Christa Dericum - Absage an die Gewalt. Die Idee des Anarchismus

I. Anarchie als Vorwand der Mächtigen

Die Anarchie in Polen beseitigen zu wollen, gaben die Teilungsmächte 1792 an. Die Begründung, durchsichtig, wie sie ist, könnte von heute sein. Die Zeitungen sind voll von Untaten, die Anarchisten zugeschrieben werden. Sogar die Ausrüstung von Spezialeinheiten der Polizei dient angeblich dem Kampf gegen Terroristen und »Anarchisten«, und es geschieht kaum ein Gewaltakt, ohne daß von Anarchie die Rede wäre. Sogar die palästinensischen Nationalisten, die in München während der Olympiade ein geradezu klassisches Beispiel chauvinistischer Anerkennungssucht lieferten, wurden als Anarchisten bezeichnet. Und vollends die »Rote Armee Fraktion«, die so lange agitieren durfte, bis die Öffentlichkeit davon überzeugt war, die Polizei müsse verstärkt werden: hat sie nicht herhalten müssen, um die Angst vor der Anarchie zu schüren? Ein sozialdemokratischer Autor kommt in der Neuen Gesellschaft (9/72) zu der Einsicht: »Sie sind gewalttätige Anarchisten, die ihre Taten mit maoistischen Worten verbrämen.« Zu sagen, sie seien gewalttätige Maoisten, könnte nämlich die Ostpolitik der Regierung belasten. Der Vorwand von 1792 ist noch immer brauchbar und wird es wohl bleiben. Da Anarchisten die Macht nicht haben, können sich Gewalthaber jeder Herkunft und jeglicher Ideologie stets auf sie als den gemeinsamen Feind einigen. Von der Unbotmäßigkeit bis zum Terror deckt Anarchie alles, was der bestehenden Herrschaft zuwiderläuft.

Anarchie als Vorwand der Mächtigen. Aber hat es nicht anarchistische Terroristen gegeben? Gibt es sie nicht? Die Bombenwerfer, die Attentäter, den jungen Mann, der jüngst in Genf vor Gericht stand, weil er die Symbole der Herrschaft beseitigen wollte? - Es hat sie gegeben, und es gibt sie; aber es sind zahlenmäßig sehr wenige, gemessen an den Attentätern des Nationalismus, des Kommunismus, auch der frühen Sozialdemokratie. Und der vielzitierte Satz des russischen Volkstümlers und späteren Anarchisten, Michael Bakunin, die Revolution heilige alles, Gift, Messer und Strick, ist noch die Konsequenz jeglicher privaten und politischen Position gewesen, die sich am Ende ihrer Weisheit und Überredungskunst sah. Sie ist nicht typisch anarchistisch, sondern atypisch für die Anarchisten, die ihren Namen nach ohne Gewalt auskommen wollen, wovon bei Nationalisten, Kommunisten und anderen politischen Weltanschauungen nicht die Rede sein kann.

Anarchie als Vorwand der Mächtigen - das ist der Bürgerschreck seit altersher. Er zieht immer, weil der Mensch nicht ohne Ordnung leben kann, nicht ohne Loyalität, ohne Konsens, ohne Instanzen, die Loyalität und Konsens verkörpern. Der Schweizer Philosoph Hans Barth hat darüber Wichtiges gesagt. Nicht ohne Ordnung leben zu können, heißt aber nicht, ohne Gewalt nicht leben zu können. Die Gleichsetzung von Ordnung und Gewalt ist es, die den Anarchie-Vorwand so brauchbar und so verlogen macht. Denn die Idee des artikulierten Anarchismus ist nicht der Verzicht auf Ordnung, sondern auf die Begründung der Ordnung durch Gewalt, ist der Verzicht auf Unterwerfung, auf den Staat als das Mittel einer über andere herrschenden Klasse. Um diese Differenz zu verdeutlichen, muß man etwas weiter zurückgehen als hinter den gängigen Sprachgebrauch, demzufolge alles Anarchist und anarchistisch genannt werden darf, was ordnungswidrig erscheint oder ist oder tätlich wird.

II. Begriffsgeschichte

Der Vorwand der Anarchie für unliebsame Handlungen, Gedanken oder Personen ist von den Mächtigen von altersher benutzt worden, wie U. Dierse im neuen »Eisler« (Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1971) belegt. Hatte Xenophon noch Anarchie (wörtlich: Abwesenheit von Herrschaft) als jenes Jahr verstanden, in dem es keinen Archon gab, so brachte Aristoteles den Begriff in Zusammenhang mit seiner Kritik an der Demokratie und umschreibt ihn schließlich mit dem »Zustand der Sklaven ohne Herrn«. Interessant für unseren Zusammenhang ist die Aristoteles-Interpretation des lateinischen Mittelalters. So übersetzt Thomas von Aquin zunächst noch licentia servorum, also »Freiheit«, »Befreiung der Sklaven« und erst später »anarchia servorum«. Ihm folgend spricht Nicolaus von Oresme, der Aristoteles 1371 ins Französische übertrug, von anarchie als »Freilassung der Sklaven«: »Anarchie est quant l'on tranchist aucun serts et met en grans Offices«.

