1882 nach den Vereinigten Staaten auswanderte, wurde der Anheizer dieser Bewegung. Sie fand in dem Chicagoer Heumarkt-Vorkommnis, bei dem zum erstenmal in der Geschichte Amerikas in Friedenszeiten eine Bombe gegen Menschen geworfen wurde, ihren Höhepunkt. Eindeutiger als bei den Terrorakten in Deutschland und Österreich können hier ökonomische Ursachen – die depravierte Lage der enttäuschten Neueinwanderer im Ballungsraum Chicago und die brutalen Unterdrückungsmethoden der Unternehmer – für die Dynamit-Euphorie verantwortlich gemacht werden [35]. Indirekt müssen allerdings auch für Deutschland und Österreich wirtschaftliche Gründe (Depressionsphase der 80er Jahre) für die Radikalisierung der Arbeiter und die nicht mehr voll wirksame Integrationswirkung der großen sozialdemokratischen Arbeiterparteien und ihrer Reformpolitik in Rechnung gestellt werden. [36]

Die Bedeutung des politischen Mordes in Deutschland (mit dem Schwerpunkt in der ersten Hälfte der 80er Jahre) für ein Verständnis des deutschen Anarchismus ist unterschiedlich beurteilt worden. Während Andrew R. Carlson die Zahl der den Anarchisten zuzuschreibenden Attentate noch um die Hödel- und Nobiling-Anschläge auf Kaiser Wilhelm I. erweitern und so dem deutschen Anarchismus spektakuläre Aspekte abgewinnen möchte, neigt der Verfasser dazu, die Bedeutung der Attentate für die anarchistische Bewegung selbst herunterzuspielen zugunsten anderer Formen illegaler Aktivität wie den Zeitungsschmuggel oder die Bildung geheimer Lese- und Diskussionszirkel. Die Mehrheit der deutschen Anarchisten war jedenfalls auch während der Attentatswelle nicht an der Vorbereitung oder Durchführung politischer Morde beteiligt, sondern höchstens „Sympathisanten“.

Wenn es die Absicht der Attentäter gewesen war, durch symbolische Akte gegen politische Institutionen ein Signal zum Aufstand zu geben, schlug dies kläglich fehl. Kein wesentlicher Vertreter des Systems wurde in Deutschland – im Gegensatz zu anderen Ländern – getroffen. Gewisse Erfolge zeigten sich nur auf der niederen staatlichen Ebene. Lediglich der Terrorismus in Form krimineller Gewaltdelikte gegen Privatpersonen und ihr Eigentum zeitigte beachtlichere Resultate. Da aber kein aufsehenerregender politischer Erfolg eintrat, außerdem Unschuldige der Gewalt zum Opfer fielen, mußte notwendigerweise eine Propaganda durch diese Taten ausbleiben, ja ein gegenteiliger Effekt erzielt werden.

Die realen Möglichkeiten der staatlichen Repression und Gegen-Gewalt waren außerdem groß; im Preußischen Polizeipräsidium in Berlin wurde über jeden namentlich bekannten Anarchisten eine eigene Überwachungsakte geführt. Trotz des Sozialistengesetzes war die Arbeiterschaft weiterhin im Parlament repräsentiert – gerade die Tatsache, daß die Sozialdemokratie keine vogelfreie Partei war, erschwerte den Anarchisten das Handwerk. Ferner fehlte auch in Deutschland eine wirksame Tradition des Anti-Etatismus – auch die Reichs- Feinde von 1870/71 – wie Großdeutsche, partikular-dynastische Patrioten und Katholiken – waren keine Staats-Feinde. Schließlich gelang es den Anarchisten auch nicht — wie sie es dann während der Novemberrevolution 1918/19 in Bayern versuchten [37] – eigene staatliche und regionalistische Bestrebungen in Süddeutschland für sich auszuschlachten, da sich der nationale Gedanke – verwirklicht in einer föderalistischen Reichsverfassung — siegreich durchgesetzt hatte. Diese Gründe ließen den organisierten Anarchismus zur politischen quantité négligeable werden. Der terroristische Anarchismus war so nur ein Popanz, mit dem die Reichsregierung die bürgerlichen Nationalliberalen erschrecken und — unter Preisgabe ihrer liberalen Rechtsstaatsideale — zur Verlängerung des Sozialistengesetzes veranlassen konnte. Im Gegensatz zur politischen Bedeutungslosigkeit des organisierten Anarchismus müssen dagegen besonders für die Wilhelminische Zeit anarchistische Unterströmungen des Denkens (Stirner-Renaissance der 90er Jahre! [38]) als Ausdruck der Staatsverdrossenheit der bürgerlichen Intelligenz ernster genommen werden.

II

Die „Direkte Aktion“ ist der Sammelbegriff für die vom Anarcho-Syndikalismus verwandten gewaltsamen und gewaltfreien Kampfmittel. So heißt es in der Prinzipienerklärung der im Dezember 1922 auf dem Berliner Kongreß gebildeten syndikalistischen Internationale:

„Der revolutionäre Syndikalismus steht auf dem Boden der direkten Aktion und ist bereit, an allen Kämpfen des Volkes, die seinen Zielen der Abschaffung der Wirtschaftsmonopole und der Gewaltherrschaft des Staates nicht entgegengesetzt sind, teilzunehmen. Als Kampfmittel anerkennt er den Streik, den Boykott, die Sabotage usw. Ihren höchsten Ausdruck findet die direkte Aktion im sozialen Generalstreik … [39]“

Dieses Generalstreik-Konzept war keine syndikalistische Erfindung, hatte vielmehr schon länger bestanden, wurde in den 1880er Jahren auch bereits intensiv von Anarchisten propagiert (manchmal wird sogar Bakunin für den Gedanken reklamiert) und auf den französischen Anarchisten-Kongressen seit 1888 besprochen und empfohlen. Nach Nettlau war diese Idee in der internationalen anarchistischen Kreisen 1890 so verbreitet, daß in einer damaligen internationalen Diskussion bereits vor ihrer Überschätzung als Panazee gewarnt wurde [40].

Durchschlagskraft erhielt der Gedanke jedoch erst, als er in die französische Gewerkschaftsbewegung einfloß und diese revolutionierte. Dies war vor allem das Werk von Fernand Pelloutier [41]. Dieser hatte sich seit dem September 1892 zum Generalstreik bekannt. Seine Theorie fand ihre Ausformulierung in der von ihm zusammen mit Henri Girard verfaßten Schrift von 1895: „Qu’est-ce la Grève générale?“ Dort wird der Generalstreik als „Revolutionsstreik“ („la grève-révolution“) bezeichnet und von der bisherigen Form des Streiks abgehoben: „Der allgemeine Streik“ — so heißt es da – „wird keine friedliche Bewegung sein, weil ein friedlicher allgemeiner Streik ... zu nichts führen würde“. Wichtig für sein Gelingen sei vor allem die Gewinnung der Arbeiter in den Schlüsselzentren des Wirtschaftslebens. Insbesondere wenn sich der Streik nicht rasch genug ausbreite, sei die Anhaltung der Transporte (also der Eisenbahnstreik) entscheidend, denn dadurch erreiche man die Immobilisation der gegen die Streikenden eingesetzten Soldaten, die Stillegung der großen Industrien durch Kohlemangel, das Abschneiden der Ernährungszufuhr, den Zusammenbruch der Gas- und Elektrizitätsversorgung. Ein Bergarbeiterstreik allein sei dagegen wenig nützlich, solange die Transportmöglichkeiten weiter bestünden. Dagegen könnten Arbeiter, welche an Knotenpunkten der Wirtschaft säßen, eine potenzierte Wirkung auslösen, indem sie das in der Wirtschaft herrschende Prinzip der Arbeitsteilung zu ihren Gunsten ausnützten.

Der allgemeine Streik, so sah es Pelloutier, muß dadurch siegen, daß die Streikenden zerstreut bleiben und dadurch auch die Armee zur Zersplitterung zwingen. So kann das Heer keinen entscheidenden Schlag führen; außerdem würden größere Truppenansammlungen sowieso bald ausgehungert durch den Zusammenbruch des Transportsystems. Der Generalstreik müsse deshalb „eine Revolution von überall und nirgends sein“: Die Streikenden bleiben in ihren Stadtvierteln, und dort wird „die Besitzergreifung der Produktionsmittel sozusagen stadtviertelweise, straßenweise, Haus um Haus stattfinden“. Kleine Gruppen von Streikenden, höchstens zehn Arbeiter, nehmen die Werkstätten jeder Straße in Besitz, zuerst die kleinen Werkstätten, etwa die Bäckereien, dann die größeren Werkstätten und erst nach dem Sieg der Streikbewegung die Großindustrie. So beginne die „freie Produktion“ ohne Zwischenschaltung einer Revolutionsregierung oder proletarischen Diktatur.

