Historischer Zeitungsartikel zu Emma Goldman - Die Frau als Anarchistin

Redaktionelle Vorbemerkung

Am 10. September 1901 berichtete die "Castroper Zeitung" über das am 6. September von dem Anarchisten Leon Czolgosz verübte "Mordattentat auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Nordamerika" William McKinley. "Seit Lincoln", hieß es in dem Artikel "hat Niemand mehr für die Größe und die Macht der Vereinigten Staaten gethan als MacKinley. Vom europäischen Standpunkte aus erscheint seine imperialistische Politik vielfach bedenklich und verhängnisvoll, vom amerikanischen ist sie trotz aller ihrer Miß- und Übergriffe hoher Bewunderung werth. Ob das Attentat des anarchistischen Meuchelmörders, eines Polen Namens Czolgosz, sich gegen diese Politik im Allgemeinen richtete oder bloß der Niederschlag der durch den großen Eisenarbeiter-Ausstand erhitzten Leidenschaften war, bedarf noch der Aufklärung. " [1] In der folgenden Ausgabe hieß es in einem Artikel "Zum Mordanschlag auf McKinley", Czolgosz habe erklärt, "daß er lediglich unter dem Einfluß anarchistischer Schriften gehandelt" und "keinen Mitwisser (habe)". Das angesprochene anarchistische Milieu wurde direkt im Anschluß in einem kurzen Artikel "Die Anarchisten" ausgeleuchtet: "Schon wieder hat ein fluchwürdiger Verbrecher die Hand gegen ein Staatsoberhaupt erhoben, und uns vor die bange Frage gestellt, wohin der furchtbare Wahnwitz führen soll, der in den letzten Jahren die Welt so oft mit Entsetzen erfüllt hat. Seit der verbrecherischen That des Anarchisten Caserio gegen den Präsidenten Carnot vor wenig mehr als 7 Jahren hat dieser Abschaum der Menschheit so furchtbar oft Beispiele seiner jeden Vorstellungsvermögens spottenden Gesinnung gegeben, daß die anarchistische Gefahr thatsächlich als die größte für ein Staatswesen und ihre Bekämpfung als die erste Pflicht jedes Volkes und jedes einzelnen seiner Glieder angesehen werden muß. Dem Anarchisten Luccheni fiel die Kaiserin Elisabeth von Österreich in Genf, dem Anarchisten Bresci König Humbert von Italien in Monza zum Opfer. Die That in Buffalo ist einfach unbegreiflich. Läßt der verbrecherische Wahnwitz, der den Mordgedanken gegen gekrönte Häupter gebiert, noch eine Spur von Logik erkennen, insofern es sich um ein Staatsoberhaupt handelt, das durch das Recht seiner Geburt und für die Zeit seines Lebens Herr im Landes ist, so entbehrt die Ermordung eines Präsidenten, der doch nach kurzer Amtsthätigkeit sowieso wieder von dem Gipfel verschwindet, jede Möglichkeit, auch nur eine einzige Erklärung für sie zu finden. Es ist eben nicht anders, die Anarchisten sind reißende Thiere, jeder menschlichen Regung bar, und daher ist es ein Gebot der Selbsterhaltung, daß die Staaten gegen diese Verbrecherbande mit den schärfsten Ausnahmegesetzen vorgehen. Wenn Anarchisten, die doch ohne Ausnahme zu den Königs- und Präsidentenmördern in mehr oder weniger nahen Beziehungen stehen, öffentliche Versammlungen veranstalten, eigene Zeitungen herausgeben und sich gebärden dürfen, wie jeder andere Staatsbürger eben nur auch, dann begeht der Staat, der dies duldet, bereits eine Unterlassungssünde, die sich unter Umständen in furchtbarster Weise strafen kann. Internationale Bekämpfung zersplittert nur die Kräfte, jeder Staat fege vor seiner Thür, aber so gründlich, daß von dem verbrecherischen  Geschmeiß auch nicht ein einziges Individuum übrig bleibt. In Deutschland ist die Zahl der Anarchisten ja gottlob noch verhältnismäßig gering und hier wäre es wohl möglich, das Gesindel, das so wenig eine Existenzberechtigung hat wie das schlimmste Ungeziefer, vollständig auszurotten." [2]

