Die libertäre Radikalität eines Verfemten: Albert Camus

Interview mit Lou Marin

Philippe Kellermann: Soeben – und passend zum 100.Geburtstag von Albert Camus – ist nun dein, ursprünglich 2008 auf französisch erschienenes Buch Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960) veröffentlicht worden. Worin besteht der Reiz einer Auseinandersetzung mit einem Schriftsteller, dessen Botschaft in den 1950er Jahren, des marxistischen Theologen Ton Veerkamp zufolge war: „eine große Epoche ist unwiderruflich vorbei, die Erzählungen werden klein, essen und trinken, das gute Leben mit der geliebten Frau, politische Vorsicht“. „Deswegen: lass es gut sein.“

Lou Marin: Der Reiz der Auseinandersetzung mit Camus anlässlich seines 100. Geburtstages besteht meiner Meinung nach in Camus’ Radikalität. Diese Radikalität bezeugen die Beiträge und Diskussionen von Camus mit den meisten prägenden AnarchistInnen des französischen und spanischen Anarchismus der Vierziger- und Fünfzigerjahre sowie seine durchgängige Unterstützung des algerischen Unabhängigkeitskämpfers Messali Hadj und seiner Bewegung der „Messalisten“, die eine weniger gewaltsame, weniger autoritäre, pluralistischere und stärker konföderalistische Konzeption eines unabhängigen Algeriens vertraten als die FLN (Front de Libération nationale), welche im linken Bewusstsein des deutschen Sprachraums leider ganz falsch noch immer als einzige und tatsächliche Einheitsfront des algerischen Antikolonialismus wahrgenommen wird. Die Aktualität dieser Radikalität Camus’ findet sich heute auf den transnational-symbolhaften Plätzen der Revolte, auf den Plätzen Taksim und Tahrir und wie sie alle heißen, wo jugendliche Aufständische Camus’ Buch Der Mensch in der Revolte als praktische Reflexion des strategischen Ortes sowie der möglichen Abirrungen und Grenzüberschreitungen ihrer eigenen Revolte lesen.

Demgegenüber bezeugt der zweite Teil der Frage die Unkenntnis und unglaubliche Ignoranz gegenüber dieser Radikalität. Der marxistische Theologe Veerkamp, den ich nicht kenne, scheint mir nicht nur in die jüngste Reihe einer langen Tradition der in Frankreich sogenannten „Détracteurs“ (Verleumder) Camus’ zu gehören, sondern sein Urteil erscheint mir vor dem Hintergrund dieser beschriebenen Radikalität als geradezu grotesk.


Philippe Kellermann: Könntest du das näher erläutern?

Lou Marin: Es gehört zu den traurigen Kapiteln der Rezeptionsgeschichte dieses Schriftstellers, dass eine kontinuierliche negative Rezeptionslinie seit dem Streit Camus’ mit Sartre ein Eigenleben führt, das sich durch nichts, schon gar nicht durch Kenntnis, Selbstkritik angesichts ganz offensichtlich falscher historischer Urteile Sartres (etwa dem Staatssozialismus gegenüber oder auch gegenüber einer über fünfzigjährigen, zentralstaatlichen Diktatur im unabhängigen Algerien) oder auch nur durch eine Neubefragung angesichts des peu à peu veröffentlichten journalistischen Werks Camus’, vor allem im libertär-sozialistischen Milieu, beirren lässt. Die dabei offen zu Tage tretende Borniertheit ist für mich das dabei eigentlich erklärungsbedürftige Phänomen.


Philippe Kellermann: Zeigt sich diese „Borniertheit“ lediglich in marxistischen Kreisen?

Lou Marin: Diese Ignoranz der Détracteurs zeigt sich spiegelbildlich auf bürgerlicher wie auf autoritär-marxistischer Seite. Camus, der sich durch seine politische Verortung im libertären, föderalistisch-antikolonialistischen Milieu, im Milieu der Kriegsdienstverweigerer einer „dritten Strömung“ jenseits der Bipolarität oder der Dichotomie oder des Manichäismus oder der Dialektik des Kalten Krieges positionierte, wird seit den Fünfzigerjahren und seinem Bruch mit Sartre von beiden Seiten, der bürgerlich-kapitalistischen wie der autoritär-marxistischen, immer wieder in diesen Manichäismus zurückgedrängt, dem er doch in Wirklichkeit immer entfliehen wollte. „Spiegel“-Literaturchef Volker Hage bewies das jüngst mit seinem Artikel „Gassenjunge gegen Musterschüler“, dessen manichäische Dummheit dem Verdikt Veerkamps in nichts nachsteht, wenn er den Konflikt Sartre-Camus wie folgt beschreibt: „Kurzum: Kommunismus oder Demokratie? Gulag und Schauprozesse oder Freiheit?“