Die Wertung dieser Feststellung ist durchaus nicht naiv. Aristoteles war für Thomisten wie für Vokabulisten eine relativ neue Entdeckung. Zwischen dem vierten vorchristlichen Jahrhundert und dem Mittelalter behielt Anarchie zwar die Bedeutung von »potentia nemini subiecta« (Theodoretus Cyrrhensis) oder eines Zustandes »ubi nullius est potestas«, aber solche Herrschaftslosigkeit war nicht Gegenstand der Kritik. Das lag nicht nur daran, daß es diesen Zustand der Freiheit kaum gab. Anarchie war vielmehr in der Kirchensprache zu einem geradezu magischen Wort geworden, mit dem die Schriftgelehrten und Kirchenväter das Höchste, über das sie zu sprechen hatten, synonym setzten, das Wesen Gottes: »Christus ex patre anarchos id est sine principio est genitus« (Johannes Damascenus). Dabei wird aoxn mit principium = Anfang, und av-agxos = endloser Anfang gesetzt. Bei Sigbert von Gemboux findet sich später der Satz, Gott sei »archos, sed anarchos, princeps, sine principio«.

Gott, der anarchos, war seinem verwirklichten, endlichen Reich auf Erden unendlich fern, niemandes Gewalt unterworfen, dort, wo keines Menschen Macht ist. Mir scheint die gleichzeitige Verwendung des Begriffes Anarchie für das Höchste, das der Mensch sich vorstellen kann, und für das Freieste, das er sich ausdenken will, nicht zufällig. Jedenfalls sollten wir diese Merkwürdigkeit beachten, wenn wir an die erbitterten Auseinandersetzungen der Kirche mit Rebellen gegen ihre Hierarchie wie etwa Joachim von Fiore oder die Wiedertäufer denken. Die Stellvertreter Christi auf Erden und ihre Beamten haben niemals Zweifel an ihrer Herrschaft geduldet, geschweige denn die Abkehr des einzelnen zu einem vermeintlich gottähnlichen anarchischen Leben. Deshalb ihre Bemühungen, Anachoreten, Zönobiter, Mendikanten u. a. möglichst rasch in eine Klostergemeinschaft mit geltender Regel einzufangen.

Die Verteidigung des europäischen Absolutismus berief sich auf Aristoteles, den sie freilich willkürlich interpretierte, und brachte wie dieser Anarchie mit Demokratie in Verbindung. Alle demokratischen Bewegungen, Gedanken über ursprüngliche Freiheiten des Volkes, Gedanken über das Verhältnis von Herrscher und Beherrschten galten als gefährlich. Die im Hochmittelalter heftig wieder aufflackernde Debatte über den Tyrannenmord verstummte unter den Vorwürfen strenger Tadler. Cromwells Versuch, die Gleichheit aller zu praktizieren, fand selbst unter seinen Anhängern wenig Beifall, fürchteten sie doch mehr noch als die Tyrannei die Anarchie.

Dennoch kam die Idee der Anarchie in die Literatur. Diderot hielt sie für besser als die Tyrannei, und Friedrich W. Schlegel bezeichnete sie schließlich 1796 als »absolute Freiheit« (Versuch über den Begriff des Republikaners). Schlegel griff das alte Thema des Aufstandes gegen den Tyrannen wieder auf. Ihm schien Rebellion gegen Despoten erlaubt, und er sah in der Anarchie das Gegenteil von Despotie, ein Ideal, das »durch Annäherung erreicht werden kann«. Er trat damit in Gegensatz zu Hegel, der die freiheitlichen Höhenflüge seiner jüngeren und älteren Zeitgenossen auch diesmal in vernünftigen Bahnen enden ließ. Hegel lehnte die Anarchie als Folge des Partikularismus rundweg ab. Den Westfälischen Frieden von 1648, dem Jahr, in dem Cromwell seine Revolution versuchte, nannte er »die konstituierte Anarchie«, wobei er zweifellos im Gedächtnis hatte, was Immanuel Kant in seiner Anthropologie-Vorlesung lehrte, daß nämlich Anarchie »Gesetz und Freiheit, ohne Gewalt« sei. Wobei Kant freilich nur die Republik, »Gewalt, mit Freiheit und Gesetz«, eine »wahre bürgerliche Verfassung« nannte.

