Erich Mühsam - Parlamentarischer Kretenismus

Das "allgemeine gleiche, geheime und direkte Wahlrecht" war von jeher das A und 0 der sozialdemokratischen Agitation in Deutschland. (...)

Da man nun doch vor dem Kriege "Opposition" trieb, konnte man sich mit dem, was man hatte, schlechterdings nicht zufrieden geben, und so verlangte man denn die Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen und Soldaten, die Einführung des Proportional Wahlsystems (dessen Wirksamkeit als Schutz der Minderheit Proudhon einmal glänzend widerlegt hat) und schimpfte auf die ungerechte Wahlkreiseinteilung. Jedes Jahr zur Saure-Gurken-Zeit drohte überdies ein "Attentat" auf das Reichstagswahlrecht, das dann der sozialdemokratischen Presse und den mit Volksrechten hausierenden Versammlungsrednern Stoff zu wildem Klassengeschrei lieferte. Außerdem verfügte man zum Glück auch noch über die preußische "Dreiklassenschmach", einem nach Steuerleistungen gestuften Wahlmodus, mit dem die herrschenden Klassen in grotesker Überschätzung der Stimmzettelkraft die Abstimmungsergebnisse von vornherein im gewünschten Sinne regulierten.

Das Reichstagswahlrecht für Preußen! Das war die große revolutionäre Forderung der Sozialdemokratie in ganz Deutschland. Selbst in den süddeutschen Ländern, wo man es längst hatte, jagten einander die Massenversammlungen unter dieser Parole, und auf dem Parteitag 1913 rief Ludwig Frank emphatisch: "Wir werden das allgemeine Wahlrecht in Preußen haben, oder wir werden den Massenstreik haben!"

Ja, als am 22. Januar 1906 im ganzen Reiche Riesensympathiekundgebungen zur Feier der Wiederkehr des Tages veranstaltet wurden, an dem die Gapon-Demonstration die russische Revolution eingeleitet hatte, verquickte die Sozialdemokratie mit dieser ernsten Angelegenheit eine Propaganda-Aktion für das preußische Wahlrecht und nahm ihr damit den Stachel. Ein Flugblatt, in dem ich zur Durchkreuzung dieser Jämmerlichkeit und zur Bekundung wahrer Solidarität mit den russischen Brüdern im Auftrage der Anarchisten Deutschlands die Massen zum sozialen Generalstreik auf rief, trug mir, neben wüsten Beschimpfungen der Parteidemagogen, wegen Aufreizung meine erste Verurteilung ein.

Wahlrecht vorn und Wahlrecht hinten - damit ist die deutsche Arbeiterschaft ein halbes Jahrhundert lang gepäppelt worden, und ein halbes Jahrhundert lang plärrte sie in allen Versammlungen und bei allen Maikränzchen die bezaubernde Strophe ihrer philiströs-komischen "Arbeitermarseillaise":

"Das freie Wahlrecht ist das Zei-hei-chen,
in dem wir siegen, nun wohlan!
nicht predigen wir Haß den Reichen,
nur gleiches Recht für je-hedermann,
nur gleiches Rä-hächt für je-he-dermann!"

Das war der ständige Refrain, der dem Hoch auf die "internationale, revolutionäre, völkerbefreiende Sozialdemokratie" folgte. (...)

Dann kam, zunächst in der Form erfolgreicher Matrosen- und Soldatenaufstände und der Improvisierung von Soldaten- und Arbeiterräten, die Revolution, die mit einem eleganten Griff eskamotiert wurde, und nun erlebte der verblüffte Zeitgenosse die Etablierung des reinen parlamentarischen Systems in Deutschland, der "freiesten Demokratie der Welt" mit allen Schikanen der allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Proportionalwahl für Männer, Frauen und Soldaten.