Der bürgerliche Intellektuelle tilgt die libertär-sozialistische, dritte Position Camus’ bei gleichzeitiger Reproduktion des bürgerlichen Imaginationsgehalts vereinnahmter Begriffe: Demokratie und Freiheit wird genannt, was in Wahrheit westlicher, ausbeuterischer Industriekapitalismus ist (ganz egal, ob nun parlamentarisch wie in Westeuropa, autoritär wie in Ungarn, Weißrussland und Russland oder diktatorisch wie in China), für den Camus nur das Verdikt: „Eigentum ist Mord!“ übrig hatte. Dass die anarchistische Gesellschaftsvision Basis- oder Direktdemokratie sowie einen sozialistischen Freiheitsbegriff, den des „socialisme libertaire“ (so der von Camus immer wieder verwendete Begriff) transportiert, wird kategorisch ignoriert, negiert – und das seit Jahrzehnten.

Der autoritäre Marxismus reagiert hierzu aber nur spiegelbildlich und bestätigt daher den manichäischen Kern dieses armseligen, zweipoligen Epochedenkens. Dem konnten auch die ehemals autoritär-marxistischen oder maoistischen „Nouvelles Philosophes“ von André Glucksmann über Bernard-Henri Lévy bis zu François Furet nicht entkommen, die Camus über Jahrzehnte hinweg denunziert hatten, um ihn dann in deren mea culpa, deren Selbstkritik nach dem Fall der Mauer in den Neunzigerjahren, noch einmal – wie schon damals in ihrer Kritik – ins westlich-kapitalistische Lager zu schieben, nur diesmal mit der Intention einer Affirmation des angeblich demokratischen Antikommunismus Camus’. Ich würde hier gern von theoretischem Doppelmord sprechen – und dass jemand wie Glucksmann als Wahlkampfhelfer eines Sarkozy enden musste, welcher 2007 als Wahlkampfslogan ausgab: „Pour en finir avec les idées de 68“ („Mit den 68er-Ideen Schluss machen“), ist da nur konsequent, so unsagbar peinlich das in Wirklichkeit auch immer sein mag.

Das gewollte Missverstehen liegt darin, den Konflikt Sartre-Camus als gesamtgesellschaftlichen Konflikt zwischen gesellschaftlicher Linker und gesellschaftlicher Rechter zu deuten. Wie aber schon der Konflikt Marx-Bakunin im 19. Jahrhundert ein innerlinker Konflikt war (und ganz außerhalb der Rechten stattfand), so war auch der Konflikt Sartre-Camus im 20. Jahrhundert ein innerlinker Konflikt – meiner Ansicht nach übrigens die adäquate Fortsetzung des Konflikts Marx-Bakunin auf zeitgenössischer Ebene: autoritärer Sozialismus gegen libertären Sozialismus.


Philippe Kellermann: Du erwähntest Camus’ Haltung zur Algerienfrage. In diesem Kontext wurde Camus ja oftmals eine, dem französischen Kolonialismus unkritisch gegenüberstehende Haltung attestiert. Wie siehst du diesen Vorwurf?

Lou Marin: Einer der wichtigsten Détracteur Camus’ der jüngeren, linken Intellektuellentradition ist Edward William Saïd: In einem Kapitel seines Buches Kultur und Imperialismus stellt der von mir im Grunde geschätzte Autor von Orientalismus aus dem Jahre 1978, Camus als personelle Inkarnation eines westlich-kolonialen Kulturimperialismus hin. Beeinflusst wurde er dabei durch seine Sartre/Fanon-Rezeption und eine völlig fehlende Analyse der reziproken Aufeinanderbezogenheit von kolonialer und anti-kolonialer Gewalt (im Gegensatz dazu etwa Ashis Nandy: Der Intimfeind). Auch hier spielen Oberflächlichkeit der Rezeption des literarischen Werks Camus’, kursorisches Wahrnehmen des Gesamtwerks, die bewusste oder unbewusste Ignoranz der journalistischen Arbeiten Camus’ sowie die Unkenntnis von dessen Solidarität mit den Besiegten der Geschichte, den algerischen MessalistInnen, eine maßgebliche Rolle – gestützt natürlich auf das grenzenlose Vertrauen, dass der Sartre-Kritik an Camus im Vorwort von Fanons Die Verdammten dieser Erde entgegengebracht wird. So formt sich über Jahrzehnte hinweg ein geschlossenes Bild gegen Camus. Daher kennt Saïd beispielsweise folgende Zeilen Camus’ nicht nur nicht, er ist schon so konditioniert, dass er sie gar nicht kennen kann, sie liegen völlig außerhalb seines Bewusstseinshorizonts. Camus: „Auf politischer Ebene möchte ich außerdem daran erinnern, dass das arabische Volk existiert. Ich möchte damit sagen, dass es nicht diese anonyme und elende Menge ist, in welcher der Okzidentale (oder Westler; Lou Marin) weder etwas Respektierenswertes noch etwas Verteidigenswertes erkennt. Es handelt sich, im Gegensatz dazu, um ein Volk mit großen Traditionen, deren Tugenden zu den Vornehmsten gehören – und das ist noch das Wenigste, das man bei einer Annäherung ohne Vorurteile dazu sagen kann. (...) Zu viele Franzosen, in Algerien oder anderswo, stellen sich die Araber beispielsweise als amorphe Masse vor, die nichts interessiert.“