Eingeübt wird der Generalstreik durch den begrenzten revolutionären Streik. Dazu führte Pierre Monatte auf dem Internationalen Anarchistenkongreß im August 1907 in Amsterdam aus: „Ihre  [ = der direkten Aktion] grundlegende oder besser augenfälligste Form ist der Streik. Eine zweischneidige Waffe, wie man früher sagte. Eine sichere und gut gestählte Waffe, sagen wir, eine Waffe, die, wenn sie vom Arbeiter geschickt gehandhabt wird, das Unternehmertum ins Herz treffen kann. Gerade mittels des Streiks tritt die Masse der Arbeiter in den Klassenkampf ein und macht sich mit den Vorstellungen vertraut, die damit verbunden sind; gerade im Streik erhalten sie ihre revolutionäre Ausbildung, messen ihre eigenen Kräfte mit denen ihres Feindes, des Kapitalismus, gewinnen sie Vertrauen in ihre Macht, lernen sie es, kühn zu sein.“ [42] So wird der Streik zur Schule des revolutionären Proletariats, für das der Streik nicht nur ein Mittel zur Verbesserung seiner materiellen Lage, sondern zugleich der Weg zur Einübung heroischer Tugend in einer sittlichen Kraftanstrengung ist.

Ein den Streik ergänzendes Kampfmittel ist der Boykott, besonders wenn es sich um Industrien handelt, deren Ergebnisse auf den Massenverbrauch angewiesen sind: „Der Streik der Produzenten findet dann durch eine mehr oder weniger organisierte Aktion der Verbraucher, die mit den streikenden Arbeitern sympathisieren, einen größeren Nachdruck.“ [43]

Eine weitere Form der „Direkten Aktion“ ist die Sabotage. Arnold Roller (Pseudonym von Siegfried Nacht) gab in seiner Broschüre „Die direkte Aktion“ von 1903 folgende Erklärung des „Sabots“, wie dieser Begriff zur Kennzeichnung der Gewalt gegen Sachen um die Jahrhundertwende eingedeutscht wurde: Es bezeichne im allgemeinen „die Beschädigung des Eigentums, des Materials und der Produktionsmittel der Unternehmer“, gerade dann, wenn ein Streik nicht in Frage komme. Dazu bestünden folgende Möglichkeiten: Materialvergeudung und Materialverschleuderung, die absichtliche Lieferung von schlechter und schadhafter Arbeit und schließlich die allmähliche und fortdauernde kleine Beschädigung bzw. Zerstörung der Werkzeuge und des Materials der Unternehmer, so daß schließlich überhaupt nur noch schlechte Arbeit geliefert werden könne.

Als weitere Form der „Direkten Aktion“ nannte Roller das „Go-canny“, ein absichtlich langsameres Arbeiten, das vor allem dann wirksam sei, wenn die Arbeiter in Tag- oder Stundenlohn (also nicht in Stücklohn oder Akkordlohn) stehen.

Schließlich verweist er noch auf den „Obstruktionismus“ (eine Art „Dienst nach Vorschrift“). Dieses Kampfmittel sei bei all jenen Industrien und Unternehmungen anwendbar, wo gewisse Arbeiten genau bis zu einer bestimmten Zeit und Stunde pünktlich erledigt werden müssen, besonders bei allen Transport- und Kommunikations-Berufen (von der Eisenbahn bis zur Post und Presse). „Go-canny“ und „Obstruktionismus“ hätten den Vorteil, daß der Arbeiter weiterhin in Lohn bleibe und so wirtschaftlich nicht geschädigt werde.

Freilich sahen die Befürworter der „Direkten Aktion“ auch eine Gefahr: All diese Aktionen könnten nur dadurch größere Arbeitermassen mobilisieren, daß sie konkrete Reform-Ziele wie Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen anpeilen. Dadurch entsteht aber die Gefahr, daß die Massen diese reformistischen Tagesziele verabsolutieren; ja selbst die bewußt anarchistischen Führer lernen es, wie Woodcock sagt, „to compromise deeply with the actualities of a pre-anarchist world“ [44]. So muß entgegen der nur die Tagesziele anvisierenden Mentalität der Anhängermassen die anarchistische Kerntruppe der Syndikalisten (hier kommt in der anarcho-syndikalistischen Theorie erneut der bakunistische Gedanke der revolutionären Elite ins Spiel [45]) immer wieder auf das höchste und gesellschafts-transformierende Endziel verweisen, auf den allgemeinen „Revolutionsstreik“.

In diesem Sinne formulierte Roller: „Die direkte Aktion als Betätigung des Proletariats beschränkt sich aber nicht nur auf die Erzielung von Verbesserungen in der Gegenwart, sondern ihr weiteres Ziel ist die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt, und die Neuorganisation einer freien Gesellschaft ... So ist der soziale Generalstreik mit Expropriation der höchste Ausdruck, die Krönung der direkten Aktion des Proletariats.“ [46]

Bereits hier erhielt der als Signal zur Revolution propagierte Generalstreik den Charakter eines sozialen Mythos, wie er dann von Georges Sorel in den „Réflections sur la violence“ ausgearbeitet wurde.

Die Folgen des politischen Mords waren für die Anarchisten tiefgreifender gewesen als für die Gesellschaft, gegen die er sich gerichtet hatte. Denn der Terrorismus löste die gemeinsame Anarchisten-Verfolgung durch die betroffenen Staaten aus, trieb die Bewegung in den Untergrund und zu konspirativem Wirken, ließ viele der besten Kräfte im Gefängnis schmachten und isolierte die übrigbleibenden anarchistischen Sekten-Zirkel von den Massen der Arbeiter. Der Anarchismus hatte sich im Grunde selbst „vor der Wirklichkeit verbarrikadiert“ [47].

Fernand Pelloutier zog 1895 aus dieser Situation die Folgerungen [48]: „Ich kenne viele Arbeiter, die zwar vom parlamentarischen Sozialismus enttäuscht sind, die aber noch zögern, sich zum libertären Sozialismus zu bekennen, da ihrer Meinung nach die ganze Anarchie im individuellen Gebrauch von Sprengstoff besteht.“ Zwar würden viele Arbeiter den Attentäter Francois-Claudius Ravachol verehren (wie Rocker in seinen Memoiren berichtet, gehörte das getanzte Lied „La Ravachole“ mit dem einprägsamen Vers „Vive le son / d’l’explosion!“ in Paris zu den beliebten Massengesängen nach Ravachols Hinrichtung 1892 [49]). „Aber keiner von ihnen würde es wagen, sich als Anarchist zu bezeichnen, da er den Eindruck zu erwecken fürchtet, als ob er die Verbreitung des kollektiven Aufstandes zugunsten der individuellen Revolte aufgegeben habe.“ Deshalb könne und müsse der Anarchismus „durchaus auf den individuellen Gebrauch von Sprengstoff verzichten ..., wenn  [seine Lehre] irgendwo Fuß fassen will“.

Aber die anarcho-syndikalistische „Direkte Aktion“ war nicht nur die Alternative zum Terrorismus, sondern gewissermaßen dessen Fortsetzung in neuem Gewand. So führte schon Pierre Monatte 1907 auf dem Internationalen Anarchistenkongreß in Amsterdam aus, in der „Direkten Aktion“ lebe „der Geist der Revolution wieder auf und verjünge sich durch den Kontakt mit dem Syndikalismus, und die Bourgeoisie habe zum erstenmal, seitdem das anarchistische Dynamit seine gewaltige Stimme verstummen ließ, wieder gezittert“ [50]. Noch deutlicher betont Roller [51] die Kontinuität zwischen der Gewalt gegen Personen und der Gewalt gegen Sachen, wenn er davon spricht, die „Direkte Aktion“ arbeite mit dem „ökonomischen“ und dem „sozialen Terror“. Unter dem ersteren versteht er den „revolutionären terroristischen Streik“, der die Kapitalisten einschüchtert durch die Beschädigung oder Zerstörung ihrer Produktionsmittel und ihres Eigentums; der letztere arbeite mittels des Attentats-Terrorismus gegen die Person und das Leben des Kapitalisten. Beide Formen von Terrorismus seien gerechtfertigt, den es bewähre sich das alte Wort: „Dem Bittenden gewährt man nichts, dem Drohenden etwas, dem Gewaltthätigen Alles.“ Roller vergleicht diese neuen Formen des Terrorismus ausdrücklich mit dem politischen Mord der vorausgegangenen Phase: „Es ist  [der soziale Terrorismus] eine neue Form des Tyrannenmords, der soziale Tyrannenmord, da doch die Bourgeoisie der kollektive Tyrann des Proletariats ist. Auf den politischen Terrorismus folgt nun der ökonomische und soziale Terrorismus gegen die ökonomischen Tyrannen. Wenn auch solche terroristische Thaten nur das Werk von einzelnen muthigen, revolutionären Genossen sein können, so erhalten sie doch dadurch, daß sie der Verbitterung der großen Masse Ausdruck geben, die dann oft dem muthigen Beispiel der Wenigen nachfolgt, ungeheure Bedeutung ...“ [51].