III. Intermezzo: Deutschland und die Anarchie

Hegels bitteres Wort von der »konstituierten Anarchie« des westfälischen Friedens impliziert Unzufriedenheit mit den deutschen Verhältnissen, mit dem »Monstrum«, das man das Heilige Römische Reich Deutscher Nation genannt hat. Die Absage an die unübersichtliche Föderation kleiner und kleinster politischer Einheiten gründet in der Vorstellung, der zentrale Staat könne, wenn nicht alles, so doch vieles besser machen, vor allem die Ohnmacht des Reichen beheben. Der Zug zum zentralen Staat wurde dem Fortschritt gleichgesetzt. Die sich selbst verwaltenden kleinen Assoziationen verfielen, ob bürgerlich oder bäuerlich oder aristokratisch, dem Verdikt des Altertümlichen. Die Kämpfe um Zentralgewalt und Föderalismus im 19. Jahrhundert sind immer zugleich Kämpfe um mehr oder weniger Macht, und die Rolle der deutschen Föderation für die Entwicklung der föderativen Idee in Europa wurde durchaus erkannt. Der nachhaltigste publizistische Gegner der Reichsgründung von 1871, Constantin Frantz, zog sogar den Schluß von der Föderation zur Wohlfahrt der Völker. 1878 nannte er nur die Föderation die wirkliche Garantie des Friedens, während der sogenannte bewaffnete Frieden »nur der schlafende Krieg selbst ist und mit der permanenten Kriegsbereitschaft... die Völker dabei verarmen... Statt der Organisation der Arbeit wird die Militärorganisation die große Aufgabe der Zeit.«

 Man weiß, wie der Kampf ausgegangen ist, und wer ihn am Ende verlor. Die dieser Tage neu aufgelegte Bakunin-Biographie von Ricarda Huch, die sie 1922 schrieb, als die erste deutsche Ausgabe der Schriften des genialischen Russen erschienen war, versetzt den Anarchisten ganz in diese deutsche Tradition. Sie sieht ihn quasi als Vollender einer historischen Tendenz, die sich in Deutschland nicht erfüllt hatte, und schließt mit einem Zitat des französischen Historikers Michelet, Deutschland werde diesem Russen ein Denkmal setzen, wenn es zu sich selbst gekommen sein werde.

Das anarchistische Ordnungsprinzip der Föderation ist nicht ohne Bezug auf die Assoziationen des alten Reiches, der Hohn des Hegelianers Marx und seiner Nachfolger auf die Anarchisten nicht ohne Hegels Einschätzung des Westfälischen Friedens zu verstehen. In einem Brief an Cafiero vom 1.7.1871 nannte Friedrich Engels die Abschaffung des Staates eine alte Phrase der deutschen Philosophie, von der wir viel Gebrauch gemacht haben, als wir noch einfältige Jünglinge waren.« Viele einfältige Jünglinge wurden seither dem stolzen Gegenstück zur Anarchie, dem zentralen Staat, geopfert, und immer wieder finden sich neue Rechtfertigungen für neue Opfer.

IV. Die Utopie des freien Mannes

Pierre Josephe Proudhon, von dem das heute viel zitierte und mißverstandene Wort »Eigentum ist Diebstahl« stammt, hat, soviel man weiß, als erster um 1840 die Idee der Anarchie als politisches Programm verstanden. »Ich bin Anarchist«, proklamierte er und betonte damit seine Abneigung gegen Monarchie und Republik. Er war entscheidend von Etienne de la Boetie, dem jungen Freund Montaignes, beeinflußt, der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Proudhon 300 Jahre später immer noch aktuell erscheinende Schrift verfaßt hatte: Von der freiwilligen Knechtschaft des Menschen. La Boetie fordert zur Illoyalität gegen die Gewalthaber auf, das Bewußtsein der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« vorwegnehmend. Der Tyrann habe doch nicht mehr Macht, als alle anderen ihm einräumen, räsoniert er. Er hatte Bauernkriege, Religionskriege, Absolutismus und die Klagen der kleinen Leute über mangelnde Gerechtigkeit und Gleichheit vor sich und verlangte nichts anderes als extensive Auslegung der Gesetze, in denen er Errungenschaften entdeckte, die in Vergessenheit geraten waren. So rief er die juristischen und philosophischen Auseinandersetzungen zwischen König und Volk ins Gedächtnis, die während des ganzen Mittelalters stattfanden. Der Theorie nach enthielt der Herrschaftsvertrag eine Klausel über das Widerstandsrecht. Einer Aufforderung, von diesem alten Widerstandsrecht Gebrauch zu machen, kommen folgende Sätze Boeties gleich: »Ach ihr armen Völker, die ihr so stumpfsinnig an all eurem Unglück festhaltet, ach ihr törichten Nationen, die ihr gegen euer Bestes so blind seid! Ihr lasset es geschehen, daß man euch eure Ernten stiehlt, daß man euch eure Wohnungen plündert und euren altererbten Hausrat verschleppt. Ihr führt ein Leben, als ob es euer höchster Ruhm wäre, kein Eigentum zu haben, als ob es euer größtes Glück wäre, eure Güter, ja selbst eure Familien nur halb zu besitzen. Und alles Unglück, das ihr erleidet, aller Schaden, den man euch antut, kommt nicht von euren Feinden, nein, euer ganzes Elend kommt vielmehr von einem einzigen Feind, und der ist nur darum so stark, weil ihr ihn so stark macht! Und ihr macht ihn erst dadurch so stark, daß ihr ihm erlaubt, euch jederzeit in den Krieg und in den Tod zu schicken.«

Etienne de la Boetie hat das plebiszitäre Aufbegehren seines Jahrhunderts zusammengefaßt. Er appellierte an die dem Menschen innewohnende Vernunft und an die naturgegebene Tatsache der »Gleichheit« aller. Damit wiederholte er das alte Thema ketzerischer Schriftsteller, die Frage nämlich, ob die Gleichheit vor Gott auch Gleichheit auf Erden bedeute. Erst zweihundert Jahre später verschafften die Erklärung der Menschenrechte und die Französische Revolution dem Prinzip der Gleichheit Gültigkeit. Dennoch bedeuteten »Freiheit« und »Gleichheit« auch dann immer noch nicht das selbe für alle. Deshalb die Verzweiflung des jungen Proudhon über den Stand der Regierungen in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, und deshalb die Bemühungen vieler Intellektueller in ganz Europa, die Idee von Freiheit und Gleichheit gegen die Macht der Restauration zu verteidigen.