Dies stand in der Tageszeitung Combat vom 13.-14. Mai 1945 in einer Serie von acht (!) aufeinanderfolgenden Artikeln Camus’ aus Protest gegen die französische Repression der Aufstände von Sétif und Guelma im Mai 1945. Camus war damals der einzige französische Journalist überhaupt, der die lang anhaltende und brutale Repression der französischen Kolonialtruppen verurteilte, und zwar mehrfach. Am 10. 5. 1947 anlässlich der anhaltenden Folter in Algerien schrieb Camus, ebenfalls in Combat: „Wir tun hier genau das, was wir den Deutschen vorgeworfen haben“, während der Résistance, versteht sich.

Der französische Camus-Forscher Bernard Mouralis zu Saïds Methode in dieser Hinsicht: „Vor allem damit beschäftigt, aus Camus einen Anhänger des französischen Algerien zu machen, verschweigt Saïd die acht Artikel in Combat (...). Dieses Verschweigen ist umso merkwürdiger, als die Ereignisse selbst von Saïd beschrieben werden, aber Camus dargestellt wird, als hätte er sie gar nicht bemerkt!“

Saïd wirft Camus stattdessen vor, identitär den Kampf der Algerienfranzosen/französinnen unterstützt zu haben, ohne zu erwähnen, dass er im Januar 1956 in Algier für seine kolonialkriegsgegnerische Position von den damals mehrheitlich in der algerienfranzösischen Gesellschaft dominierenden Ultra-Kolonialisten fast gelyncht worden wäre: „Tod für Camus, Tod für Camus“, hatten sie gerufen. Saïd setzt Camus’ Position ganz falsch mit der des damaligen französischen Innenministers François Mitterand gleich, welcher der juristischen Legitimation der Folter damals den Weg ebnete und zig Todesurteile gegen algerische Attentäter unterzeichnete – während Camus gleichzeitig seine Kampagne gegen die Todesstrafe entfachte und insgesamt rund 150 Einwendungen gegen algerische Verurteilte und sogar erwiesene Attentäter, die Algerienfranzosen ermordet hatten, vorbrachte – sogar auch dann, als er gleichzeitig diese Form antikolonialer Gewalt politisch kritisierte. Mouralis kommt in seiner Entgegnung auf die Camus-Kritik Saïds daher zum Schluss: „Saïd vergisst in der Tat, daran zu erinnern, dass Camus ein antikolonialistischer Schriftsteller war“  – nein, das herauszuarbeiten war nun wirklich nicht Saïds Absicht.

Während Saïd Camus also als den prototypischen westlichen Orientalisten, den Imperialisten, den Eurozentristen und daher kolonialistischen Schriftsteller geißeln will, geißelt Camus seinerseits selbst eine okzidentale Gesellschaft, welche die arabische Kultur ignoriert und positioniert sich politisch in Wahrheit eindeutig gegen den kolonialen Orientalismus.


Philippe Kellermann: Wie aber siehst du den Vorwurf Veerkamps, dass sich Camus von den „großen Erzählungen“ verabschiedet hätte?