Trotz dieser Betonung der terroristischen Kontinuität ist es ganz offensichtlich, daß der revolutionäre Syndikalismus dem Zerfall des Anarchismus in Kleingruppen den Gedanken der Massenorganisation der Arbeiter entgegensetzte; und an die Stelle der „Propaganda der Tat“ in Gestalt des politischen Mordes – einem Ausdruck des extremen Individualismus – trat, die Propaganda der „Direkten Aktion“ als Beschwörung der solidarischen Verbundenheit der Massen zur Erreichung eines revolutionären Zieles. Freilich – darauf verwies James Joll [52] – wirkte die Idee der direkten revolutionären Aktion gerade deshalb attraktiv, weil die syndikalistische Bewegung in Wirklichkeit schwach war. Ferner bleibt offen, ob der Mythos der „Direkten Aktion“ den Wirtschaftskampf der Arbeiter nicht nur neu interpretierte, sondern wirklich veränderte.

Der reine Syndikalismus artikulierte im Konzept der „Direkten Aktion“ eine Theorie und Praxis des industriellen Aktionismus, der nicht nur zum individualistischen Terror, sondern auch zur konspirativen und insurrektionellen Praxis der bakunistischen Tradition in Widerspruch stand. Zwar versuchten Anarchismus-Forscher wie Woodcock oder Nettlau [53] zu zeigen, daß der Syndikalismus mit seiner Betonung des ökonomischen Kampfes der Massen an die Tradition von Proudhon und vor allem Bakunins anknüpfte. Aber es kann nicht übersehen werden, daß eine Rückbindung des Syndikalismus und seiner „Direkten Aktion“ an die bakunistische Tradition mit Schwierigkeiten verbunden war. Denn Bakunin hatte nicht den Generalstreik, sondern die Insurrektion in den Mittelpunkt der Revolutionstheorie gesetzt, während der Syndikalismus von einem bloß ökonomischen Aktionsbegriff ausging. Kurz gesagt: Der Bakunismus war eben keine Gewerkschaftsbewegung gewesen.

Der Dissens zwischen den alten Bakunisten und dem neuen revolutionären Syndikalismus wurde am deutlichsten in jener berühmten Debatte zwischen Pierre Monatte und Errico Malatesta auf dem erwähnten Amsterdamer Kongreß von 1907 [54]. Malatesta hatte all die Jahre vorher die Reduktion des Anarchismus auf individuelle Protesthandlungen nicht mitgemacht, sondern nie aufgehört, „an die Möglichkeit einer wirklichen allgemeinen revolutionären Aktion zu glauben“ [55]. In Amsterdam bekannte er sich deshalb als Traditionshüter der Ersten Internationale, der sich nie, auch als diese Internationale aufgelöst wurde, „in den Elfenbeinturm der Spekulationen“ zurückgezogen habe; vielmehr sei er bemüht gewesen, überall „diese hochmütige Mentalität der Absonderung“ zu bekämpfen. Die Arbeiterbewegung sei in der Tat „ein Berührungspunkt zwischen den Massen und uns“, und die Anarchisten sollten deshalb auch in den Gewerkschaften aktiv sein. Aber der wahre Anarchist könne keinesfalls das Kampfmittel des Generalstreiks verabsolutieren. Zwar sei der Generalstreik ein hervorragendes Mittel, um die soziale Revolution einzuleiten. „Aber hüten wir uns“ – so warnte Malatesta seine Zuhörer — „vor der verhängnisvollen Illusion, als sei die bewaffnete Erhebung durch den Generalstreik überflüssig geworden“. Das Argument war gut getroffen, denn es konnte auf eine offensichtliche Schwäche des Generalstreik-Konzepts verweisen, wie es von Pelloutier entwickelt worden war. Dieser hatte sich von seinem dezentralisierten Revolutionsstreik wahre Wunderdinge für einen raschen Zusammenbruch des Kapitalismus und seiner Armeen erhofft. Malatesta aber wandte ein, dieser Generalstreik sei eine „reine Utopie“ und ein „Unsinn“. Die ersten, die nämlich nach der Produktionseinstellung vor dem Hungertode stünden und deshalb zur Kapitulation gezwungen wären, seien nicht die Angehörigen der Bourgeoisie, sondern die Arbeiter. Diese Niederlage könne nur verhindert werden, wenn die Arbeiter sich – gegen den voraussehbaren Widerstand der staatlichen Ordnungskräfte – der Produkte mit Gewalt bemächtigten: „Damit haben wir den Aufstand, und der Sieg gehört dem Stärkeren. Bereiten wir uns also lieber auf diesen unvermeidbaren Aufstand vor, anstatt uns darauf zu beschränken, den Generalstreik als ein alle Übel behebendes Allheilmittel zu preisen.“

Ich kann mich nicht James Joll anschließen, der sagt, was die wirkungsvollere Kampfmethode betreffe, habe Monatte und nicht Malatesta recht behalten [56]. Malatesta selbst war es, der den Beweis dafür antrat, daß seine Theorie einer Überleitung des Streiks in die Insurrektion realistisch war (und auch die revolutionären Ereignisse der Jahre 1917/1918 haben dies bestätigt!): Ich spreche hier von der „Roten Woche“ in Ancona im Juni 1914, eines der größten revolutionären Ereignisse in Europa während der syndikalistischen Phase des Anarchismus. Wie der führend an der „Roten Woche“ beteiligte Malatesta in seinem Bericht über die Vorgänge zurecht heraushebt [57], handelte es sich hier um einen „Streik mit insurrektioneller Tendenz“; doch gerade, als „die Revolution zu entstehen begann“, brachte die gemäßigte Gewerkschaftsorganisation die ganze Sache durch ihren Rückzieher zum Scheitern.

Erfahrungen dieser Art machen es verständlich, daß die anarcho-syndikalistische Internationale in ihrer Prinziperklärung von 1922 eine Verabsolutierung des Generalstreiks ablehnte: „Ihren höchsten Ausdruck findet die direkte Aktion im sozialen Generalstreik, der, um im Sinne des revolutionären Syndikalismus siegreich zu sein, auch die Einleitung zu der sozialen Revolution sein muß“ [58]. Mit dieser Formulierung wurde Malatestas Ablehnung einer Gleichsetzung von Generalstreik und Revolution bestärkt und damit zumindest indirekt der alte Insurrektionismus in die Lehre von der „Direkten Aktion“ integriert. Malatesta hatte schon auf dem Amsterdamer Anarchistenkongreß einen Antrag mit eingebracht, in dem es geheißen hatte: „Die Anarchisten betrachten die Gewerkschaftsbewegung und den Generalstreik als die wirksamsten Mittel der Revolution, jedoch nicht als einen Ersatz für die Revolution ... Die Anarchisten glauben, daß die Abschaffung der kapitalistischen und autoritären Gesellschaft nur durch eine bewaffnete Erhebung und gewaltsame Enteignung herbeigeführt werden kann. Sich einem mehr oder weniger allgemeinen Streik und der Gewerkschaftsbewegung anzuschließen, darf aber nicht dazu führen, daß die direkten Kampfmittel gegen die militärische Macht der Regierungen in Vergessenheit geraten.“ [59]

Bis die Russische Revolution diese Dinge wieder in Erinnerung rief, stand freilich nach Nettlaus Zeugnis [60] Malatesta von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg isoliert in der Bewegung; dabei habe man völlig übersehen, „daß man den fast einzigen Mann neben sich hatte, der noch, wie Bakunin selbst, an die Möglichkeit wirklicher revolutionärer Aktion glaubte und nicht nur an die allmähliche Ideenpropaganda oder einen automatischen oder zufälligen Zusammenbruch des ganzen Systems“, wie zunächst auch die Syndikalisten [61].