Neue Staatskonzepte, neue Bewegungen weg vom alten Herrschaftsstatus hatten die Realität wenig verändert. Sozialismus und Kommunismus waren zwei der Schlagworte, mit denen man die Richtungen bezeichnete. Proudhon war bei seinen historischen Studien auf La Boetie und die Nationalökonomen gestoßen, weil er Begründungen für seine Ablehnung des Bestehenden suchte. Er proklamierte seine »Philosophie des Elends« in der Absicht, die steckengebliebene Revolution ihrem Ziele näherzubringen. Dabei begriff er die Anarchie als den anzustrebenden Idealzustand, der erreicht werden könne, nachdem die selbstauferlegten Zwänge abgeschüttelt seien: »Keine Regierung des Menschen durch den Menschen mehr, vermittels der Anhäufung der Gewalten! Keine Ausbeutung der Menschen durch den Menschen mehr, vermittels der Anhäufung der Kapitalien! Freiheit! Dies ist das erste und letzte Wort der sozialen Philosphie. Es ist seltsam, daß wir, nach so viel Schwankungen und Rückschritten auf der gefährlichen und verwickelten Bahn der Revolutionen, schließlich entdecken, daß das Heilmittel für so viel Elend, die Lösung so vieler Probleme darin besteht, der Freiheit eine freiere Bewegung zu verschaffen und die Schranken fallen zu lassen, welche die AUTORITÄT des Staates und des Eigentums gegen sie erhoben hat?«

Proudhon nennt Politik die Wissenschaft der Freiheit. »Regierung der Menschen durch den Menschen, gleichviel, unter welchem Namen sie sich versteht, ist Unterdrückung; die höchste Vollendung der Gesellschaft findet sich in dem Bunde der Ordnung und der Anarchie.«

V. Marx und Bakunin

Der Sozialismus des 19. Jahrhunderts ist undenkbar ohne Proudhon. Seine Auseinandersetzung mit Marx und Engels über die Rolle des Staates stützt die dem Marxismus konträre Position späterer Anarchisten: Bakunin, Kropotkin, Landauer. Marx lastete Proudhon, dem er im übrigen viel verdankte, das »Elend der Philosophie« an. Proudhon schleuderte Marx und Engels die Behauptung entgegen, die Verwirklichung der Anarchie habe bereits begonnen: »Die Idee der Herrschaftslosigkeit entfaltet sich wie zuvor diejenige der Abschaffung des Eigentums.« Der Autor der Feststellung, Eigentum sei Diebstahl, mußte sich freilich gegen Ende seines Lebens in seinen Hoffnungen getäuscht sehen.

Der von Proudhon postulierte Bund der Ordnung und der Anarchie entspricht der Auffassung Kants, Anarchie sei Freiheit und Ordnung ohne Gewalt. Aber: »Trotz seiner Bemühungen, eine feste Grundlage für seine Theorie zu schaffen, ist Proudhon ein Idealist und ein Metaphysiker geblieben. Er geht von dem abstrakten Begriff des Rechts aus, um erst dann zum ökonomischen Faktum zu kommen. Marx hingegen hat die unbestreitbare Tatsache ausgesprochen und bewiesen, die von der alten und modernen Geschichte der menschlichen Gesellschaft, der Nationen und der Staaten bestätigt wird, daß die ökonomischen Verhältnisse dem politischen und juristischen Recht immer vorangehen. Darin liegt eines der wichtigsten Verdienste des Herrn Marx.«  Michael Bakunin, der wie sein jüngerer Landsmann Peter Kropotkin aus der Sozialrevolutionären Bewegung Rußlands kam, schrieb dieses Urteil über seinen »Erzfeind« Marx gegen Ende seines Lebens nieder.

Staatlichkeit und Anarchie ist die 1972 in Berlin übersetzte (Verlag Karin Kramer) Schrift betitelt, die den erbitterten Streit rekapituliert, in dem Marx und Bakunin um die Prinzipien von Kommunismus und Anarchismus rangen und an dem schließlich die Internationale zerbrach. Marx und Bakunin waren ebenbürtige Gegner in diesem Kampf der Theorien, beide Hegelianer, wohlvertraut mit der ökonomischen und historischen Literatur sowie den realen politischen Verhältnissen in den europäischen Staaten. Bakunin warf Marx und Engels Scharlatanerie vor, weil sie mit Hilfe der Revolution nichts anderes erreichen wollten, als einen Staat durch einen anderen ersetzen. Die Diktatur des Proletariats sei eben nach wie vor eine Diktatur und als solche bestrebt, an der Macht zu bleiben. Daß außerdem ein solcher Staat dem Kommunismus widerspreche, weil er immer nur wieder die Herrschaft einiger Auserwählter über alle bedeute und das Prinzip der Freiheit niemals verwirklichen könne, wird Bakunin nicht müde zu wiederholen.