Lou Marin: Es mag sein, dass Camus’ Werk, seine Romane und Der Mensch in der Revolte nicht dem entspricht, was Veerkamp selbst unter „großer Erzählung“ versteht – dem wohl gar nicht entsprechen kann. Doch Camus’ Werk gehört meines Erachtens zu dem, was man im 20. Jahrhundert in politischen Diskussionen einen „großen Wurf“ genannt hat – das heißt nichts weniger als eine große zeitgenössische und in ihrer Kritik die letzten zweihundert Jahre bis zurück zur französischen Revolution umfassende Gesellschaftsanalyse und -theorie. Und das trotz seines Bekenntnisses zum Unvollkommenen, zum „Nicht-kategorisch-Rechthabenwollen“. Solch einen großen Wurf können wir heute nur bitter vermissen; in der Tatsache jedoch, dass Camus’ großer Wurf selbst jetzt in großen Teilen noch trägt, liegt seine ungeheure Aktualität: nämlich darin, aus den großen theoretischen und praktischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts, des Ersten Weltkriegs, der Nationalismen, des Nationalsozialismus, der Faschismen, des Stalinismus und des Zweiten Weltkriegs, einen historischen Erklärungsansatz und den Entwurf einer libertär-sozialistischen Alternative gewagt zu haben. Camus hat den Anarchismus sozusagen auf den aktuellen Stand der Nachkriegszeit gehievt, die notwendigen Fragen gestellt und Konsequenzen gezogen. Er war so etwas wie das „Tauwetter“ innerhalb der anarchistischen Theoriebildung der Vorkriegs- und der Nachkriegszeit. Das Revolutionsmodell des spanischen Anarchismus von 1936 (erwachsen aus dem Insurrektionismus und den Jahrzehnten anarchistischer „Propaganda der Tat“ vor der Jahrhundertwende und im frühen 20. Jahrhundert) mit seiner letztlich alles, auch alle Kollektivierungen dominierenden Miliz- und Bürgerkriegsperspektive ist durch Camus aktualisiert und durch die Gewaltkritik gleichzeitig radikalisiert worden; das heißt der unreflektierte Umgang mit Gewalt auch im anarchistischen Lager wurde von ihm gerade gebrochen, er wurde durch Der Mensch in der Revolte mit einer Grenze und einem in der Revolte geborenen, nicht mehr hintergehbaren, ahistorischen Wert versehen. Camus gab übrigens explizit in einem Artikel in Le Libertaire vom 5. Juni 1952 seiner Hoffnung Ausdruck, dass er mit Der Mensch in der Revolte dem „libertären Denken, von dem ich (...) glaube, dass die morgige Gesellschaft nicht darauf verzichten kann, einen Dienst erwiesen habe.“

Das war zeitgenössisch und angesichts der philosophischen und politischen Dominanz des Stalinismus in den Fünfzigerjahren allemal ein Wagnis, und nicht etwa „politische Vorsicht“, wie Veerkamp in typisch linker Manier abwertet. Camus’ Maß (frz.: mesure), Camus’ Grenze (frz.: limite) hat nichts mit Mäßigung (frz.: modération) oder gar Mittelmäßigkeit (frz. médiocrité) zu tun, worauf die Vektiven der Détracteurs gern explizit oder implizit hinauslaufen.

Die stalinistisch-disziplinäre Kritik Veerkamps am momentanen, und bei Camus auch immer vorübergehenden Glück im Diesseits, am „guten Lebens mit der geliebten Frau“, am „Essen und Trinken“ ist monströs, wenn man weiß, dass Camus in algerischen Elendsverhältnissen aufgewachsen ist, in denen „Essen und Trinken“ keineswegs garantiert waren und – allgemeiner – wenn man weiß, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Frankreich als dem Opfer der Nazi-Besetzungsmacht jahrelang noch Hunger und Nahrungsmittelknappheit vorherrschten (ebenso wie im zerbombten Deutschland der Täter in der unmittelbaren Nachkriegszeit).

Die Invektive Veerkamps gegen Camus ist daher nicht nur falsch, sondern man muss das präzisieren: Alles an ihr ist falsch. Die wenigen Zeilen und Sätze, die viele Détracteurs mit einer ob ihrer ausgeprägten Unkenntnis und Ignoranz schon phänomenal zu nennenden Selbstsicherheit gegen Camus richten, transportieren eine solche Dimension von über Generationen hinweg kultivierter Niedertracht, dass man – wie bei dieser Antwort fast geschehen – über jeden solcher Sätze eigentlich ein ganzes Buch schreiben müsste, um alles wieder richtigzustellen. Alors, les Détracteurs: „Lasst es gut sein!“ Doch wenn es überhaupt eine anarchistische Illusion geben mag, dann sicher diese.

Philippe Kellermann: Dann danke ich dir für dieses Gespräch.

Lou Marin (Hg.): Albert Camus – Libertäre Schriften (1948-1960). Laika Verlag, 2013. 380 Seiten. 24,90 Euro.

Siehe auch:


Originaltext:
http://www.systempunkte.org/article/die-libertaere-radikalitaet-eines-verfemten-albert-camus