Wer jedoch glaubt, daß mit der "Errungenschaft" der Revolution die höchste Sehnsucht der anspruchsvollsten Demokraten erfüllt wäre, irrt sich. Während ich dies schreibe, (wir haben den 10. März 1920), erhalte ich die neueste Zeitung und finde darin den Bericht über die letzte Sitzung der Nationalversammlung in Berlin. Danach hat gestern der als ultraradikal verschriene unabhängige Herr Henke gesagt: "Wir wollen einen weiteren Ausbau des Parlamentarismus im Sinne der Demokratie", und am Schlusse seiner Rede wird "Beifall bei den Unabhängigen" vermerkt.

Ich hege kein Zweifel, daß Henkes Verlangen befriedigt werden wird, bin aber gespannt, bis zu welchem Ausmaß von Gerechtigkeit der "weitere Ausbau" des bürgerlich-kapitalistischen Parlamentarismus die Entwicklung Deutschlands "im Sinne der Demokratie" noch führen wird.

Soll man lachen oder weinen? Die ganze revolutionäre Rückständigkeit des deutschen Proletariats ist allein auf den parlamentarischen Kretinismus zurückzuführen, in dem ehrgeizige, unwissende und in bourgeoiser Ideologie verkommene Führer es hielten, bis es von keiner anderen Waffe mehr Mißte, als vom Stimmzettel, bis es den Nachttopf, in den es alle fünf Jahre ein vorgedrucktes Papier legen durfte, wie einen Fetisch anbetete, bis es zugunsten seiner gewählten und mit jeder Vollmacht ausgestatteten "Vertreter" auf den Rest eigenen Denkens, eigenen Entschließens, ja eigenen Empfindens verzichtete, bis es, "Heil dir im Siegerkranz" und die "Wacht am Rhein" grölend, blindlings und fatalistisch in den Weltkrieg hineinstolperte.

Keine Enttäuschung durch das Ausbleiben irgendwelcher greifbaren Erfolge für die Arbeiterschaft, kein Versagen ihrer Parlamentarier bei allen Gelegenheiten, wo es nötig war, sozialistische Prinzipien wenigstens in Reden zu formulieren, hat die deutschen Proletarier an der Wählerei irre gemacht. Immer fanden die Bonzen neue Trostgründe, immer neue Versprechungen, als sich bei richtiger Zettelabgabe alles, alles wenden müsse.

Bei den Reichstagswahlen von 1913 stellte man den Rekord von drei Millionen sozialdemokratischer Stimmen mit über 80 Abgeordneten auf. Der "Vorwärts" verfiel in einen Paroxysmus der Begeisterung: "Unser das Reich!  Unser die Welt!" schmetterte er taumelnd. Wo blieb die Weltwende?

Ich zitiere, was ich 1912, (...) im Anschluß an den Parteitag in Chemnitz schrieb; "Als auf dem internationalen Kongreß in Amsterdam im Jahre 1905 Jaurès den drei Millionen deutschen Sozialdemokraten ihre gänzliche Einflußlosigkeit vorhielt, erwiderte ihm Bebel: Laßt uns erst acht oder zehn Millionen Stimmen haben, dann werden wir schon zeigen, was wir können. In Chemnitz sprach Haase denselben Gedanken aus und gab zu, daß die vier Millionen Wähler von 1912 noch gar keine positive Macht bedeuten. Beide Herren scheinen nicht bedacht zu haben, daß die Stimmenzahl, die sie für nötig halten, um damit erfolgreich auftrotzen zu können, gar nicht anders erreicht werden kann als durch Heranziehung des Bürgertums zur sozialdemokratischen Unterstützung, und zwar in noch viel weiterem Umfange, als sie bisher schon geübt wird. Wir haben alle gesehen, wieviel Konzessionen die Partei dem mit dem Kapitalismus völlig einverstandenen Kleinbürger bei jeder Wahl macht, um seinen Zettel zu kriegen. Sollen jene Reserven bis zur Komplettierung der verdoppelten und verdreifachten Zahl sozialdemokratischer Wähler mobil gemacht werden, so bleibt gar nichts anderes übrig, als völliger Verzicht auf jede Demonstrationspolitik und völliges Aufgehen in positiver demokratischer Staatspolitik. Die Eroberung der politischen Macht geht somit Hand in Hand mit dem Aufgeben der revolutionären Ziele und hat, wenn sie perfekt ist, gar nicht mehr die Möglichkeit, für den Sozialismus gebraucht zu werden."