In seiner Rede auf dem Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga in Bern 1868 ruft er aus: »Ich hasse den Kommunismus, weil er die Verneinung der Freiheit ist, und weil für mich die Menschlichkeit ohne Freiheit unbegreiflich ist. Ich bin kein Kommunist, weil der Kommunismus zugunsten des Staates alle Kräfte der Gesellschaft konzentriert und absorbiert, weil er unvermeidlicherweise das Eigentum in den Händen des Staates konzentriert. Ich hingegen wünsche die Aufhebung des Staates, die vollständige Ausrottung des Autoritätsprinzips und der Schutzherrschaft des Staates, der unter dem Vorgeben, die Menschen moralisch zu machen und sie zu zivilisieren, sie bis jetzt nur geknechtet, bedrückt, ausgebeutet und demoralisiert hat. Ich wünsche die Organisation der Gesellschaft und des gesellschaftlichen Eigentums von unten herauf auf dem Wege der reinen Assoziation und nicht von oben herab durch irgendwelche Autorität, also wünsche ich die Abschaffung des Staates... In diesem Sinne bin ich Kollektivist und keineswegs Kommunist.«

Karl Marx betonte in dem Streit mehrmals, daß auch für ihn die Abschaffung des Staates am Ende des revolutionären Weges stünde, er sieht ihn als vorübergehende Notwendigkeit an. Bakunin nahm ihm diese Behauptung nicht ab, weil er eben diese Notwendigkeit nicht anerkennen konnte. Er konnte nicht um der Erreichung des Zieles willen das Ziel selber aufgeben. Dieser Punkt hat in den etablierten kommunistischen Staaten immer eine Rolle gespielt. Selbst Stalin verhieß 1930, daß die höchste Entwicklung der Staatsmacht die Vorbereitung der Bedingungen für das Absterben der Staatsmacht sein müsse, und Wolfgang Harich kommt in seiner Auseinandersetzung mit dem Anarchismus darauf zurück, wenn er die Gemeinsamkeiten aufzeigt und versucht, die Anarchisten von der Notwendigkeit des Staates zu überzeugen. »Revolutionäre Ungeduld« wirft er ihnen vor, nicht bedenkend, daß die Anarchisten mit der Verwirklichung ihres Ideals lieber unendlich lange warten und es im Kleinen, Schritt für Schritt zu bewahren versuchen, während die Kommunisten, wahrhaft ungeduldig, nach dem Staat greifen, um mit Gewalt das Volk für einen später zu schaffenden gewaltlosen Zustand gefügig zu machen.

Michael Bakunins Polemik gegen Marx und Engels schien diesen gefährlich zu werden. Bakunin schlug sogar vor, die Organisation der Internationale durch eine freie Vereinigung zu ersetzen. Es war gewiß ein Kampf um Macht, der hier stattfand und in dem Bakunin unterlag. Aber der Vorstoß war gemacht. Dank der gewaltigen Anstrengungen von Marx und seinen Anhängern, Bakunin und den Anarchismus zu diskreditieren, wobei sie mit Intrigen und Verleumdungen nicht sparten, wie der jüngst im Encounter veröffentlichte Brief Bakunins an Netschajew beweist, geriet die Idee sowohl im sozialistischen wie im bürgerlichen Lager nachhaltig in Verruf. Bakunin beobachtete die Entwicklung der deutschen Politik in den siebziger Jahren sehr genau und stellte mit Genugtuung fest, wie wenig praktikabel das marxistische Programm in der politischen Realität war. Er kritisiert den Marx'schen Proletariatsbegriff und erkennt zum ersten Mal, seinen russischen Erfahrungen entsprechend, die Rolle des intellektuellen Proletariats. Ganz und gar ablehnend steht er dem gegenüber, was Marxisten »Wissenschaftlichen Sozialismus« nennen. Bakunin fürchtet, daß hier nichts anderes als eine, wenn auch vorübergehende, Oligarchie von Auserwählten entsteht. Die Bevormundung des Volkes, die auch bei der Emanzipation des Proletariats »durch das alleinige und einzige Mittel des Staates« bestehen bleibe, kann er nicht akzeptieren. Zugleich gesteht er Marx, Engels, Lassalle und den sozialistischen Politikern in Deutschland zu, daß sie niemals mit einer wie immer gearteten Revolution in Deutschland rechnen könnten. Nicht nur sei die Revolution den Deutschen von Natur aus zuwider, da sie staatsorientiert seien. »Schließlich ist es deshalb unmöglich, in Deutschland eine Revolution zu erwarten, weil es im Geist, Charakter und Wesen des Deutschen wirklich äußerst wenig revolutionäre Elemente gibt. Der Deutsche wird immer vor jeglicher Autorität, selbst vor dem Kaiser, die Rolle des Raisoneurs spielen. Er wird nie aufhören zu räsonieren. Aber selbst diese Geisteshaltung, die, wenn man so sagen will, seine moralischen und geistigen Kräfte verbraucht und ihn daran hindert, sich auf sich selbst zu besinnen, schützt ihn vor der Gefahr einer revolutionären Explosion.«

