Libertärer Kommunalismus und Männlichkeit

Diskussionsbeitrag von Schwarze Feder

Ich kannte Janet Biehls Buch "Der libertäre Kommunalismus" noch nicht als ich das Kapitel "Duale Macht" und das anschließende Interview mit ihr im Schwarzen Faden 1/99 gelesen habe. Dieses Kapitel hat mich sehr aufgewühlt, einige Dinge haben mich begeistert, andere geärgert und wieder andere erschreckt. Zwei Wochen später habe ich das Buch durchgearbeitet und jetzt sitze ich hier und schreibe eine Erwiderung. Ich selber fühle mich der anarchistischen profeministischen Männergruppenszene zugehörig und versuche von diesem Standort eine konstruktive Kritik am libertären Kommunalismus.

Janet Biehls Ausarbeitung des Libertären Kommunalismus als konkreter Plan erinnert mich ein wenig an P.M.'s Utopie bolo'bolo und vor allem an das daran angelehnte "Projekt A" nach einer Idee von Horst Stowasser. P.M. hat nicht ganz den anvisierten Zeitrahmen seiner revolutionären Umsetzung eingehalten und vom Projekt A ist - soviel ich weiß - auch nur der Verein Wespe in Neustadt übriggeblieben. Während allerdings P.M. einen Zehn-Punkte-Plan zu seiner Utopie nachreichte, mit dem er den "liberalen Code" ergänzt sehen wollte, um schädliches Männerverhalten einzudämmen, stellte sich Horst Stowasser stur und machte die angebliche "political correctness" statt die Ignoranz gegenüber feministischen Forderungen für das Scheitern verantwortlich.

Ich finde es wichtig, daß es solche langfristigen konkreten Pläne und Ziele gibt, sie können Enthusiasmus hervorrufen. Und es ist möglich, Differenzen zu sehen und zu klären, wo sie herkommen. Daher möchte ich in diesem Artikel versuchen, konstruktiv kritisch mit dem Ansatz des Libertären Kommunalismus umzugehen, wobei mir jetzt schon klar ist, daß es einen Hauptkritikpunkt gibt: das Problem Männlichkeit wird vom Libertären Kommunalismus nicht in der gleichen Weise aufgegriffen wie das Problem Nationalstaat.

Macht

"Eine Kraft in sich fühlen". Das ist es, was viele derzeit suchen - häufig in Sekten oder Psychogruppen, manchmal auch in politischen Zirkeln." schreibt Janet Biehl zu Anfang ihres Kapitels "Duale Macht". Dann sagt sie, daß das Gefühl Macht zu haben, etwas anderes ist, als Macht zu besitzen: "Macht ist mehr als eine geistige oder psychologische Befindlichkeit."

Sie schreibt, daß Macht entweder dem Staat und seinen Institutionen wie Polizeitruppen, Gerichte oder Armeen zufällt oder aber "den freien Bürgern in ihren demokratischen Volksversammlungen." Und jede Macht, die die Commune nicht hat, fällt automatisch dem Staat zu und umgekehrt. Neben diesen beiden Mächten, ich nenne sie mal communale Macht und staatliche Macht, gibt es meiner Meinung nach noch eine dritte, die ich soziale Macht nenne. Unter sozialer Macht verstehe ich die individuelle Fähigkeit, überhaupt an der communalen Macht im anarchistischen Sinne teilzuhaben oder gar diese aufzubauen. Ein rassistischer Alkoholiker hat zum Beispiel nicht die Fähigkeit, die soziale Macht, eine demokratische Volksversammlung mitaufzubauen. Oder ein anderes Beispiel: in der BRD sind etliche anarchistische Zentren, Zeitungen, Gruppen daran zerbrochen, daß ein Mann sich gegenüber einer Frau extrem verletzend verhält und er dann auch noch von einem Großteil der "Szene" geschätzt wird. Soziale Ohnmacht, die bedingt ist durch Sucht, unverarbeitete Erlebnisse, ansozialisiertem klassistischen, sexistischen oder rassistischen Verhalten,... bedeutet gleichzeitig ein Stärkung der staatlichen Macht; ich denke, so versteht auch Foucault seinen Machtbegriff. Wenn die soziale Macht des Individuums zunimmt folgt daraus eine Stärkung der communalen Macht und eine Schwächung der staatlichen Macht und umgekehrt gilt dies für soziale Ohnmacht; in diesem Sinne würde ich Janet Biehls Konzept der Dualen Macht zustimmen. Allerdings behaupte ich, daß es sehr wohl möglich ist, in Psychogruppen etwas gegen die soziale Ohnmacht zu tun. Eine Frau, die mittels einer Therapien die Ursachen ihrer Magersucht erfolgreich bekämpft hat, kann sich z .B. besser auf die Weiterentwicklung communaler Macht konzentrieren. Anders ausgedrückt: ich glaube nicht, daß die beiden Grundtugenden des libertären Kommunalismus, Vernunft und Solidarität, nur durch demokratische Volksversammlungen mit Mehrheitsentscheid wachsen. Auf diesen Plena kann auf die soziale Ohnmacht aufmerksam gemacht werden und bestimmt lernen einige von anderen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß allein die Teilnahme an communaler Macht sich auf die Männer so auswirkt, daß Sexismus, sozusagen als Nebenwiderspruch, sich von selbst auflöst, wie Janet Biehl im Interview im Schwarzen Faden nahelegt.

