Georg Engel - Rede vor Gericht

51 Jahre alt, Anstreichergeselle

Als ich im Jahre 1872 Deutschland verließ, weil es mir daselbst nicht möglich war, ein menschenwürdiges Dasein mit meiner Hände Arbeit zu erringen, da die Einführung der Maschinen das Kleinhandwerk ruiniert hatte und die Aussicht auf die Zukunft einem Kleinhandwerker sehr trübe erscheinen mußte — beschloß ich, mit meiner Familie nach Amerika auszuwandern, das mir von so vielen als das Land der Freiheit gepriesen worden war. Bei meiner Landung in Philadelphia, am 8. Januar 1873, jauchzte mein Herz vor Freude, in der Hoffnung und dem Glauben, in Zukunft in einem freien Lande, unter freien Männern leben zu können. Ich nahm mir vor, ein guter Bürger dieses Landes zu werden, und gratulierte mir dazu, Deutschland verlassen zu haben und in einer Republik gelandet zu sein.

Ich glaube, meine Vergangenheit legt Zeugnis dafür ab, daß ich bestrebt war, ein guter Bürger dieses Landes zu sein. Dies ist das erste Mal, daß ich vor einem amerikanischen Gerichtshof stehe, und zwar bin ich des Mordes angeklagt. Und aus welchen Gründen stehe ich hier, bin ich des Mordes angeklagt? Es sind dieselben Gründe, die mich veranlaßten, von Deutschland fortzugehen — die Not, das Elend des arbeitenden Volkes!

Auch hier, in dieser «freien Republik», in dem reichsten Lande der Welt, gibt es zahlreiche Proletarier, für die kein Tisch gedeckt ist, die, als Ausgestoßene der Gesellschaft, freudlos durchs Leben irren. Ich habe Menschen gesehen, die ihr tägliches Brot den Straßenabfällen entnahmen, um damit ihren Heißhunger zu stillen. Ich las Vorkommnisse in den Tageszeitungen, welche mir bewiesen, daß auch hier in diesem großen, «freien Lande» die Menschen dazu verdammt sind, Hungers zu sterben. Ich habe gezeigt, was mich dazu trieb, die soziale Frage zu studieren, Sozialist zu werden.

Um mir weitere Aufklärung zu verschaffen, kaufte ich mit dem von mir und meiner Familie verdienten Gelde sozialwissenschaftliche Werke, darunter die von Lassalle, Marx und Henry George. Nach dem Studium dieser Werke wurde es mir klar, warum ein Arbeiter in diesem reichen Lande nicht zu existieren vermochte. Ich begann nun, über die Mittel der Abhilfe nachzudenken. Ich verfiel auf den Stimmkasten. Es war mir oft gesagt worden, daß dies das Mittel sei für den Arbeiter, um seine Lage zu verbessern. Ich nahm an der Politik teil, mit dem vollen Ernste eines guten Bürgers. Aber gar bald fand ich heraus, daß die Lehre vom «freien Stimmkasten» ein Märchen, daß ich wiederum betrogen war.

Ich kam zu der Ansicht, daß der Arbeiter, solange er ökonomisch unfrei, auch politisch nicht frei zu sein vermag. Es wurde mir klar, daß es dem Arbeiter durch den Stimmkasten nie gelingen würde, solche gesellschaftlichen Zustände zu schaffen, die ihm und den Seinen Arbeit, Brot und ein glückliches Dasein garantieren. Ehe ich meinen Glauben an den Stimmkasten verlor, ereignete sich folgender Vorfall, der mir bewies, daß die Politik durch und durch korrupt ist.

Als in der 14. Ward, in welcher ich wohnte und das Recht zum Stimmen besaß, die sozialdemokratische Partei so wuchs, daß sie für die demokratische und republikanische Partei gefährlich zu werden drohte, vereinigten sich diese beiden Parteien sofort, um gegen die Sozialdemokraten Stellung zu nehmen. Dies war auch ganz natürlich, haben doch beide die gleichen Interessen. Und als trotzdem die Sozialdemokraten siegreich waren und ihren Kandidaten durchbrachten, da wurden sie durch die korruptesten Mittel seitens der alten Parteien um die Früchte ihres Sieges betrogen. Die Stimmkästen wurden gestohlen und das Votum so «korrigiert», daß es der Opposition möglich wurde, ihre Kandidaten als gewählt zu proklamieren. Die Arbeiter versuchten dann mit Hilfe der Gerichte Gerechtigkeit zu erlangen; aber es war alles umsonst. Der Prozeß kam sie auf eintausendfünfhundert Dollar zu stehen; aber ihr gutes Recht bekamen sie doch nicht.