Das Räsonieren widersprach Bakunins Philosophie der Tat. (Das berüchtigte Schlagwort »Propaganda durch die Tat« stammt nicht von ihm. Auch die ihm zugeschriebene Mystifizierung der Gewalt geht, wie die jetzt bekanntgewordenen Quellen beweisen, auf Intrigen zurück oder überhaupt auf das Konto Netschajews.) Handeln schien ihm die unausweichliche Konsequenz allen Denkens. Handeln bedeutet Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit und Liebe. Bakunin erkennt kein anderes moralisches Gesetz an als das der Freiheit. Die Freiheit des einzelnen aber ist nur dann wirkliche Freiheit, wenn sie sich eins weiß mit der Freiheit des anderen. Die Anerkennung des anderen ist eine Maxime, deren Befolgung jegliche Herrschaft überflüssig macht. Die autoritären Sozialisten hielten und halten diese Auffassung für sentimental und nicht praktikabel. Bakunin selbst hat seinem Prinzip getreu gelebt. Mit kleinen Föderationen müsse man den Anfang machen, um das Monstrum Staat, ein geschichtlich notwendiges Übel, von unten her abzubauen. In kleinen Gemeinschaften kann sich das Miteinander der Individuen anarchisch vollziehen - eine Vorstellung, die sich bei Kropotkin, Gustav Landauer und über ihn bei Martin Buber und den Kultur-Zionisten wiederfindet.

VI. Die Frage der Gewalt

In einem 1896 konzipierten Vortrag, den er in Paris halten sollte, aber nicht halten durfte, weil die Veranstaltung wegen seines Auftretens verboten wurde, formulierte der russische Revolutionär Peter Kropotkin die »anarchistische Moral« folgendermaßen: »...das Prinzip, andere zu behandeln, wie man selbst behandelt sein möchte - was ist es anders als das Gleichheitsprinzip, das Grundprinzip der Anarchie? Und wie kann man dazu kommen, sich für einen Anarchisten zu halten, ohne es zu praktizieren.«

Dieser Satz zielt auf die Aktionen von Terroristen, die sich Anarchisten nannten und »Propaganda durch die Tat« mit Gewalttat gleichsetzten. Eine Reihe von Attentaten in den neunziger Jahren des vorigen und bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts wurden Anarchisten zur Last gelegt. Teils hielten sich diese Leute dafür, wie Emil Henry, der 1892 eine Bombe in ein Pariser Cafe warf und auf die Anklage, er habe unschuldige Menschen getötet, dem Richter antwortete: »Es gibt keine Unschuldigen!« Henry wurde hingerichtet. Er, wie viele seiner Nachahmer und andere revolutionäre Fanatiker, hatte nicht begriffen, daß An-archie der Idee und dem Namen nach absolute Freiheit, das heißt unbedingte Abwesenheit von Herrschaft, Unterdrückung, Gewalt ist, »Gesetz und Freiheit ohne Gewalt«, um Kants Definition zu wiederholen. Sozialisten wie bürgerlichen Radikalen kamen solche Terrorakte gleichermaßen gelegen. Man sprach mehr von ihnen als von nationalistisch motivierten Anschlägen, und noch heute bewegt sich die Ablehnung des Anarchismus in dieser Tradition. Die Kommunisten sind bekanntlich im Umgang mit Gewalt nie zimperlich gewesen, aber die Anwendung »ordentlicher« Gewalt durch den mit der Macht dazu ausgestatteten Staat ist eben eine andere Sache. Das Verhältnis von Macht und Gewalt ist theoretisch noch ganz ungeklärt und wird in der Praxis kaum zueinander in Beziehung gesetzt, wie Hannah Arendt u.a. ausführt.

Macht und Gewalt sind für Anarchisten keine Kriterien. Dem Grundprinzip der Freiheit und Gleichheit aller, der Gerechtigkeit gegen alle und »der gegenseitigen Hilfe« (Kropotkin), die daraus folgt, entsprechend, kann es keine Gewalt geben, und an der Macht werden Anarchisten auch dann nicht sein, wenn je die Menschheit aus lauter Anarchisten bestünde. Mit Entschiedenheit haben darum Anarchisten wie Errico Malatesta (1), Kropotkin, Landauer wiederholt, was Proudhon schon betont und Bakunin gelebt hatte: »daß Menschen töten nicht dasselbe ist wie: Einrichtungen abschaffen, Prinzipien töten und die Sitten wandeln!«

»Sozialist ist nicht, wer infolge von Gewalt vergewaltigt«, schrieb Landauer 1912. Sieben Jahre später wurde er, nachdem er sich der ersten Räterepublik in München zur Verfügung gestellt und danach mit den Kommunisten gebrochen hatte, von der Reaktion ermordet.