Man sollte meinen, für deutsche Kommunisten wäre nach diesen Beobachtungen der Gedanke an Wahlbeteiligung zu gleichviel welchen bürgerlichen Parlamenten endgültig begraben gewesen. Zwar war die Frage bei der Konstituierung der KPD im Dezember 1918, als es sich um die Entschließung handelte, ob die verfassunggebende Nationalversammlung beschickt werden sollte, noch Gegenstand von Meinungsverschiedenheiten; es ergab sich aber, daß der Beschluß des Kongresses, die Beteiligung an den Wahlen abzulehnen, von der vordersten Linie des Proletariats nicht nur verstanden, sondern geradezu als das Stichwort der Revolution aufgegriffen wurde. Die Idee der Räte-Demokratie wäre niemals so plausibel zu machen gewesen, wie sie im Verlauf der revolutionären Wallung wurde, wenn sie nicht stets als die dem Proletariat allein gemäße Form der gesellschaftlichen Exekution im Gegesatz zur bürgerlichen und besitzdiktatorischen parlamentarischen Demokratie herausgehoben worden wäre. Der Gegensatz würde aber notwendig verwischt werden, wenn nicht mit der Aufnahme des Rätegedankens in die Herzen und Hirne der Arbeiterschaft die vollständige theoretische und praktische Abkehr vom Parlamentarismus korrespondierte. (...)

So begann schon im Sommer 1919 in der kommunistischen Presse ein geschäftiges Orakeln, ein Einerseits und ein Anderseits, ein Hin- und Hersalbadern über das Wie, Wann, Wo und Warum einer eventuellen Beteiligung an der Wählerei. Wer die Bedenklichkeit eines Rückfalls der um die Revolution verdientesten Partei in sozialdemokratische Sitten erkannte, mußte diese Entwicklung mit Sorge beobachten. Die Befürchtung lag nahe, daß die KPD, hatte sie erst einen Fuß auf die schiefe Ebene gesetzt, in rapidem Tempo in die Methoden der vulgärsten Parteipolitik abrutschen, daß sie das Niveau verlieren werde, das sie bisher hoch über dem Gehudel der politischen Schachermacherei gehalten hatte.

Ich hatte der Partei bis dahin nicht angehört, hatte aber seit der Gründung ihrer Münchener Ortsgruppe, in der die "Vereinigung revolutionärer Internationalisten" allmählich aufging, engste Kameradschaft mit ihr gehalten, war in Dutzenden ihrer Versammlungen als Referent aufgetreten und hatte ihr in München und in auswärtiger Agitation Tausende von Mitgliedern zugeführt. Im September 1919 entschloß ich mich, unter Überwindung schwerster Gewissensbedenken von meiner Festungshaft aus den Beitritt zu vollziehen. Ich erließ zur Begründung eine öffentliche Erklärung in den kommunistischen Blättern, worin ich die kommunistischen Anarchisten aufforderte, meinem Beispiel zu folgen, und der Hoffnung Ausdruck gab, "der Zustrom an Kampf und Verfolgung gewöhnter Rebellen werde die Tatkraft der Partei befeuern und sie vor Verknöcherung und Verbonzung dauernd bewahren". Nachdem ich Vorher auf die frühere "Versumpfung der Arbeiterbewegung in Parlamentsschwätzerei, Tarifmeierei und Vereinsbürokratismus hingewiesen hatte, konnte kein Zweifel bestehen, was ich mit meinem Schritt beabsichtigte.