Arnold Roller [62] führt als besonderen Grund für die Bedeutung der „Direkten Aktion“ die Erfolglosigkeit friedlicher Lohnkämpfe an. Außer an vielen Einzelbeispielen — bei denen dem großen Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet 1905 innerhalb seiner Argumentation besondere Bedeutung zukommt – kann er auch auf das Scheitern der Bewegung zugunsten des Achtstundentags verweisen (er wurde in Deutschland bekanntlich erst mit der Novemberrevolution 1918 eingeführt). Roller artikuliert gerade bei seiner Kritik des Verhaltens von Sozialdemokraten und Gewerkschaften beim fehlgeschlagenen Ruhrstreik von 1905 die Befürchtung, daß der Reformismus der Gewerkschaftsbewegung, der „Resignationsstreik“ — wie er sagt — nichts anderes bedeutet als den Verzicht auf die soziale Revolution überhaupt. In der Tat hatte ja die Politik der friedlichen Lohnkämpfe eben in der Integration der Arbeiterschaft in das bestehende politische und ökonomische System ihre Ursache. Zum anderen sieht Roller die Verwässerung der Revolution durch Organisationsfetischismus und Bürokratisierung. Nach seiner Meinung soll die Gewerkschaft nicht Futterkrippe für Funktionäre sein, sondern den alten revolutionären Geist des heroischen Aktivismus hochhalten. Denn der Legalismus, der Geist der Gesetzlichkeit und des Gehorsams sei gerade eine der Hauptursachen für die Niederlagen der Arbeiterbewegung: „Diese friedlichen Streiks töten auch die Energie der Streikenden; ihr Selbstvertrauen, ihr persönlicher Mut und die Initiative sind ausgeschaltet, man verläßt sich auf die obersten Führer, Vermittler und Parlamente und vor allem auf Geldunterstützung.“

Neben dieser richtigen Analyse der „negativen Integration“ der Arbeiterschaft in Staat und Gesellschaft nennt er weitere Gründe, warum friedliche Streiks geringe Erfolgsaussichten hätten: Die friedliche Verweigerung der Arbeitskraft sei sinnvoll gewesen in einer Wirtschaft kleiner konkurrierender Fabrikanten und Handwerksmeister, da diese der Streik vor die Gefahr des Ruins gestellt und deshalb zum Nachgeben gezwungen habe. Seit sich aber die Unternehmen konzentrierten, sich in Unternehmerverbänden organisierten und solidarisch mit der gegenseitigen Anfertigung von Streikarbeit unterstützten, habe diese Waffe ihre Stärke verloren. Der anonyme Aktionär mit seiner breiten Aktienstreuung sei eben nicht mehr tödlich zu treffen, seine Dividende verringere sich höchstens ein wenig. Das furchtbarste Mittel, das jetzt aber die Kapitalisten ersonnen hätten, um die Organisation und die Streikkassen der Arbeiter selbst zu zerstören, sei das Mittel der Aussperrung, die bis zur Generalaussperrung getrieben werde, damit auch unbeteiligte Arbeiter nicht mehr die Möglichkeit hätten, die Streikenden solidarisch zu unterstützen. Alles dies seien Beweise, daß sich die Verhältnisse gewaltig zugunsten der Kapitalisten verschoben hätten. Nur die „Direkte Aktion“ helfe da noch – wenn man nicht, wie die Sozialdemokraten und die sozialistischen Gewerkschaften, den Schwerpunkt der Aktionen überhaupt weg vom ökonomischen Feld in das Parlament verlegen wolle.

Die „Direkte Aktion“ wurde so zum Kampfruf gegen die „Politikaille der Parvenüsarbeiter mit den deutschen und österreichischen Plüschsofas“ [63]; sie war also der Versuch, die Tradition des ökonomischen Klassenkampfes und das Ziel der Expropriation der Expropriateure zu retten vor der verbürgerlichten Arbeiteraristokratie und der Integration der Arbeiterschaft in den Nationalstaat, wie sie dann bei Beginn des Ersten Weltkriegs voll sichtbar wurde.

Die „Direkte Aktion“ betont schon im Begriff selbst, daß die hier beabsichtigte Aktion ohne die Einschaltung von Zwischeninstanzen geschehen sollte: „Direktes Durchsetzen von Arbeiterforderungen, auch ohne Einverständnis des Unternehmers oder der Behörde, vor allem unter Ausschaltung des Stimmens und Wählens“ [64]. Hierbei sah sich der revolutionäre Syndikalismus in Übereinstimmung mit der Forderung der Ersten Internationale, daß die Emanzipation der Arbeiter ihr eigenes Werk sein müsse: „Selbst handeln, nur auf sich selbst vertrauen – das ist die direkte Aktion“. [65] Der Ablenkung des Kampfes auf den politischen Sektor wird vom Syndikalismus der Gedanke entgegengesetzt, daß allein die wirtschaftlich-industrielle Aktion, der ökonomische Kampf also, die revolutionäre Befreiung erwirken könnte. Dem lag unter anderem auch die Überlegung zugrunde, daß der ideologische und organisatorische Kitt einer Partei für revolutionäre Aktionen unzureichend sei; allein die gemeinsame Tätigkeit am Arbeitsplatz und das dadurch erwachsende gemeinsame wirtschaftliche Interesse knüpfe haltbare Bindungen. So entstand der Syndikalismus und die „Direkte Aktion“ als ein Versuch, den legalistischen Massenorganisationen der sozialistischen Parteien mit ihrer hierarchischen Arbeiterbürokratie eine revolutionäre Massenbewegung der Industriearbeiter entgegenzustellen. Auf diese Weise sollte auch erreicht werden, daß die Gewerkschaftsbewegung nicht zum Unterbau der sozialistischen Arbeiterparteien verkümmerte, sondern diesen als revolutionäre Alternative entgegengesetzt werden konnte. Fernand Pelloutier wollte alle diejenigen Arbeiter zur syndikalistischen Bewegung heranziehen, welche bisher den Gewerkschaften als den „wahre [n] Brutstätten zukünftiger Deputierter“ mißtrauten. Dem Reformsozialismus und seinem revisionistischen Glauben an die Macht des Stimmzettels und der Sozialgesetzgebung wurde hier der Kampf angesagt.

Selbst im Deutschland des Jahres 1905 „machte sich der frische Luftzug aus dem zaristischen Rußland in der Form bemerkbar, daß man überall die Frage des Generalstreiks diskutierte“ [66]. Die Reformsozialisten – schon bisher Gegner des Generalstreiks [67] – sahen darin eine solche Gefahr, daß sie nicht nur 1907 ihren bisherigen Berliner Abgeordneten und Führer der Krankenkassenbewegung Raphael Friedeberg [68] aus der Partei ausstießen, da er sich durch seine Broschüre „Parlamentarismus und Generalstreik“ als Vertreter des Syndikalismus erwiesen hatte, sondern auch positive Gegenmaßnahmen in die Wege leiteten; Bebel kreierte auf dem Jenaer SPD-Parteitag 1905 das Schlagwort vom „politischen Massenstreik“. Wie dieser und der folgende Parteitag 1906 in Mannheim verdeutlichten, sollte mit dieser taktisch gemeinten Parole die syndikalistische Generalstreiksforcierung unterlaufen werden. Im Gegensatz zu dieser war der „politische Massenstreik“ eben gerade nicht als revolutionärer Ersatz für den parlamentarischen Kampf gedacht, sondern als außerparlamentarisches aber friedliches Mittel zur Absicherung der Parlamentsarbeit im Falle des Entzugs des allgemeinen Wahl- oder Koalitionsrechts [69]. Dieser Streik verfolgte also keine offensiven, sondern nur defensive Absichten.

Damit trotzdem keine Verwechslung möglich sei, distanzierte sich der internationale Amsterdamer Anarchistenkongreß 1907 nochmals ausdrücklich vom „politischen Massenstreik“, der nach dem Antrag von Monatte nichts anderes sei „als ein Versuch der Politiker, den Generalstreik von seinen wirtschaftlichen und revolutionären Zielen abzulenken“ [70]. Freilich zeigte es sich bald, daß die radikale marxistische Parteilinke in der deutschen Sozialdemokratie das Konzept des „politischen Massenstreiks“ konsequent weiterverfolgte und im Sinne eines revolutionären Kampfmittels ausdeutete.