Zwei Tage später wurde in der folgenden Ausgabe aus den "von dem Mordbuben zu Protocoll gegebenen Aussagen" zitiert: "Ich bin vor 29 Jahren in Detroit geboren, meine Eltern waren russische Polen, die vor 42 Jahren nach Amerika kamen. Ich habe viele Bücher über Socialismus gelesen und viel mit Socialisten verkehrt, bin auch selbst in den westlichen Staaten als Socialist ziemlich gut bekannt. Ich habe ebenfalls unter den Anarchisten im Osten viele Freunde, und nachdem ich persönlich viel Unglück gehabt hatte, wurde ich verbittert und neidisch, und als ich schließlich den anarchistischen Vorlesungen der bekannten Emma Goldmann wiederholt beigewohnt hatte, wurde der wüthende Drang, Jemand zu tödten, übermächtig in mir. Diese Dame enthusiasmirte mich mit der Doctrin,  daß alle Herrscher der Welt vertilgt werden müßten, und ich war schließlich fest überzeugt, daß ich berufen sei, etwas Heroisches für die Sache zu thun, der ich zugeschworen hatte. Ich kam vor acht Tagen von Chicago nach Buffalo mit dem festen Entschluß, den Präsidenten zu erschießen, ohne jedoch einen festen Plan betreffs der Ausführung dieser Idee zu haben. Der Entschluß, den Präsidenten zu tödten, wurde mit jedem Tage fester in mir, und ich kaufte schließlich den Revolver und die nöthigen Patronen."

"Die verhaftete Anarchistin Emma Goldmann", so hieß es in dem Artikel weiter, "leugnete zuerst, die Gesuchte zu sein. Als sie von der Polizei vernommen wurde, erklärte sie, daß sie den Attentäter Czolgosz nur einmal gesehen habe, und zwar am 7. Juli, als er im Hause der Familie Isaaks in Chicago, wo Emma Goldmann war, gewünscht hatte, sie zu sprechen; sie sei aber gerade fortgegangen, um sich zur Eisenbahn zu begeben. Er habe sie dann zum Bahnhofe begleitet und nur einige Worte mit ihr ausgetauscht. Sie leugnete, daß sie irgend etwas gesagt habe, was darauf berechnet gewesen sei, Czolgosz zu dem von ihm begangenen Verbrechen zu verleiten. Isaaks, der bereits in Haft sich befindet, ist angeblich der Herausgeber anarchistischer Schriften. Morris, in dessen Hause Emma Goldmann angetroffen wurde, wurde ebenfalls verhaftet. Emma Goldmann wird angeklagt, mit Isaaks und anderen bereits Verhafteten sich verschworen zu haben, McKinley zu ermorden." [3]