Die Freude meiner Parteizugehörigkeit war kurz. Wenige Wochen nach meinem Beitritt erschienen die Leitsätze der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund). Beschlossen auf dem Parteitag Oktober 1919, und darin heißt es: "Die KPD ist sich bewußt, daß dieser Kampf (um die Machtergreifung des Proletariats) nur mit den größten politischen Mitteln (Massenstreik, Massendemonstration, Aufstand) zum siegreichen Ende gebracht werden kann. Dabei aber kann die KPD auf kein politisches Mittel grundsätzlich verzichten, das der Vorbereitung dieser großen Kämpfe dient. Als solches kommt auch die Beteiligung an Wahlen in Betracht, sei es zu Parlamenten, sei es zu Gemeindevertretungen, sei es zu gesetzlich anerkannten Betriebsräten usw." Und der Punkt 7 der "Leitsätze über kommunistische Grundsätze und Taktik" verfügt: "Mitglieder der KPD, die diese Anschauungen über Wesen, Organisation und Aktion der Partei nicht teilen, haben aus der Partei auszuscheiden." Damit war ich also automatisch wieder an die Luft gesetzt und verschwand lautlos mit zahlreichen anderen überzeugten revolutionären Kommunisten durch die Kulisse links.

Die große Bannbulle, als welche sich die "Leitsätze" der KPD-Zentrale darstellen und deren einzelne Schönheiten hier noch bespiegelt werden sollen, erhält ihre besondere Beleuchtung als Ausfluß kleinlich-bürokratischer Vereinsmeierei und bornierten Bonzentums durch ein "Rundschreiben des Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale", das als dessen Vorsitzender Genosse Sinowjew schon am 1. September erlassen hatte. (Die Kommunistische Internationale Nr. 3 1919 S. 71 ff.) Und das den KPD-Päpsten also schon bekannt sein mußte, als sie zum Parteitag zusammentraten. Daß dieses Rundschreiben ein Wink mit dem Zaunpfahl speziell für die deutschen Kommunisten sein sollte, ist ihm deutlich anzumerken. Genosse Sinowjew empfiehlt da genau das, was ich, natürlich noch ohne Kenntnis des Manifestes, mit meiner Beitritts-Erklärung bezweckt hatte, nämlich weitgehende Tolerierung der linksradikalen Revolutionäre in der Partei, und in der Frage des Parlamentarismus, mit der sich der Brief als eigentliches Thema beschäftigt, den Verzicht auf intransigente Bockbeinigkeit.

Er schreibt eingangs: "In Frankreich, Amerika, England, Deutschland schließen sich gleichzeitig mit der Verschärfung des Klassenkampfes alle revolutionären Elemente der kommunistischen Bewegung an, indem sie sich vereinen oder ihre Handlungen unter der Parole der Sowjetmacht koordinieren. Die anarchistisch-syndikalistischen Gruppen und die Gruppen, die sich bisweilen einfach anarchistisch nennen, schließen sich dabei dem allgemeinen Strom an. Das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale begrüßt das aufs wärmste." (Die KPD-Zentrale aber hält für diese Gruppen Fußtritte bereit.)

Am Schlusse sagt Sinowjew, nachdem er es als nicht lohnend bezeichnet hat, sich wegen der parlamentaristischen Differenzen zu spalten: "Die Praxis des Prostituierens im Parlament war dermaßen ekelhaft, daß sogar die besten Genossen in dieser Frage Vorurteile haben. Diese sollen im Verlauf des revolutionären Kampfes überwunden werden. Wir wenden uns daher eindringlich an alle Gruppen und Organisationen, die einen wirklichen Kampf für die Sowjets führen, und rufen sie zum engsten Zusammenschluß, sogar trotz der Uneinigkeit in dieser Frage. Alle, die für die Sowjets und die proletarische Diktatur sind, wollen sich baldmöglichst vereinen und eine einheitlich kommunistische Partei bilden."

Ja, wenn wir in Deutschland nicht schon eine kommunistische Partei hätten! Aber die - mindestens ihre sehr scharfsichtige Zentrale (vulgo Parteivorstand) - sperrt nicht nur ängstlich alle Eingänge gegen jeden nicht stramm levigläubigen Eindringling ab, sondern schmeißt auch noch ihre eigenen besten Parteigenossen zum Tempel hinaus. (...)