Durch die Verlockung dieser parlamentarisch nicht gezähmten Form des politischen Kampfes wurde, nachdem die Russische Revolution 1917 die Wirksamkeit des Kampfmittels demonstriert hatte, die Kommunistische Partei dann doch zur Falle für die Syndikalisten, die bisher so hartnäckig dem Parteisozialismus widerstanden hatten. Denn die Syndikalisten hatten schon immer gesagt, daß eine leitende Minorität die Massen mitreißen müsse – nach Kriegsende schien es vielen, als könne die Kommunistische Partei diese „leitende Minorität“ sein: „Es war die Zeit, in der der revolutionäre Syndikalismus aus Begeisterung für die russische Revolution sich selbstmordete“. [71]

Im Herbst 1920 schufen die Arbeiter der großen Mailänder Metallbetriebe eine neue Form der „Direkten Aktion“. Rudolf Rocker schreibt darüber in seinen Memoiren: „Der unmittelbare Anlaß jenes Geschehnisses war ein Beschluß der Unternehmerorganisation, über die Arbeiterschaft eine Aussperrung zu verhängen, um Errungenschaften rückgängig zu machen, die sich die Arbeiter erkämpft hatten ... Doch die Arbeiter kehrten den Spieß um und besetzten im August und September 1920 die Betriebe, um die Arbeit ohne die Unternehmer auf eigene Rechnung zu betreiben. Um sich gegen die gewaltsame Vertreibung durch Polizei und Truppen zu schützen, zog man um die Betriebe Laufgräben, die mit Maschinengewehren gespickt waren, so daß jede Fabrik einer Festung glich. Jene mächtige Bewegung, von der auch bald andere Industrien erfaßt wurden, fand damals durch die Neuheit ihrer Methoden einen lebhaften Widerhall in der Arbeiterbewegung aller Länder ...“ [72]

Nun gibt es unterschiedliche Herleitungen für diese neue Kampfform. Daniel Guérin wies darauf hin [73], daß hier die Orientierung linker Sozialisten und Anarchisten Italiens am russischen revolutionären Vorbild deutlich werde und das Vorgehen der norditalienischen Metallarbeiter eine Imitation des Sowjet-Modells darstelle. Bereits im Februar 1920 habe der Bund der italienischen Metallarbeiter den Unternehmern einen Vertrag abgerungen, der die Wahl sogenannter „interner Kommissionen“ in den Unternehmen zum Ziel hatte. Der August/September-Besetzung der Betriebe habe die Absicht unterlegen, jene Repräsentationsorgane der Arbeiter in Fabrikräte umzuwandeln. Da es ihnen trotz Zwang und Überredung nur in den seltensten Fällen gelungen sei, die Ingenieure und Vorarbeiter auf ihre Seite zu ziehen, hätten sie sich gezwungen gesehen, die Leitung der Unternehmen Arbeiterkomitees zu übertragen. „Dies“ – so Guérin – „war der erste Ansatz zur Selbstverwaltung in Italien“.

Während Guérin den Gedanken der Selbstverwaltung durch Räte und die Ableitung dieser Praxis von den russischen Sowjets heraushob, suchte Nettlau (wie auch Rocker) den Schwerpunkt auf den Aspekt der Fabrikbesetzung zu legen. Dann vermochte er zu zeigen, daß hier eine konstante Forderung Malatestas verwirklicht worden sei [74], der ja auch auf dem Amsterdamer Kongreß 1907 gegen die syndikalistische Vision des Generalstreiks eingewandt hatte: „Es geht also nicht so sehr darum, die Arbeiter aufzufordern, die Arbeit einzustellen, als vielmehr darum, daß sie sie zu ihrem eigenen Nutzen fortsetzen.“ [75] Diesen Gedanken des „stay in“ statt des „come out on strike“ habe in den zwanzig Jahren vor dem Krieg der alte anarchistische Schuhmacher James Harragan in London unzählige Male gepredigt – allerdings damals, wie Nettlau zugeben muß, tauben Ohren [76].

Die Ursachen für die unterschiedlichen Akzente bei Guérin und Nettlau sind klar: Die Anarchisten sahen die Gefahr, daß die Übernahme des Rätemodells kommunistischen Diktatur- und Autoritätsgelüsten Vorschub leisten könnte, und in der Tat kam es über diese Frage der Auswertung des Mailänder Experiments zu ernsthaften Differenzen zwischen den italienischen Libertären und Antonio Gramsci – dem Vater der Kommunistischen Partei Italiens. Die einheitliche Front von Kommunisten und Anarcho-Syndikalisten in den „roten Laufgräben“ („trincee rosse“) der Mailänder Fabriken war aber ein Symbol für die kurzfristig mögliche Aktionseinheit der beiden divergierenden linksradikalen Kräfte, an deren Realisierbarkeit ja auch der Anarchist Erich Mühsam während der Münchner Räterepublik geglaubt hatte [77].

Die der Novemberrevolution in Deutschland vorausgehenden „spontanen Streikbewegungen“ der Jahre 1917/18 waren nicht das Werk der Syndikalisten, sondern der sozialistischen Gewerkschaftsopposition selbst. Die „Direkte Aktion“ in Form der unmittelbaren Selbsthilfe der Arbeiter wurde hier bereits angewandt, ohne daß sie durch syndikalistische oder rätekommunistische Konzepte überhöht wurde. Der Antibürokratismus, Antizentralismus und Spontanismus dieser wirtschaftskämpferischen Gewerkschaftsopposition war dann freilich der Nährboden, auf dem sich nach dem Zusammenbruch dezidiert unionistische und syndikalistische Gewerkschaftorganisationen entfalten und größere Anhängermassen rekrutieren konnten. Praktisch-revolutionäre Züge erhielt der deutsche Syndikalismus jedoch erst, nachdem sich nach dem Weltkrieg der Schwerpunkt seiner Anhängerschaft von den Bauberufen (Maurer, Fliesenleger) zu den Berg- und Metallarbeitern verschoben hatte. Ende 1919 besaß die syndikalistische „Freie Arbeiter-Union Deutschlands“ über 100 000 Mitglieder, zu der allein im Ruhrgebiet 28 000 Bergleute und 10 000 Metallarbeiter zählten. Auch die erste und größte nach dem Krieg in Deutschland gebildete syndikalistische Föderation war die der Bergarbeiter.

Diese konnten im Ruhrgebiet bereits auf eine syndikalistische Vorkriegstradition zurückblicken. Denn bei den Bergleuten verband sich das syndikalistische Theorem vom Kampf gegen die Arbeiterbürokratie in den Gewerkschaften und Parteien und die Bejahung der „Direkten Aktion“ mit „einer sehr alten, noch vorliberalen Form bergmännischer Willensbildung und Entscheidungsdelegation“ [78]. Wie stark der Zusammenhang zwischen dem Syndikalismus und diesen „belegschaftsverbundenen Handlungsformen“ [79] auch nach dem Krieg weiterwirkte, wird darin sichtbar, daß sich die erwähnte syndikalistische Föderation der Bergarbeiter unter Benützung der bereits bestehenden Betriebsräte im Schachtorganisationsprinzip und nicht, wie es die reine syndikalistische Lehre vorsah, im Berufsorganisationsprinzip aufbaute [80].

Vom Ersten Weltkrieg an wurde außerdem in der Ruhrarbeiterschaft ein anderes Element wirksam: Eine junge Generation der Industriearbeiterschaft, noch ungeformt durch die traditionellen Arbeiterorganisationen, wurde zum Träger proletarischer Massenaktionen. Die revolutionäre Arbeiterjugend [81] hatte bereits im Weltkrieg den Widerstand gegen den Krieg aufgenommen und sich damit auch in ideologischen Gegensatz zur Mehrheits-Sozialdemokratie gestellt –; sie forderte deshalb ihre organisatorische Selbständigkeit und den Kampf gegen den „Bürokratismus“ der Erwachsenen-Organisation. Dieser „Klassenkampf der Jugend“ gegen die „Alten“ erhielt noch zusätzliches Gewicht durch den Jugendkult der proletarischen Jugendbewegung. Karl Liebknecht hatte sie 1918 als Erretterin des Sozialismus mit den Worten gefeiert: „... sie war die heißeste, reinste Flamme der neuen Revolution; sie wird die glühendste, heiligste, unlöschbare Flamme der neuen Revolution sein, die da kommen muß und wird ...“ Die Arbeiterjugend übernahm in ihren Liedern dieses jugendesoteriologische Pathos: „Wir sind die junge Garde des Proletariats“, „Mit uns zieht die neue Zeit!“ Das Gewaltpotential der Weimarer Arbeiterjugend hatte eine wesentliche Ursache in diesem Bewußtsein, „Avantgarde der Revolution“ zu sein. Dieser Glaube an die Jugend als einem revolutionären Heilsträger führte aber auch zur Ablehnung jeglicher politischen oder organisatorischen Unterordnung unter die Erwachsenenparteien der Sozialdemokratie oder Kommunisten. Nicht umsonst wurde diese Haltung – deren hervorstechendster Vertreter damals Willi Münzenberg war – als „Jugendsyndikalismus“ bezeichnet, denn sie hatte eine natürliche Verwandtschaft mit der bürokratiefeindlichen und antizentralistischen Ideologie des Syndikalismus.

Ferner hat neuerdings Klaus Tenfelde „die Verwandtschaft spontaner belegschaftsverbundener Kampfformen mit syndikalistischen Aktionsmustern“ betont und darauf hingewiesen, daß organisatorisch ungeformtes Handeln von Menschenmassen in der Regel zu syndikalistischen Kampfformen führe [82]. Ganz ähnlich hatte schon vor ihm Manfred Bock herausgearbeitet, daß die ,wilden‘ Streiks der Ruhrarbeiterschaft im und nach dem Kriege zwar dem syndikalistischen Postulat der „Direkten Aktion“ und der Forderung nach spontaner Massenaktion entsprachen, aber doch als „unmittelbare Selbsthilfemaßnahmen“ der Arbeiter verstanden werden müßten [83]. Nur durch die Einbettung der syndikalistischen Bewegung in eine revolutionäre Situation ist es auch zu verstehen, daß die Syndikalisten in den ersten Jahren der Weimarer Republik nicht wie vorher und später eine wirkungslose Sekte in Deutschland waren, sondern kurzfristig zur regionalen Massenbewegung wurden und Ende 1921 ihren Höhepunkt mit 150 000 Mitgliedern erreichten. Denn — so Bock — der damalige proletarische Aktionismus fiel zusammen mit den theoretischen Postulaten der „Direkten Aktion“. So konnte das Programm der Syndikalisten zur theoretischen Begründung und Förderung der in Streik und Aufständen spontan praktizierten Selbsthilfe dienen [84].