Nachdem in der folgenden Ausgabe der "Castroper Zeitung" der Tod McKinleys gemeldet worden war, folgte eine Ausgabe später ein Artikel "Bestien in Menschengestalt", in dem die "internationale Solidarität der Völker gegenüber den Bestien in Menschengestalt" beschworen und anschließend gefordert wurde, "daß man in Nordamerika, wo man lange viel zu schwach den Bestrebungen des Anarchismus gegenüberstand, nun endlich Einsehen haben und Menschen, die keine Menschen sind, auch so behandeln möge, wie sie es verdienen". "Es gibt nur wenige Thiere", so hieß es weiter, "die zwecklos, aus reinem Blutdurst morden. Und sie werden schonungslos vernichtet. Ist ein Mensch, der Sinn, Vernunft und Verstand hat, etwa geringer einzuschätzen und milder zu behandeln, weil er weiß, was er thut, während ein unvernünftiges Geschöpf davon keine Ahnung hat? Doch just im Gegentheil. Wer auf Mitleid Anspruch erheben will, der muß doch mindestens eine Spur von mildernden Umständen beibringen, und die fehlen im vorliegenden Falle geradeso, wie in den früheren. Seltsame, excentrische Leute reden von einem politischen Verbrechen. Aber das 'politische' ist hier nichts wie Redensart. Im 'classischen' Alterthum Griechenlands war der Tyrannenmord eine lobenswerthe That, aber wo sind die heutigen Staatsoberhäupter Männer, die den freien Volkswillen irgendwie wehren können? Doch nicht einmal in der Einbildung. Und nun gar alle diese anarchistischen Opfer: McKinley, König Humbert, die Kaiserin Elisabeth, Präsident Carnot usw. Es ist traurig, daß man es überhaupt für möglich halten muß, daß gegen sie diese Schandthaten in Scene gesetzt wurden. Mit eisernem Besen muß dieser Verbrecherwinkel ausgekehrt werden, rücksichtslos muß mit diesen Elementen Abrechnung gehalten werden, und Abrechnung heißt Vernichtung. Man sollte - ohne der Gerechtigkeit vorzugreifen - auf ein endlos langes Gerichtsverfahren sich gar nicht einlassen, welches die Wirkung des Urtheils schließlich verblassen läßt. Kurz und scharf, wie die That, so auch die Rechtsprechung, und diese sollte nur auf den Tod lauten. Wir leben in einem Zeitalter der Humanität, wir erkennen Jedem sie zu, aber es ist doch selbstredend, daß sie da nur am Platze ist, wo auch Jedem gegenüber Humanität geübt werden soll. Wer sich unter das Vieh mit seinen Leidenschaften herabwürdigt, der soll sich auch nicht wundern, und darf sich vor Allem nicht wundern, wenn er entsprechend behandelt wird. - Und so muß er behandelt werden, gerade zum Schütze der Humanität, die sonst leeres Phrasenthum wird!"

Abschließend wird noch gemeldet, daß "der Anarchist Johann Most dem Gerichte vorgeführt (wurde). Der Richter erklärte, er glaube nicht, daß der in Most's Blatt erschienene Hetzartikel mit dem Verbrechen in Buffalo in Verbindung stehe. Most wurde darauf gegen eine Bürgschaft von 500 Dollars freigelassen." [4] In der nächsten Ausgabe der "Castroper Zeitung" erschien dann der im folgenden dokumentierte Artikel "Die Frau als Anarchistin". [5]


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Die Frau als Anarchistin

Emma Goldmann, die vielgenannte Anarchistin, die den Verüber des Attentats auf den Präsidenten McKinley zu diesem Verbrechen inspirirt haben soll, deren Bild wir vorstehend bringen, ist der Typus der russischen Nihilistin, die, aus ihrem Heimathlande entwichen, auch im neuen Vaterlande den wahnwitzigen Grundsätzen ihres Glaubens getreu bleibt. Es ist zwar ursprünglich zwischen Nihilismus und Anarchismus ein gewaltiger Unterschied. Aber der erstere führt leicht zum letzteren, wie die Thatsache zeigt, daß die Anarchisten sich vorzugsweise aus den Reihen der Nihilistinnen rekrutiren.