Lenin sagt das eigentlich Entscheidende über den Gegenstand in seiner ausgezeichneten Polemik gegen Kautsky in dieser Form: "Die Teilnahme am bürgerlichen Parlament (das nie über die wichtigsten Fragen in der bürgerlichen Demokratie zu entscheiden hat, sie werden von der Börse, den Banken entschieden) ist den werktätigen Massen durch tausend Hindernisse versperrt, und die Arbeiter wissen, fühlen and sehen genau, daß das bürgerliche Parlament eine fremde Institution, eine Waffe zur Unterdrückung der Proletarier durch die Bourgeoisie, die Einrichtung einer feindlichen Klasse, der ausbeutenden Minderheit ist." (Lenin, Die Diktatur des Proletariats und der Renegat K. Kautsky.)

Die KPD zog aus ihrer antipariamentarisehen Erkenntnis keine Folgerung, sondern machte im Gegenteil aus der Forderung, "auf kein politisches Mittel grundsätzlich zu verzichten", die Bedingung für die Mitgliedschaft.

Hören wir ihre Gründe: "Sind die großen Kämpfe ohne entscheidenden Sieg abgeflaut, oder sind sie in Vorbereitung, so treten naturgemäß die kleinen Mittel in den Vordergrund. Lediglich diese Erwägung ist für die Stellung der KPD zur Frage der Anteilnahme an Wahlen und parlamentarischen Aktionen entscheidend. Die Frage ist eine rein taktische."

"Die Teilnahme an parlamentarischer Wahl und Tätigkeit dient allein dem Ziel, jene Aktionen (nämlich der Massendemonstration, Massenstreiks und Aufstände) agitatorisch und organisatorisch vorzubereiten."

Großartig. "Sind die großen Kämpfe ohne entscheidenden Sieg abgeflaut -"! Der kommunistische Parlamentarier soll also wohl so eine Art Wettermännchen spielen: scheint der Revolution die Sonne - raus aus dem Parlament! Regnet es - rein ins Parlament! ...

Ein Verfechter der Zentrale-Politik, beschäftigt sich angelegentlich damit, die Bald-so-bald-so-Taktik in der Wahlfrage plausibel zu machen. Er sagt in einer Polemik gegen die Hamburger Unionisten: "Es ist richtig: wer für die Diktatur des Proletariats kämpft, der darf nicht die kapitalistische 'Demokratie' 'stützen', sich auf ihren Boden stellen. Tun wir das aber, wenn wir die Arbeiter evtl. in unserer Wahlagitation vor allem Vertrauen zum Parlament warnen und zur Wahl von Kommunisten auffordern, deren 'parlamentarische Aktion' eben darin bestehen wird, daß sie von der parlamentarischen Bühne aus der kapitalistischen 'Demokratie' die Maske vom Gesicht reißen?" (Struthahn (Radek), Die Entwicklung der deutschen Revolution und die Aufgaben der kommunistischen Partei. Herausgeber: Zentrale der KPD. 1919. Verlag Spartakus. Stuttgart-Degerloch. S. 25.)

Da haben wir's: die Maske vom Gesicht reißen! Als ob die kapitalistische "Demokratie" überhaupt eine Maske vor dem Gesicht trüge! Als ob nicht das ganze Gesicht nur Maske wäre; die nur entfernt werden kann, wenn der Kopf mit heruntergerissen wird! Und darüber, daß das Parlament dazu der ungeeignetste Boden ist, waren wir ja wohl einig, nicht wahr?