Mehr als fünfzig Jahre nach Landauers Tod steht die anarchistische Bewegung in der Welt vor derselben Frage: wenn Anarchisten sich mit der Macht einlassen, wie Harich vorschlägt, sind sie verloren, wenn sie zu Gewalt greifen, ebenso. Der Verrat an der Idee »Herrschaftslosigkeit« gleich Gewaltlosigkeit bedeutet unwiderruflich Abkehr vom Anarchismus. Landauer sagte in Anlehnung an Bakunin und Kropotkin, die Anarchie sei dort, wo es Anarchisten gibt, »solche Menschen, die keine Gewalt mehr üben.« Aber mit diesen warnte er vor jeglichem Doktrinarismus: anderen die Idee aufzwingen wollen, sei abermals ein Grundirrtum. Anarchie wird »nie auf dem Wege der Invasion oder der bewaffneten Eroberung zur Welt kommen.« Hier findet sich die anarchistische Interpretation der »Propaganda durch die Tat«. Nicht der Pazifismus Tolstois ist gemeint, der gesagt hatte, man solle nicht die Fürsten töten, sondern ihnen klarmachen, daß sie nicht töten dürfen. Solches Räsonieren wird die Welt nicht ändern. Selbst keine Gewalt ausüben, die Freiheit des anderen anerkennen und zugleich alles tun, ihm, dem anderen, seine Freiheit zu ermöglichen, erfordert unablässiges Handeln: das heißt Propaganda durch die Tat. Nicht die großen Revolutionen, zu denen Massen aufgefordert, angeführt, befehligt werden müssen, sind die gerechte Sache der Menschheit, sondern die angewandte anarchistische Moral im kleinen Bereich.

Das erfordert Disziplin und Härte in der intellektuellen Auseinandersetzung, Unerbittlichkeit der Argumentation. Man kann nicht die geringsten Zugeständnisse an die Gewalt machen, auch nicht mit dem Hinweis auf Gewaltanwendung der anderen Seite. So gesehen war das Vietnam-Argument ein fürchterlicher Beweis: die allgemeine Eskalation der Gewalt, die Gegengewalt auslöst. So betrachtet demonstrieren die Selbstverbrennungen aus Protest die totale Ohnmacht, aber Gewaltanwendung gegen sich selbst akkumuliert Gewalt genau so wie Gewaltanwendung gegen andere. Der Anarchie dient das Opfer, diese Gewalt nicht anzuwenden.

VII. Anarchisten und Sozialrebellen

In seiner Studie über Sozialbewegungen im 19. und 20. Jahrhundert stieß Eric J. Hobsbawm auf wiederkehrende archaische Strukturen. Sie tauchten immer dort auf, wo Menschen aus Anpassungsschwierigkeiten im Zuge der Industrialisierung sich zu Banden zusammenschlossen. Hobsbawm nannte sie »Sozialrebellen« (Neuwied 1962). Es ist zu fragen, wie weit, was als Anarchismus ausgegeben wurde, nicht unter Sozialrebellion zu rubrizieren ist. Beiden gemeinsam ist die Vereinzelung, in die Anarchisten wie Sozialrebellen sich begeben. Gemeinsam ist ihnen auch die Spontaneität des Protestes gegen die sie umgebenden Zwänge, die sie als Gewalt empfinden, und mit der Vereinzelung wie mit dem Freiheitsdrang, dem Bedürfnis, die Zwänge abzuschütteln, hängt zweifellos auch die steigende Selbstmordquote zusammen. Technisierung, Modernisierung, Vermassung lassen unzählige nicht nur junge Leute als Geröll am Rande des Stromes allein. Isolierung, totale Privation, die sich in Drogensucht, Selbstmordlabilität oder Kriminalität aufheben kann, sind die häufigste Folge. An diesem Punkt spätestens beginnt die »Flucht in die Bande« (Harry Pross, 1956).

Erfüllt für die Sozialrebellen die Bande und damit das Rebellentum einen primären Zweck als Integrationsersatz, als Manifestation von »etwas«, wo vorher »nichts« war, so nimmt die Gruppe, die Vereinigung, die Föderation bei den Anarchisten untergeordneten Rang ein. Anarchisten eint das Bekenntnis zur Idee, die aus dem Gruppenegoismus zu Altruismus führen soll. Diese Idee ist sozialistisch im ursprünglichen Sinn. Sie basiert auf Gegenseitigkeit, sie ist mutualistisch.