Man ist im allgemeinen sehr wenig darüber unterrichtet, was denn eigentlich eine richtige Anarchistin ist, wie sie das geworden ist, was sie ist, womit sie ihre Zeit verbringt, wie sie sich mit ihrem Gewissen abfindet, mit den Lehren der Religion, der Sitte, den Staatsgesetzen und den Gesetzen ihres Geschlechtes. Viele halten sie für etwas wie eine wild gewordene Art Apostel der Frauenemancipation. Sie ist aber nichts weniger als das. Die echte Anarchistin ist zum Theil Enthusiastin, zum Theil Mystikerin und Fanatikerin, zum Theil Verbrecherin. Sie gibt sich ganz und gar ihrer Sache hin, opfert dieser alles und sieht den kommenden Leiden und dem Tod mit der Ruhe einer religiösen Märtyrerin entgegen. Diese Eigenschaften, die man in ihrer ganzen Vollendung fast nur bei der Sklavin findet, machen die echte Anarchistin aus. Sie ist, wie Apostel gewöhnlich, ganz urplötzlich "bekehrt" worden. Sie hat irgend etwas irgendwo gelesen oder gehört, das ihr die neue Welt eröffnet. Und von der Stunde dieser Erleuchtung an ändert sie ihr Dasein, ihre Lebensziele. Von nun an widmet sie sich mit einem Eifer, der eines besseren Zieles würdig wäre, mit der ganzen Hingebung, deren das Weib, und nur das Weib, fähig ist, der Förderung ihres neuen Ideals. Ihr glühender Haß wendet sich gegen alles, was sie über Bord geworfen; sie unternimmt fortan jedes, auch das todtbringende Wagniß, um ihre Ueberzeugung zu bethätigen. Vor allem aber wird sie eine begeisterte Priesterin, eine Predigerin, Inspiratorin, eine Art Jeanne d'Arc, die mit der "Oriflamme" ihre Truppen zum Kampfe führt. Eine der hervorragendsten und bekanntesten Anarchistinnen dieser Art war Sophie Perovskaya, die Mitmörderin des Zaren Alexander II. Sie war nicht, wie so viele ihrer anarchistischen Mitschwestern, aus einer niedrigen Volksclasse hervorgegangen, im Gegentheil eine Dame von Geburt und Erziehung. Ihr Vater, ein russischer General, war Militärgouverneur von Petersburg. Den ersten Anstoß zu ihrer Verirrung gab ihr die Lectüre berühmter Socialisten, wie Marx und Lassalle, aber auch englische Schriftsteller, John Stuart Mill und Buckle, hatten auf sie den tiefsten Eindruck gemacht. Nun drängte es sie, ihre Idee auch anderen mitzutheilen. Ohne sich um die socialen Folgen zu kümmern, die ein Schritt, wie sie ihn plante, in Rußland haben würde, verließ sie ihr Elternhaus und stieg zur gemeinsten Menge hernieder. Ihr Ziel war die Wiedergeburt ihres Volkes; die Mittel, die sie hierfür wählte - es waren dieselben, die nachher zu so fürchterlichem Erfolge führten.

Dieses junge und verwöhnte Mädchen, der Stern ihrer Gesellschaftskreise, der Abgott ihrer Eltern, kleidete sich fortan dem armseligsten Weibe gleich; nicht einmal einen Hut setzte sie mehr auf, sondern wickelte einen Shawl um ihren Kopf, wie die Frauen der untersten russischen Classen das thun. Ihre Genossen waren grobe, handfeste, junge Kerls, die von keinen höflichen Sitten etwas wußten, und denen Sittlichkeit ein hohler Begriff war. Nicht daß sie gerade die Unsittlichkeit offen auf ihr Panier geschrieben hätten! Aber kleinbürgerliche Fragen kamen bei Leuten, die höhere Dinge erstrebten, überhaupt nicht in Betracht, sie waren ihnen Nebendinge, über die man garnicht nachdenkt und spricht. Sophie galt unter ihnen als die Frau irgend jemands, gleichgiltig wessen. Man las Bücher miteinander, plante und complottirte. Sie war von Haus aus ein zartes Geschöpf, und dieser Umstand bereitete ihr viel Unannehmlichkeiten. Denn bei ihrer jetzigen rohen Sippe galt Kränklichkeit, galten weiße, gepflegte Hände als etwas unsäglich Verächtliches. Und nun gar körperliche Sauberkeit! Die wurde fast absichtlich auf das äußerste verpönt, ein Punkt, über den Sophie nicht so leicht hinwegzukommen vermochte. Sie trainirte sich deshalb in jeder Weise, um sich zu vergröbern. Sie schleppte die schwersten Lasten auf ihren schwachen Schultern, auf Kopf und Rücken, und brachte sich so nach und nach ganz auf das Niveau ihrer Umgebung. Sie führte mit ihren Spießgesellen ein Zigeunerleben. Viele von ihnen hatten weder Schlafstätte noch Behausung. Am Tage von der Polizei gehetzt, schmiedeten sie des Nachts ihre Complotte. Einige gaben Sophie bei sich Unterschlupf, andere sandten sie zu Freunden. Verbotene Bücher und Schriften, die sie mit einander lasen, mußten von Ort zu Ort geschmuggelt werden. Ein Gelöbniß band diese Gesellschaft nicht. Es war auch überflüssig; denn Niemand wurde zugelassen, der nicht von zuverlässigen Genossen als feste Hand und ganzer Kerl eingeführt worden war.