Aber wir hören den Genossen Struthahn verkünden, daß man die Wahlagitation brauche, um die Arbeiter vor allem Vertrauen zum Parlament warnen zu können. Zugegeben, daß die Wählerversammlungen vor den Wahlterminen dazu die beste Gelegenheit geben: muß man deswegen eigene Kandidaten aufstellen? Ist das nicht eine merkwürdige Manier, Arbeiter überzeugen zu wollen, daß man ihnen sagt, der Parlamentarismus ist Schwindel, er kann euch nie und nimmer mehr vom Kapitaldespotismus, von der Ausbeutung, von der Lohnsklaverei befreien, - darum wählt nicht den Meier, sondern den Levi! Man sollte denken, es wäre ein wirksameres Argument, das gerade in Wahlversammlungen und während der Wahlagitation gesagt wird: weil der Parlamentarismus Schwindel, weil das Parlament ein Unterdrückungsorgan der Bourgeoisie gegen das Proletariat ist, beteiligen sich die Kommunisten nicht daran. Das unterscheidet sie von allen anderen Parteien ohne Ausnahme, das erhebt sie über sie, daß sie nicht auffordern: wählt den Hinz oder Kunz, oder den Müller, oder den Meier, oder den Levi! - sondern sagen: Wählt gar nicht! Seid Revolutionäre! (...)

Jedoch Struthahn beruft sich auch auf die revolutionäre Ausnutzung des Parlamentsmandats selbst! "Es können in der Revolution Situationen eintreten, in denen vieles davon abhängt, ob die Vertreter des Proletariats aus mehreren Orten Zusammenkommen können, ob sie von einer weithin sichtbaren Tribüne aus dem Proletariat Losungen zurufen können. Selbst die kürzeste Frist der Bewegungsfreiheit und Immunität der proletarischen Vertreter kann von großer Bedeutung sein."

Wenn solche Situationen eintreten, dann wird nicht nur die Verbindung der Proletariats-Vertreter in den verschiedenen Orten unterbunden sein, sondern vorher noch werden alle ihre Zeitungen und Organisationen aufgeflogen sein. Die Arbeiter werden also die Reden, die auf der Parlamentstribüne gehalten werden, gar nicht zu sehen kriegen, - oder glaubt Genosse Struthahn, die bürgerliche Presse werde sie vermitteln? Dann möge er doch seinen Blick in irgendein Bourgeoisblatt senken und nachsehen, in wieviel Zeilen dort die stundenlangen Parlamentsreden auch nur der Unabhängigen zusammengedrängt werden, dann erinnere er sich daran, wieviel die deutschen Proletarier von 1914/16 von Liebknechts Reden zu lesen bekamen. Nein, in solchen Situationen nützt auch die Immunität nichts, selbst für die kurze Dauer nicht, für die Struthahn selbst nur auf sie und die Redefreiheit Hoffnungen setzt. Da nützt nur unterirdische Arbeit und wahrhaft revolutionäre Arbeit, für die das Parlament kein Feld bietet.

Auch Sinowjew verteidigt die revolutionäre Ausnutzung der Parlamente. Er sowohl wie Struthahn verweist auf das Beispiel Karl Liebknechts. Ich bin der allerletzte, der das heldenhafte Verhalten dieses ewig vorbildlichen Revolutionärs im deutschen Reichstag und preußischen Landtag während der Kriegszeit herabwürdigen möchte. Aber der Vergleich stimmt nicht. Worin lag das überwältigende Große in Liebknechts Haltung? Er war 1912 als einer von 110 Abgeordneten in den Reichstag gewählt worden, zu einer Zeit, als an den Weltkrieg erst sehr wenig Leute glaubten (...). Er hatte vor dem Krieg zur Linken gehört, das war alles, was man wußte; (...). So war er ein Parlamentarier wie alle, unter den gleichen Parolen gewählt, unter den gleichen Umständen ins Parlament eingetreten, unter den gleichen Voraussetzungen zu beurteilen wie die anderen. Das Land war nicht nur in keiner revolutionären Situation, sondern in fanatischen Kriegsjubel befangen, das Proletariat bis in die ärmsten Hütten von wilder Psychose ergriffen, patriotisch, hohenzollerisch, menschenfresserisch durchrast vom Haß gegen die "Feinde".
 