Wer heute für die Arbeiter spricht, muß hängen. Warum? Weil diese Republik nicht von Leuten geleitet wird, die durch ehrliche Wahl ihr Amt erlangen. Wer sind die Leiter in Washington, welche die Interessen dieser Nation wahren sollen? Sind sie durch das Volk erwählt oder durch ihr Geld? Sie haben kein Recht, uns Gesetze vorzuschreiben, weil das Volk sie nicht erwählt hat. Das ist der Grund, weshalb ich die Achtung vor den amerikanischen Gesetzen verloren habe.

Der Umstand, daß durch die verbesserte Maschinerie so viele Arbeiter beschäftigungslos sind und kaum die halbe Zeit Arbeit haben, bringt sie zum Nachdenken. Sie haben Zeit dazu und sinnen darüber nach, wie diese Zustände geändert werden können. Es fallen ihnen die Schriften, die in ihrem Interesse geschrieben sind, in die Hand, und wenn ihre Schulkenntnisse auch nur mangelhaft sind, finden sie doch bald die Wahrheiten, die in diesen Schriften enthalten sind, heraus.

Das ist allerdings nicht angenehm für die kapitalistische Klasse; aber sie kann es nicht verhindern. Und es ist meine feste Überzeugung, daß in nicht allzulanger Zeit die große Masse der Proletarier begriffen haben wird, daß nur der Sozialismus sie von ihren Ketten befreien kann. Worin besteht mein Verbrechen? Daß ich dafür gearbeitet habe, eine Gesellschaftsform herbeizuführen, in welcher es keinem einzelnen gestattet sein soll, aus den Fortschritten der Technik Millionen zu ziehen, während die große Masse verelendet. So gut wie Luft und Wasser Gemeineigentum sind, sollten auch die Erfindungen der Wissenschaftler zum Besten aller angewendet werden.

Die Gesetze, die wir haben, widerstreben den Naturgesetzen, da sie einer großen Masse Menschen das Recht zum Leben absprechen. Ich bin zu sehr Gefühlsmensch, als daß ich solche Zustände, wie sie heute existieren, nicht bekämpfen sollte. jeder einsichtige Mensch muß ein System bekämpfen, welches es einem einzelnen Individuum möglich macht, in wenigen jahren Hunderte von Millionen Dollar zusammenzuraffen, während auf der anderen Seite Tausende zu Bettlern werden.

Ist es da zu verwundern, wenn unter solchen Umständen Männer erstehen, die versuchen, Zustände zu schaffen, unter welchen die Menschlichkeit als erster Grundsatz gilt! Und das will der Sozialismus, zu dem ich mich freudig bekenne.

Kann man Achtung vor einer Regierung haben, welche nur der privilegierten Klasse Rechte einräumt, und den Arbeitern keine? Wir haben erst kürzlich gesehen, daß die Kohlenbarone zusammenkamen und eine Verschwörung bildeten, um den Preis der Kohlen zu erhöhen, während sie ihren Arbeitern den ohnehin schon kärglichen Lohn noch mehr herabsetzten. Klagt man sie deswegen der Verschwörung an? Wagen es aber ihre Arbeiter, eine Aufbesserung ihrer Löhne zu verlangen, dann schickt man die Miliz und die Polizei aus und läßt sie zusammenschießen. Vor einer solchen Regierung habe ich keine Achtung und bekämpfe sie, trotz ihrer Spione!

Ich hasse und bekämpfe nicht den einzelnen Kapitalisten, sondern das System, welches diesen Kapitalisten so privilegiert. Mein größter Wunsch ist, daß die Arbeiter erkennen mögen, wer ihre Freunde und wer ihre Feinde sind.

Über meine Verurteilung, die durch kapitalistische Beeinflussung herbeigeführt wurde, habe ich kein Wort zu sagen.

Aus: Der Justizmord von Chicago. Zürich 1912. Abdruck nach Deutsches Vermächtnis. Anthologie eines Jahrhunderts. Hrsg. Bruno Kaiser. Berlin/DDR: Vlg. Volk und Welt 1953, S. 58-61

Originaltext: Emmerich, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland. Band 1. Anfänge bis 1914, rowohlt 1974. Digitalisiert von www.anarchismus.at