Diese „Symbiose“ [85] zwischen aktivistischen Teilen der Arbeiterschaft und dem Syndikalismus zeigte sich insbesondere während der großen Streiks der Ruhrarbeiterschaft 1919 und 1920. Der Einfluß der syndikalistischen Organisation, so berichtete Rudolf Rocker mit Recht, „ging weit über die Zahl ihrer Mitglieder hinaus, besonders im Bergbau und der Schwerindustrie Rheinland- Westfalens, wo sie in den großen Generalstreikbewegungen jener Jahre in vielen Orten eine führende Rolle spielte“ [86]. Bei den lokalen Streiks der Ruhrarbeiter im Dezember 1918 [87] waren die Syndikalisten ebenso beteiligt wie an den beiden großen Generalstreiks vom Februar und April 1919, und sie repräsentierten in Aktionseinheit mit Kommunisten und Unabhängigen Sozialdemokraten den radikalen Flügel der Bewegung [88]. Die Syndikalisten beteiligten sich an den Kämpfen gegen die einrückenden Truppen und an der Absetzung von Vertretern der Bergwerksleitung. Syndikalistische Bergleute artikulierten ihre Absicht, die Zechen zu besetzen, sie alleine zu leiten und die Gewinne unter sich aufzuteilen – gemäß dem Leitspruch „Der Pütt gehört uns.“ [89] Die Niederschlagung des vierwöchigen Bergarbeiter-Generalstreiks vom April 1919 war die Ursache dafür, daß die Bergarbeiter aus den alten gewerkschaftlichen Verbänden austraten und gerade die Syndikalisten in der zweiten Hälfte des Jahres 1919 einen Massenzulauf zu verzeichnen hatten.

Als im Dezember 1919 die syndikalistische „Freie Arbeiter-Union Deutschlands“ gegründet wurde, bekannte sie sich in ihrer von Rocker verfaßten Prinzipienerklärung [90] u. a. zur „Direkten Aktion“ und zum „Generalstreik“, wenn auch die gewaltsamen Praktiken der Zerstörung der Produktionsmittel von den deutschen Wortführern des Syndikalismus nicht aufgenommen wurden [91]. Jeder Ortsverein erhielt die völlige Dispositionsfreiheit über die Ausrufung und die Einstellung des Streiks. Da aber dabei die Vereine – eine Folge des Antizentralismus des Organisationsaufbaus – weitgehend auf ihre eigenen Streikkassen angewiesen waren und zudem ihre Stärke gegenüber den großen Arbeitnehmer- und Unternehmer-Verbänden unerheblich war, kamen selbständige Streikaktionen nicht in Frage; vielmehr mußten sie „ihre Aktivität in den spontanen Massenstreiks und innerhalb der vom Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund beschlossenen Lohnkämpfe  [entfalten]“ [92].

Aber selbst während der Arbeiteraufstände der Jahre 1920 und 1921 im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland wurde eine volle Auswirkung des Prinzips der „Direkten Aktion“ dadurch verhindert, daß Rocker zwar den ökonomischen Generalstreik bejahte, aber vor bewaffneten Aktionen warnte. Und dies nicht nur aufgrund eines idealistischen Pazifismus, sondern – ähnlich wie einst Friedrich Engels – aus praktischen Überlegungen: „Die Zeit der politischen Revolutionen im alten Stile, wo bewaffnete Zivilisten dem Militär entgegentraten, ist bei dem heutigen Stande unserer Kriegstechnik ein für allemal vorüber. Die Überlegenheit in der militärischen Führung und der technischen Ausrüstung wird dem Militär stets den Sieg in die Hand geben“, war Rockers Fazit aus den Januarkämpfen des Jahres 1919 [93]. Deshalb verurteilte die Geschäftsleitung der „Freien Arbeiter-Union Deutschlands“ – sowieso Gegner der linksradikalen Aktionseinheit von Syndikalisten und Kommunisten – die Kämpfe im Ruhrgebiet im März 1920, obwohl gerade in der „Roten Armee“ des Ruhrgebiets im Verhältnis zur jeweiligen Mitgliederzahl die Syndikalisten die bei weitem am stärksten repräsentierte Gewerkschaft waren und noch Augustin Souchy Anfang 1920 die Hoffnung ausgesprochen hatte, die Syndikalisten seien im Ruhrgebiet vielleicht schon so mächtig, daß sie bei einer neuen Revolution dort die revolutionäre Übernahme der Betriebe durch die Produzenten einleiten könnten [94]. Rocker jedoch sah sich durch das Scheitern des Ruhraufstandes von 1920 noch in seiner Überzeugung bestärkt, „daß die bewaffnete Aktion kein geeignetes Mittel zur Niederringung der militärischen Gewalt“ sei [95].

Im Jahr 1923 rief die Geschäftskommission der „Freien Arbeiter-Union“ zum Generalstreik auf – aber dies war in Anbetracht der zusammengeschrumpften Mitgliederzahl nur noch eine hilflose Geste. Das Ziel, das Rocker den deutschen Syndikalisten 1919 gewiesen hatte, die „Eroberung der Werkstätte und Fabrik“ [96], blieb unerreicht.

Rocker hatte den deutschen Syndikalismus nicht als einen politischen Kampfbund konzipiert, sondern im Geiste Gustav Landauers als eine „große Kulturbewegung“, der es auf die „geistige Erkenntnis der Massen“ ankomme [97]. In Wirklichkeit wurde daraus nur eine „aufklärerisch werbende politische Sekte“ [98] Rocker selbst kam im Rückblick zur nüchternen Feststellung, die syndikalistische Bewegung Deutschlands „hat eigentlich nie den praktischen Zweck erfüllt, den wir von ihr erhofft hatten“ – selbst in ihren besten Zeiten habe sie „keine großen selbständigen Aktionen“ unternehmen können [99]. Ihre Hauptleistung sei die Aufklärungsarbeit durch Herausgabe „freiheitlicher Literaturerzeugnisse“ gewesen [100].

Als die revolutionäre Welle der ersten Nachkriegsjahre verebbte, mußten sich deshalb Resignationsphänomene auch hinsichtlich der Chancen für eine erfolgreiche „Direkte Aktion“ einstellen. Ein Indiz für diese Entwicklung ist ein Vorschlag, den 1929 die Internationale – das Organ der syndikalistischen Internationale – zur Debatte stellte, [101]. Der Verfasser U. Rath bittet zunächst um Nachsicht, daß seine Erörterungen „nichts revolutionär Begeisterndes an sich haben“ und „keinen Aufruf enthalten, persönlichen Mut und Opferwilligkeit zu bestätigen“, sondern „an ganz andere geistige Kräfte der Arbeiter appellieren“. Denn Arbeiter heiße in unserer Zeit der Wirtschaftskrisen nicht nur „Kämpfer“ zu sein, sondern auch „Konkursverwalter der bürgerlichen Gesellschaft“ — und dies sei eine „sehr prosaische Angelegenheit“. Hatte bisher der Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus die heroische Aktion gefeiert, mochte diese in Konspiration, Terror, Insurrektion oder revolutionärem Streik bestehen, so schlägt Rath einen neuen Weg „direkter Aktion“ vor: Die Arbeiter sollen, in Weiterführung der Idee der Produktivgenossenschaften, einfach in Konkurs gegangene Fabriken von den Kapitalisten kaufen, um so hier und jetzt ein sozialistisches Experiment zu beginnen. Auf diese Weise könnten die Arbeiter auch „durch Lernen und durch praktische Übung am realen Objekt“ die für die soziale Revolution unerläßlichen wirtschaftlichen Kenntnisse erwerben.