Das war das Bild Deutschlands, als Liebknechts Gestalt im Reichstag auf stieg und über den verzerrten Nebeln von Gesinnungslosigkeit und Ehrvergessenheit, die sich aus den nationalistisch umbrandeten Gehirnen seiner "sozialistischen" Kollegen hoben, die leuchtende Fackel des Prinzips, des Klassenkampfes und der Internationalität strahlen ließ. Mitten in der zischenden Wut nicht nur der auf Kriegsgewinn geilen bourgeoisen Parlamentsmeute und ihres "sozialistischen" Anhangs, sondern des ganzen verhetzten Volkes, seiner eigenen Wähler und proletarischen Auftraggeber, stand er aufrecht da, ein Prophet der Revolution in der Wüste des Verrats.

Wie klar ist doch der Unterschied zwischen Liebknechts schicksalhafter Mission und der "taktischen" Ausklügelung der KPD-Zentrale: Leute mit dem Programm ins Parlament schicken zu wollen, Liebknecht zu sein! (...) Und nun will man diesen in allen Voraussetzungen und in seiner ganzen Bedingtheit einzigartigen Fall typisieren. Geht hin und macht's wie Liebknecht! (...)

Liebknecht ist kein Beweis für die Nützlichkeit der revolutionären Parlamentstätigkeit, sondern ihre Widerlegung. Der unvermeßliche Wert seiner parlamentarischen Agitation bestand darin, daß man sie ihm beschnitt und mit allen gesetzlichen und ungesetzlichen Mitteln zu verhindern suchte. Man ließ ihn nicht zum Reden kommen; hatte er das Wort trotzdem, so entzog man es ihm nach wenigen Sätzen. Was er sagte, wurde dem Volk verschwiegen oder total entstellt und gefälscht mitgeteilt, wobei er nicht bloß als Verräter, sondern auch als Narr und Poseur hingestellt wurde. (...) Man vertuschte seine Aufklärungen und ging dabei so weit, daß man die offiziellen Reichstagsstenogramme "korrigierte". Man brutalisierte, man schlug ihn sogar. Endlich versagte man ihm die Immunität und lieferte ihn an die Schergen, den Militärrichtern, dem Zuchthause aus. Liebknechts unvergängliches Verdienst war, daß er das Parlament - in der Zeit der wütendsten Reaktion, von der das ganze Volk durchseucht war - zu dem Beweise ausnutzte, daß es als Propagandatribüne untauglich ist, daß es der Bourgeoisie nicht einfällt, die garantierten Rechte des Proletariats zu respektieren, wenn ihr daraus Schaden erwachsen kann. (...)

Denn nicht so sehr seine Reden haben den Widerhall gehabt, von dem Sinowjew spricht, sondern der Umstand, daß man den Inhalt dieser Reden nicht erfuhr, daß man nur spürte, er hielt Reden, die Unerhörtes bedeuten mußten, da sie so sorgfältig verschwiegen wurden. (...)

Agitationsmöglichkeit (...) Die war nur einmal und unter den ganz besonderen Verhältnissen gegeben, unter denen Liebknecht sie genützt hat; Karl Liebknecht und neben ihm Otto Rühle, (...) der als treuer Helfer Liebknechts still und tapfer seine Pflicht tat; derselbe Rühle, der die opportunistische Schwenkung der KPD nicht mitmachen wollte und der deswegen - o Schande! - von der Kommunistischen Partei Deutschlands ausgestoßen worden ist.

Aber die Zentrale wollte ja nur parlamentarisch wählen und tätig sein, um die eigentlichen Aktionen "agitatorisch und organisatorisch vorzubereiten." Das soll doch wohl heißen, daß man die für die Revolution noch nicht gewonnenen Schichten des Proletariats, des Bauerntums, des Mittelstandes, der Beamtenschaft über Art und Sinn des Kommunismus in Parlamentsreden aufklären möchte. (...)