Einige Tage vor der Ausführung des Complottes gegen den Zaren wurde Tscheljabow, einer der Hauptverschworenen dieser Gesellschaft, ins Gefängniß geschleppt. Ihm war die Aufgabe geworden, den Mordgesellen das Nahen des Kaisers anzuzeigen. Sophie sprang sofort für ihn ein und übernahm seinen Platz. So wartete die Anarchistin auf dem Kai ihres Opfers. Ruhig schritt sie auf und nieder, bis plötzlich der Schlitten des Zaren sichtbar wurde. Da gab sie das verabredete Signal und sah mit eigenen Augen die That gethan: den Kaiser in der fürchterlichsten Weise zerschmettert. Und dieses selbe Weib starb, da sie wenige Wochen später hingerichtet wurde, als sähe sie die lieben Englein und sich auf ihren Flügeln ins Elysium getragen. Sie, die an nichts glaubte, als an den Anarchismus.

Die Perovskaya ist der echte Typus des anarchistischen Weibes. Man findet freilich rauen genug in Anarchistenkreisen, aber sie sind meist keine Typen, sie gehen eben nur so im Gros der Partei mit. Ihnen fehlt alles, was die Wahnwitzigen auszeichnet: der perverse Enthusiasmus für ihre Sache, die Hingebung, und der wohl im Grunde pathologische Drang zum Märtyrerthum. Denn nur diese Eigenschaften kennzeichnen das echte, zum Anarchismus verirrte Weib.

Da war einmal eine andere Anarchistin, gleich Sophie Perovskaya, wohlerzogen, tugendhaft - ehe sie in Anarchistenkreise gerieth - und voll Enthusiasmus für die Sache der "Erzfeinde des Menschengeschlechts". Befragt, wie sie diesen Lehren gewonnen wurde, gab sie frank und frei die Geschichte ihrer "Bekehrung" zum Besten. "Das kam so ganz allmählich", - gestand sie. "Ich hatte Freunde, die man verhaftete, auf bloßen Verdacht hin, und verurtheilte sie für unbegangene Verbrechen. Das schmerzte mich tief. Warum fragte ich, ist so etwas möglich? Das System, sagte man mir, bringt so etwas zu Wege. Das System? So muß man das System über den Haufen werfen. Ja, aber das System ist eng mit dem ganzen Bau der menschlichen Gesellschaft verknüpft, und wer ihr System angreift, der stürzt diese.... So stürze sie, war meine Antwort. Und weiter - als ich sah, wie kalt und herzlos die Menschen an dem grenzenlosen Elend ihrer Brüder und Schwestern vorübergingen, da verlor ich alles Mitgefühl mit dem hartherzigen Geschlecht, mit seinen Lehren und seinem Glauben, und - und wurde Anarchistin. Freilich - unser Erfolg mag noch lange, lange ausbleiben. Jahrhunderte mögen darüber hingehen, zuletzt bricht der Morgen der Erlösung doch an. Ich selbst werde jenen Tag nicht erleben. Ich werde im Gefängniß oder auf dem Henkerblock enden, aber das schreckt mich nicht; mich tröstet die Zuversicht, daß andere nach mir ernten werden, was ich zu säen geholfen habe."