Hobsbawm führt italienische und osteuropäische Räubergeschichten an, um zu verdeutlichen, wie Sozialrebellen zu legendären Figuren werden. Zweifellos gibt es so etwas wie den anarchischen Urgrund der Gesellschaft, der aus dem Freiheitsbewußtsein in jeder Brust sich speist und auf dem Sympathien für jede Art von Rebellentum wachsen. Das beweist die Anteilnahme an dem kassenfüllenden Film über Bonnie und Clyde. Das belegt auch die Berichterstattung über Baader-Meinhof, die zeigt, daß gewalttätige Außenseiter für das Volk auch etwas anderes bedeuten als bloße Schreckensnachrichten. Die allgemeine Anteilnahme an profilierten Verbrechen hat auch etwas zu tun mit der Last der Gesetze, die jeden bedrückt. Dennoch wird man eben dies nicht für Anarchismus erklären können. Die Absage an das herrschende Gesetz und die Absage an die Gewalt zu unterscheiden und auf das peinlichste zu differenzieren, wird in den nächsten Jahren für die Opposition in Ost und West lebenswichtig sein. Die Idee des Anarchismus stellt die große Frage an alle Institutionen: ob nicht mehr Gewalt ist, als der Stand der Zivilisation erfordert. Anscheinend haben Gesetzeshüter wie Gesetzesbrecher noch nicht verstanden, daß Gewalt nur ein aus Herrschaft abgeleiteter Modus ist, der wieder zu Herrschaft führt, und zwar rein instrumentell. Die Konfrontation, wie sie Baader-Meinhof angestrebt haben, ist so bar jeden Sinnes, weil Gewalt längst obsolet geworden ist.

VIII. Die Zukunft der Anarchie

Die Profanierung des göttlichen An-archos durch die Aufklärung und den modernen Relativismus scheint unwiderruflich. Die Gottähnlichkeit des Menschen ist für das europäische Denken zu einem Vehikel menschlicher Freiheit von Unterdrückung geworden. Der Anarchismus hat in der breiten Palette der Philosophien, die hierauf gründen, viele Varianten. Als radikale Philosophie der Freiheit ist er politisch geworden und hat sich gegen die Politik selber gewendet. Walter Benjamin sah in Bakunin den letzten Vertreter einer radikalen Freiheitslehre in Deutschland. Seitdem haben die radikale Unfreiheit des Nationalsozialismus und der große Gleichmacher Tod im Zweiten Weltkrieg, zu dem auch die Kolonialnachfolgekriege in Asien, Südamerika und Afrika noch zu rechnen sind, die Sensibilität für Ungleichheit verbreitert. Die Ansprüche an Freiheit nehmen zu, und politische Systeme, die sich nicht auf die freiwillige Zustimmung ihrer Bevölkerung stützen können, dürfen es dennoch kaum wagen, sich mit nackter Gewalt behaupten zu wollen. Sie greifen zu den Mitteln der Indoktrination, sie manipulieren die Psyche, um sich zu retten. Die Idee des Anarchismus hat eine große Zukunft überall dort, wo erkennbar wird, daß neben den Mitteln und Methoden des physischen Zwanges, gegen die der politische Anarchismus von Proudhon sich wandte, die verfeinerten Methoden ideologischer Macht den Menschen unfrei machen. Freilich beruht er selber auf dieser Macht der Idee, und so werden nur diejenigen Anarchismen überzeugen und Boden gewinnen, die sich im Handeln beweisen und so hinfällig gewordene Zwänge überwinden.

Alexis de Tocqueville schrieb im vierten Teil seiner Demokratie in Amerika, wo er den Einfluß der Ideen und der demokratischen Sentiments auf die politische Gesellschaft untersuchte, einleitend, die Gleichheit bringe im Effekt zwei Tendenzen hervor: die eine führe die Leute stracks zur Unabhängigkeit und könne sie plötzlich bis zur Anarchie treiben, die andere führe sie über einen längeren, geheimeren aber sichereren Weg zur Knechtschaft. Tocqueville erklärte sich für die Gleichheit wegen ihres Mangels an Fügsamkeit, und: »Je suis convaincu toutetois que Tanarchie n'est pas le mal principal que les siecles democratiques doivent craindre, mais le moindre.« (II, 393). Die Zukunft der Anarchie korrespondiert mit der Fügsamkeit der Massen. In einer sozialen Organisation, die auf die Intelligenz, die Entscheidungsfähigkeit und das unkontrolliert »richtige« Verhalten so vieler angewiesen ist, um überhaupt funktionieren zu können, bildet sich notwendigerweise ein großes Potential von Unfügsamkeit. Aus ihm treten die potentiellen Anarchisten hervor, sobald sie die Idee zu fassen kriegen. Amerika gibt in seiner Zerrüttung das Beispiel; aber auch das Sowjetsystem ist nicht gegen die Nachfahren Bakunins und Kropotkins und des Aufstandes von Kronstadt lebensversichert.

So steht zu erwarten, daß die neue Heilige Allianz zwischen Washington, Moskau, Peking und Brüssel die dazugehörige Demagogenverfolgung gegen die Anarchisten richten wird. Die Gleichsetzung von Terroristen und Anarchisten ist die Lebenslüge dieses Feldzuges; sie ermöglicht, die Idee zu denunzieren und die abständige Gewalt zu erneuern.

Christa Dericum

Fußnote:
1.)Vgl. Max Nettlau: Die revolutionären Aktionen des italienischen Proletariats und die Rolle Errico Malatestas, 1922. Neuauflage Berlin 1973.

Originaltext: Zeitgeist Nr. 23, 1973, 15. Jahrgang. Digitalisiert von www.anarchismus.at