In der redaktionellen Vorbemerkung stellte Helmut Rüdiger fest, die Gedanken Raths, „der als Einzelgänger außerhalb unserer Bewegung steht“, seien „sicher neuartig für die antiautoritäre Bewegung“. Zwar sei ein solcher Betrieb, der noch für den kapitalistischen Markt arbeite, nicht als „sozialistisch“ zu bezeichnen, doch sei Raths Hinweis beherzigenswert, daß ein sozialistischer Aufbau nach einer erfolgreichen Revolution „ohne Wissen um die Betriebe und Produktionszusammenhänge unmöglich“ sei: „Die Arbeiterschaft muß also Betriebserfahrungen haben und gewinnen, muß aufhören, nur Objekt der kapitalistischen Wirtschaft zu sein.“

In einer kritischen Zuschrift [102] wird ironisch zugegeben, Raths Gedanke, „die soziale Revolution, den revolutionären Generalstreik und ähnliche Kampfmittel, die eine bedeutende Aufopferung und Begeisterung breiter Massen verlangen und infolgedessen nur schwer Anklang finden, durch ein System wirtschaftlicher Maßnahmen zu ersetzen, die niemandem ein Opfer zumuten und gewissermaßen auf kaltem Wege zum Sozialismus führen“, habe sicher für viele etwas Bestechendes. Mit revolutionärem Syndikalismus habe aber dieser Weg nichts zu tun, viel dagegen mit sozialdemokratischem Reformismus.

In einer weiteren Stellungnahme [103] wird getadelt, daß Rath den Gesichtspunkt der notwendigerweise gewaltsamen Zerstörung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als Voraussetzung des sozialistischen Aufbaus unterschlage. Rath mache aber deutlich, daß man bisher die „Direkte Aktion“ allzu einseitig als Kampfmittel gegen den Kapitalismus empfohlen, sie jedoch nicht mit „konstruktive(n) Gedanken zum Aufbau des Sozialismus“ in Zusammenhang gebracht habe. Diese Erweiterung des Begriffs „Direkte Aktion“ sei Raths Verdienst.

Interessanterweise verwiesen sowohl Rath wie sein letztgenannter wohlwollender Kritiker zur Begründung ihrer Betonung eines konstruktiven Aufbaus des Sozialismus auf das Erbe von Gustav Landauer und dessen „Verwirklichungssozialismus“. Nimmt man dessen letzten lebenden Vertreter Augustin Souchy, heute der bekannteste deutsche Altanarchist, so zeigt sich eine interessante Bilanz von Helmut Rüdigers Forderung, der Arbeiter müsse aufhören, bloßes Objekt der kapitalistischen Wirtschaft zu sein. Souchy schreibt nämlich 1977 in seinen Erinnerungen: „Die von den Gewerkschaften heute erhobene Forderung nach Mitbestimmung und Selbstbestimmung in den Betrieben war früher Kampfziel der Anarchosyndikalisten.“ [104] So mündet die „Direkte Aktion“ – sowohl in der Form der gewaltsamen (Fabrikbesetzung) wie gewaltlosen (Fabrikkauf) Inbesitznahme der Betriebe – in wirtschaftsdemokratische Modelle der Arbeiter-Mit- oder Selbstverwaltung. Parallel dazu wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch die führenden deutschen Syndikalisten der Kult der gewaltsamen Revolution entmythologisiert [105]. Der Durchbruch zu einem „pragmatischen Anarchismus“ kam dann freilich doch nicht in Deutschland, sondern in den angelsächsischen Ländern [106]