Siehe da! Die "Leitsätze" lassen nicht im Stich. Ihr zweiter Abschnitt über den Parlamentarismus lautet in extenso: "Nicht nur die Tätigkeit innerhalb der Parlamente, sondern nach Lage der Verhältnisse auch das Ausscheiden aus den Parlamenten könnten von revoltierender Wirkung auf das Proletariat und ein revolutionärer Akt sein. Die Kommunisten in den Parlamenten haben dementsprechend in entscheidenden politischen Konflikten entweder auszuscheiden oder ihren Ausschluß aus den Parlamenten durch die Bourgeoisie herbei zuführen. Das Ausscheiden soll in den Augen der gesamten Arbeiterschaft als revolutionäre Aktion erfaßt werden und zur Auslösung der revolutionären Massenaktion führen. Ihre Tätigkeit ist auf die Herbeiführung solcher Konflikte zu richten." (Verfasser: Paul Levi.)

So. So steht es da, - so und nicht anders. Ich will versuchen, ernst zu bleiben. Die Kommunisten sollen also in die Parlamente hineingehen, um den Moment abzupassen oder zu provozieren, wo sie mit stolzer Geste wieder hinausgehen können bzw. hinausgeworfen werden. Und das ist dann der Moment der Revolution, so soll er "erfaßt" werden und zur "Auslösung der revolutionären Massenaktion" führen. So hat Levi sich die Sache ausgedacht: der Dirigent erhebt den Taktstock, und die Kapelle intoniert. (...)

Der Gedanke, den Parlamentarismus anzunehmen, um eines Tages demonstrativ den Saal verlassen zu können, richtet sich von selbst. Er ist grotesk. Er ist aber überdies auch gefährlich. Denn der Appell an die Arbeiter, aufzupassen, was die Pariamentarier machen, und danach ihre eigenen Entschließungen und Aktionen einzurichten, macht das Parlament von neuem zum Mittelpunkt der ganzen proletarischen Bewegung und führt mit Sicherheit die alte Überschätzung und Sakrilegierung des Parlamentarismus wieder herbei, mit der wir in Deutschland doch so üble Erfahrungen gemacht haben und die wir endlich glaubten begraben zu haben. (...)

Worauf die KPD-Zentrale wieder hinaus will, zeigt sich ja deutlich genug in ihrer Erklärung, daß sie nicht bloß Parlamente, sondern auch Gemeindevertretungen kommunistisch infizieren möchte. Kommunistische Gemeindedelegierte! Kommunistische Stadträte! Man muß es nur aussprechen, um das Absurde der Idee zu erkennen. Aber man Will ja "auf kein politisches Mittel grundsätzlich verzichten" - was beileibe kein Opportunismus ist! Als ob nicht die Revisionisten genau dieselbe Weisheit auskramten, als sie zu Hofe gingen und Orden annahmen.

Wo ist die Grenze? Wird man nicht nächstens auch Ministersessel anstreben? Warum soll man diese Plätze nicht ebensogut für die Zwecke des Proletariats "ausnützen" können, wie das anerkannt konterrevolutionäre Bourgeoisparlament? (...) Und waren nicht die deutschen Sozialdemokraten zu Anfang ihrer Parlamentstätigkeit auch fest entschlossen, nichts anderes unter den Bourgeois zu unternehmen, als ihnen im eigenen Hause "die Maske vom Gesicht zu reissen"? Heißt mich nicht reden, heißt mich schweigen!...

Anmerkung: Erich Mühsams Paramentarischer Kretinismus ist das Verkürzte 4. Kapitel seiner Schrift von 1920 "Die Einigung des revolutionären Proletariats im Bolschewismus", das in den Heften 3/4, 5/6 und 13/14 der Aktion 1922 wiederveröffentlicht wurde.

Originaltext: Libertäres Forum (Hg.). de Ligt, Lucas, Mühsam, Rühle u.a. Anarchie und Parlamentarismusdiskussion. Verlag Libertäre Assoziation / Verlag Roter Funke, 1980. Digitalisiert und bearbeitet (Krapotkin zu Kropotkin etc.) von www.anarchismus.at