Auf die etwas delicate Frage, wie ein sonst edeldenkendes Weib sich zu den anarchistischen Begriffen über Moral und Keuschheit stelle, erwiderte unsere Anarchistin, nicht ohne Erröthen: "Solche Dinge stürzen das eine mit dem andern. Das sind alles Satzungen, von Menschen gemacht, und man darf sie zum Besten der Menschheit wohl brechen. Wenn ein Mädchen Anarchistin wird, so begräbt sie schon ihren guten Ruf - was braucht da noch anderes ihren Austritt aus der Gesellschaft zu überleben?"

Dieses arme, verlorene Kind, das solchergestalt sich über die edelsten Güter des Weibes und der Menschheit hinwegsetzen konnte, sie endete, wie sie gelebt hatte, als Anarchistin. Ins Gefängniß gerathen, zeigte sie sich renitent, revoltirte gegen das Reglement, wurde in der entehrendsten Weise gezüchtigt, und an einen Karren gekettet. Es gelang ihr zu entkommen, sie wurde aber von neuem wieder eingefangen. Diesmal entrann sie ihrem Häscher durch einen selbstgewählten, grausigen Tod. Man fand sie eines Morgens, halb verbrannt, todt in ihrer Zelle vor. Die Aerzte erklärten, sie müsse mindestens zwei qualvolle Stunden gebraucht haben, um sich mittels eines winzigen Lämpchens, das sie benutzte, zu Tode zu brennen. Nur der ungeheuerste Wille, die übermenschlichste Standhaftigkeit vermochte das auszuführen.

Sie wollte wahrscheinlich damit der Welt beweisen, daß eine Anarchistin entsetzliche Thaten nicht nur gegen Andere, sondern auch gegen sich selbst zu verüben im Stande sei.

Wie beklagenswerth, daß die edelsten Eigenschaften des Weibes an eine so unwürdige Sache verschwendet, zu so grauenhaften, fluchwürdigen Verbrechen gemißbraucht werden können!

Fußnoten:
[1] Castroper Zeitung (Castroper Anzeiger). Amtliches Organ für den Landgerichtsbezirk Dortmund und amtliches Organ für die Aemter Castrop und Mengede, Nummer 108/10. September 1901, Erstes Blatt.
[2] Castroper Zeitung (Castroper Anzeiger). Amtliches Organ für den Landgerichtsbezirk Dortmund und amtliches Organ für die Aemter Castrop und Mengede, Nummer 109/12. September 1901
[3] Castroper Zeitung (Castroper Anzeiger). Amtliches Organ für den Landgerichtsbezirk Dortmund und amtliches Organ für die Aemter Castrop und Mengede, Nummer 110/14. September 1901. (Die Abbildung des „Präsidentenmörders Czolgosz" ist der Ausgabe 116/28. September 1901 der "Castroper Zeitung" entnommen, in der berichtet wurde, daß "der Gerichtshof in Buffalo erkannte..., daß Czolgosz des Mordes im ersten Grade schuldig sei". – die Abbildung fehlt hier)
[4] Castroper Zeitung (Castroper Anzeiger). Amtliches Organ für den Landgerichtsbezirk Dortmund und amtliches Organ für die Aemter Castrop und Mengede, Nummer 112/19. September 1901. Erstes Blatt.
[5] Castroper Zeitung (Castroper Anzeiger). Amtliches Organ für den Landgerichtsbezirk Dortmund und amtliches Organ für die Aemter Castrop und Mengede, Nummer 115/26. September 1901, Zweites Blatt. Für die Redaction verantwortlich: Heinrich Schmitz in Castrop.

Aus:
Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit Nr. 17, 1.Auflage 2003. Mit freundlicher Genehmigung des Germinal - Verlags.

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