Fußnoten:
[1] Zur Begriffsgeschichte: W. Laqueur, Terrorismus, Kronberg/Ts. 1977, S. 47.
[2] M. Nettlau, Die revolutionären Aktionen des italienischen Proletariats und die Rolle Errico Malatestas, Reprint Berlin 1973, S. 66 f.
[3] E. Oberländer (Hrsg.), Der Anarchismus (= Dokumente der Weltrevolution Bd. 4), Olten und Freiburg im Breisgau 1972, S. 231 f.
[4] A. R. Carlson, Anarchism in Germany: The Early Movement, Diss. Michigan State University 1970, S. 367.
[5] R. Broggini, Anarchie und Befreiungsbewegungen um 1870 in der Gegend von Locarno, in: H. Szeemann (Hrsg.), Monte Verità, Mailand 1978; dazu H. Bienek, Bakunin, eine Invention, München 1970, S. 46 f.
[6] Nettlau, Malatesta, S. 53.
[7] J. Joll, Die Anarchisten, Berlin 1966, S. 127.
[8] Nettlau, Malatesta, S. 64 ff.
[9] G. Woodcock, Anarchism, London 1962, S. 345 f.
[10] Vgl. etwa die offiziöse Schrift: „Sozialismus und Anarchismus in Europa und Nordamerika während der Jahre 1883 bis 1886“, Berlin 1887 (Reprint 1974).
[11] Joll, S. 134.
[12] Nettlau, Malatesta, S. 67.
[13] Ebd., S. 91 f.
[14] P. Lösche, Anarchismus, Darmstadt 1977, S. 31 f.
[15] H. Kreuzer, Die Bohème, Stuttgart 1968, S. 309.
[16] Bsp. bei Kreuzer, S. 307 ff.; Woodcock, S. 285 ff.
[17] E. Mühsam, Ascona, Locarno 1905; ders. Terror, in: Polis 1 (10) v. 1.9. 1907, S. 160–162.
[18] G. Landauer, Der Anarchismus in Deutschland, in: Die Zukunft 10 (1895), jetzt in: ders., Erkenntnis und Befreiung, Frankfurt/Main 1976, S. 13.
[19] U. Linse, Organisierter Anarchismus im Deutschen Kaiserreich von 1871, Berlin 1969, S. 378 f.
[20] J. Maitron, Die Ära der Attentate, in: W. Laqueur (Hrsg.), Zeugnisse politischer Gewalt. Dokumente zur Geschichte des Terrorismus, Kronberg/Ts. 1978, S. 79–82.
[21] Carlson, S. 249 f.
[22] Linse, Organisierter Anarchismus, S. 162, und G. Botz u. a., Im Schatten der Arbeiterbewegung. Zur Geschichte des Anarchismus in Österreich und Deutschland, Wien 1977, S. 47.
[23] U. Linse, Anarcho-syndikalistische Landarbeiteragitation in Deutschland (1910— 1933): Uber die soziale Kluft zwischen Stadt- und Landproletariat, in: St. Blankertz (Hrsg.), Auf dem Misthaufen der Geschichte, Nr. 1, Münster-Wetzlar 1978.
[24] R. Rocker, Johann Most, Das Leben eines Rebellen, Berlin 1924, S. 14.
[25] Carlson, S. 428 und 455.
[26] Le Fédéralisme-Anarchiste dans l’Allemagne du Sud, in: Le Révolté. Organe socialiste, 2. Jg. (1880), Nr. 7.
[27] M. Nettlau, Anarchisten und Sozialrevolutionäre der Jahre 1880–1886, Berlin 1931, S. 146.
[28] Ebd.,S. 163.
[29] Diese Aussage über August Reinsdorfs Handeln findet sich bei J. Peukert, Erinnerungen eines Proletariers aus der revolutionären Arbeiterbewegung, Berlin 1913, S. 201.
[30] E. Müller, Bericht über die Untersuchungen betreffend die anarchistischen Umtriebe in der Schweiz an den hohen Bundesrath der schweizerischen Eidgenossenschaft, Bern 1885, S. 176.
[31] J. Langhard, Die anarchistische Bewegung in der Schweiz von ihren Anfängen bis zur Gegenwart und die internationalen Führer, Berlin 1908, S. 258.
[32] Botz u. a., S. 32 f.
[33] Rocker, Most, S. 189.
[34] Ebd., S. 189 Anm.
[35] Siehe auch: H. Karasek, Amerika oder die deutschen Gastarbeiter greifen zur Bombe, in: ders., Propaganda und Tat, Drei Abhandlungen über den militanten Anarchismus unter dem Sozialistengesetz, Frankfurt/Main o. J.
[36] Botz u. a., S. 169 f.
[37] U. Linse, Die Anarchisten und die Münchner Novemberrevolution, in: K. Bosl (Hrsg.), Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München und Wien 1969, S. 37–73; Linse (Hrsg.), Gustav Landauer und die Revolutionszeit 1918/19, Berlin 1974; E. Lunn, Prophet of Community. The Romantic Socialism of Gustav Landauer, Berkeley u. a. 1973, S. 291 ff.
[38] H. G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners „Einziger“ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik, Köln 1966, S. 295 ff.
[39] Zit. in der Fassung des II. Kongresses der Internationalen Arbeiter-Assoziation, Amsterdam März 1925, nach: Die Internationale, Organ der Internationalen Arbeiter-Assoziation, 2. Jg. Nr. 5 v. Juni 1925, S. 55.
[40] M. Nettlau, Fernand Pelloutiers Platz in der Entwicklung des Syndikalismus, in: Die Internationale, Zeitschrift für die revolutionäre Arbeiterbewegung, Gesellschaftskritik und sozialistischen Neuaufbau, 1. Jg. Nr. 4 v. Februar 1928, S. 22.
[41] Zum folg, ebd., S. 22 f.
[42] Oberländer, S. 332.
[43] R. Rocker, Streik und Boykott, in: Die Internationale (wie Anm. 40), 3. Jg. Nr. 1 v. November 1929.
[44] Woodcock, S. 256.
[45] Ebd., S. 302.
[46] A. Roller, Die direkte Aktion (Nachdruck Bremen o. J.).
[47] D. Guérin, Anarchismus, Frankfurt/Main 1967, S. 69. 49 Oberländer, S. 316 und 321.
[49] R. Rocker, Aus den Memoiren eines deutschen Anarchisten, Frankfurt/Main 1974, S. 106.
[50] Oberländer, S. 333.
[51] Roller, Die direkte Aktion.
[51] Roller, Die direkte Aktion.
[52] Joll, S. 220.
[53] Woodcock, S. 109; 269 und 299; M. Nettlau, Michael Bakunin und der Syndikalismus, in: Die Internationale (wie Anm. 37), 1. Jg. Nr. 8 v. Juni 1928.
[54] Oberländer, S. 339 f.; dazu Nettlau, Malatesta, S. 127 f.
[55] Nettlau, Malatesta, S. 107.
[56] Joll, S. 225.
[57] Nettlau, Malatesta, S. 135–137.
[58] Wie Anm. 39.
[59] Oberländer, S. 342.
[60] Nettlau, Malatesta, S. 128.
[61] Joll, S. 220 f.
[62] Roller.
[63] F. Brupbacher, 60 Jahre Ketzer. Selbstbiographie, Nachdruck Zürich 1973, S. 107; siehe auch zum Vergleich der französischen mit der deutschen Gewerkschaftbewegung S. 119.
[64] Brupbacber, S. 107, Anm.
[65] Oberländer, S. 332.
[66] Brupbacher, S. 118.
[67] W. Röhrich, Revolutionärer Syndikalismus, Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der Arbeiterbewegung, Darmstadt 1977, S. 16 f.
[68] F. Tennstedt, Sozialismus, Lebensreform und Krankenkassenbewegung. Friedrich Landmann und Raphael Friedeberg als Ratgeber der Krankenkassen, in: Soziale Sicherheit, 26. Jg. (1977), S. 306 ff. und 332 ff.; H. M. Bock und F. Tennstedt, R. Friedeberg: Arzt und Anarchist in Ascona, in: Szeemann (Hrsg.), Monte Verita.
[69] Linse, Organsierter Anarchismus, S. 56.
[70] Oberländer, S. 344 f.
[71] Brupbacher, S. 243.
[72] Rocker, Memoiren, S. 349.
[73] Guérin, S. 94 f.
[74] Malatesta 1889 – Malatesta 1920: siehe Nettlau, Malatesta, S. 98 und 156, 160.
[75] Oberländer, S. 340 f.
[76] Nettlau, Malatesta, S. 163 f. Anm.
[77] E. Mühsam, Von Eisner bis Leviné. Die Entstehung der bayerischen Räterepublik, Berlin 1929; H. Hug, Erich Mühsam. Untersuchungen zu Leben und Werk, Glashütten im Taunus 1974, S. 42 ff. und 179 ff.
[78] K. Tenfelde, Linksradikale Strömungen in der Bergarbeiterschaft an der Ruhr 1905 bis 1919, in: H. Mommsen und U. Borsdorf (Hrsg.), Glück auf, Kameraden! Die Bergarbeiter und ihre Organisationen in Deutschland, Köln 1979, S. 223.
[79] Ebd., S. 203.
[80] H. M. Bock, Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918–1923, Meisenheim am Glan 1969, S. 134 u. 138.
[81] Zum folgenden: U. Linse, Lebensformen der bürgerlichen und der proletarischen Jugendbewegung. Die Aufbrüche der Jugend und die Krise der Erwachsenenwelt, in: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung, Bd. 10, Burg Ludwigstein 1978, S. 24–55; ders., Die anarchistische und anarcho-syndikalistische Jugendbewegung 1919— 1933 (= Quellen und Beiträge zur Geschichte der Jugendbewegung, Bd. 18), Frankfurt a. M. 1976; ders., (Hrsg.), Ernst Friedrich zum 10. Todestag (= europäische ideen, Heft 29), Berlin 1977.
[82] Tenfelde, S. 221.
[83] Bock, S. 82.
[84] Ebd.,S. 118.
[85] Ebd.,S. 120.
[86] Rocker, Memoiren, S. 300.
[87] Bock, S. 119.
[88] P. von Oertzen, Die großen Streiks der Ruhrbergarbeiterschaft im Frühjahr 1919, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 6. Jg. (1958), S. 243–245; Bock, S. 120 f.
[89] Oertzen, S. 255 mit Anm. 101.
[90] Abgedruckt u. a. bei Bock, S. 363 ff.
[91] Ebd., S. 164, Anm. 52.
[92] Ebd., S. 164 f.
[93] Keine Kriegswaffen mehr! Rede des Genossen Rocker (Berlin), gehalten auf der Reichs-Konferenz der Rüstungsarbeiter Deutschlands, abgehalten vom 18. bis 22. März 1919 in Erfurt, Erfurt o. J. (1919), S. 11 f.
[94] Bock, S. 292.
[95] In: Der Syndikalist, 2. Jg. (1920), Nr. 16, zit. nach Bock, S. 292 f.
[96] Keine Kriegswaffen mehr! S. 5.
[97] Ebd.,S. 12.
[98] Bock, S. 169.
[99] R. Rocker, Zur Betrachtung der Lage in Deutschland, Die Möglichkeiten einer freiheitlichen Bewegung, New York-London-Stockholm 1947, S. 10.
[100] Rocker, Memoiren, S. 303.
[101] U. Rath, Direkte Aktion? In: Die Internationale (wie Anm. 40), 2. Jg. Nr. 10 v. August 1929, S. 14–20.
[102] H. W. Gerhard, Direkte Aktion? Zu dem Artikel von U. Rath, ebd., 2. Jg. Nr. 11 v. September 1929, S. 7–9.
[103] H. Beckmann, Die Übernahme der Produktionsmittel durch die Arbeiter, ebd., 2. Jg. Nr. 11 v. September 1929, S. 10–12 und Nr. 12 v. Oktober 1929, S. 16–18.
[104] A. Souchy, „Vorsicht: Anarchist!“ Ein Leben für die Freiheit. Politische Erinnerungen, Darmstadt-Neuwied 1977, S. 261.
[105] R. Rocker, Revolutionsmythologie und revolutionäre Wirklichkeit, in: Die freie Gesellschaft, Monatsschrift für Gesellschaftskritik und freiheitlichen Sozialismus, 4. Jg. Nr. 36/37 v. November 1952; Souchy, Erinnerungen, S. 259 ff.
[106] Dazu Lösche, S. 148: „Das alte anarchistische Schlagwort von der Propaganda der Tat erhält bei den pragmatischen Anarchisten einen neuen Sinn, wird zur Propaganda durch die Tat: Dazu gehören sowohl alle Formen des zivilen Ungehorsams als auch das beispielhafte kommunitäre Vorleben. Entsprechend wird die „direkte Aktion“ begriffen als ,politische Theorie und Praxis, die die aktive Teilnahme der übergroßen Mehrzahl an allen politischen Entscheidungen anstrebt‘ ...“, also im Sinne eines direkt-plesbizitären Demokratieverständnisses. – Über den englischen Anarchismus informiert: J. Quail, The Slow Burning Fuse: The Lost History of the British Anarchists, London 1978. – Zum deutschen Anarchismus nach 1945: G. Bartsch: Anarchismus in Deutschland, Bd. 1: 1945–1965, Hannover 1972, Bd. 2: 1965–1973, Hannover 1973. Hinweis: Folgende, erst nach Abschluß dieses Aufsatzes veröffentlichten Werke konnten nicht mehr berücksichtigt werden: J. Wagner, Politischer Terrorismus und Strafrecht im Deutschen Kaiserreich von 1871, Hamburg 1981; P. Theissen, P. Walter und J. Wilhelms, Anarcho-Syndikalistischer Widerstand an Rhein und Ruhr, Meppen 1980.

Quelle: „Propaganda der Tat“ und „Direkte Aktion“. Zwei Formen anarchistischer Gewaltanwendung von U. Linse, Texte zur Theorie und Praxis des Anarchismus und Syndikalismus Band 6. Zuvor erschienen in: Sozialprotest, Gewalt, Terror: Gewaltanwendung durch politische und gesellschaftliche Randgruppen im 19. und 20. Jahrhundert / Wolfgang J. Mommsen ; Gerhard Hirschfeld . Stuttgart: Klett-Cotta, 1982. S. 237–269

Originaltext: http://anarchistischebibliothek.org/library/ulrich-linse-propaganda-der-tat-und-direkte-aktion