Mir geht es hier nicht um einen "Lebensstil-Anarchismus", sondern um die uralte Frage nach der "freiwilligen Knechtschaft", die Etiennne de la Boetie im 16. Jahrhundert im Anschluß an die Machiavelli-Lektüre stellte. Ich möchte differenzieren zwischen dem "Sich-Haben" (Habitus) und dem "Sich-Geben" (Lebensstil). Männlich sein, rassistisch sein, das sind für mich - bezogen auf das Individuum - keine Stil-Fragen, sondern Fragen nach dem, wie Menschen auf einer grundsätzlichen Ebene gelernt haben, mit sich umzugehen.

Klaus Theweleit hat in seiner Analyse der nationalsozialistischen Täter diese als mit dem Staat und seinen Institutionen verschmolzen beschrieben, aber auch als etwas, was dem gleich kommt, was ich hier sozial ohnmächtig nenne. Er bringt diese "Institutionen-Körper"-Macht / soziale Ohnmacht mit Männlichkeit so stark in Verbindung, das sie fast deckungsgleich erscheinen. Und er vertritt die These, daß Mütter ihren Kindern soziale Macht beibringen, während männliche Institutionen diese, vor allem bei Jungen und Männern, wieder zurückdrängen und durch eine Macht ersetzen, die das Patriarchat ihnen einräumt.

Hierauf gehe ich später noch genauer ein. Zunächst möchte ich aber auf die gemeinsame geschichtliche Verknüpfung von Männlichkeit und Nationalstaat eingehen.

Nationalstaat und Männlichkeit

Wir sind uns einig, daß Machiavellis Texte seit dem 16.Jahrhundert herangezogen wurden, um einen starken Nationalstaat zu (be)gründen. Anfang des 18. Jahrhunderts beriefen sich vor allem Hegel und Fichte auf Machiavelli für ein vereintes deutsches Reich, welches sich in einer ähnlichen zersplitterten Situation befand, wie Machiavellis Italien. Aber Machiavelli plädierte nicht einfach nur für einen starken Staat, er ersetzte die antike und mittelalterliche Tugend ("virtus") durch Tüchtigkeit ("virf "). Dieser Begriff der Tüchtigkeit entspricht sowohl den Bedürfnissen des aufkommenden Kapitalismus unter den Medici als auch denen des Nationalstaats. Virf basiert auf einer Vergewaltigungsmetapher: der uomo virtuoso, verkörpert durch Herkules, unterwirft Fortuna, die Schicksalsgöttin, und schlägt sie. Einhundert Jahre später beruft sich Francis Bacon, der Begründer des objektiv-wissenschaftlichen Denkens auf Machiavelli: Bacon benutzt dieselbe Vergewaltigungsmetapher für seine "Sachlichkeit". Diese Tüchtigkeit und Sachlichkeit - und nicht die von Janet Biehl und Murray Bookchin geforderten Tugenden Vernunft und Solidarität - prägen unser Denken und Handeln. Dies allerdings nicht einfach nur aufgrund von Überlieferung und Konvention.

Machiavelli wurde von den Schergen der Medici, die die Macht in Florenz zurückeroberten, sechsmal gefoltert und ins Exil geschickt. Sein Büchlein "Il principe", unmittelbar nach der Folter eiligst verfasst, das immer noch Abiturientinnen in aller Welt lesen müssen, ist nichts anderes als die Aufarbeitung seines Foltertraumas. Übertriebene Tüchtigkeit und Sachlichkeit sind häufig unmittelbare Folgen von traumatisierender Gewalt genauso wie die Identifikation mit dem Täter (Machiavelli widmete sein Buch einem Medici!).

Ich denke, zumindest hier in der BRD kann es keine Vernunft oder Solidarität geben, solange nicht massenhaft die Traumata aufgearbeitet werden. Es gibt inzwischen sehr gute Analysen über die transgenerationelle Weitergabe von Traumata an die zweite und die dritte Generation nach den NS-Vernichtungslagern. Dies gilt auch auf der TäterInnenseite: eine deutsche Familie ohne Modergeruch gibt es nicht. Psychische Konflikte, die solange nicht aufgearbeitet wurden, daß sie schimmeln und stinken und am freien Atmen hindern... Ich habe TäterInnenseite geschrieben. Tatsächlich waren und sind es in erster Linie Männer und nur in Ausnahmefällen Frauen, die foltern, vergewaltigen, töten, sexualisierte Gewalt gegen Abhängige ausüben.

Das Männerbundtheorem

Mit der französischen Revolution fanden nicht nur eine Reihe von lokalen Volksversammlungen statt. Mit der französischen Revolution erhielt auch der Staat einen neuen Schub: "Nachdem der Kopf des Königs gefallen und damit der letzte fleischliche und begrenzte Körper der Macht zerstört war, konnten die ungehemmten Allmachtsphantasien der angeblich Gleichen und angeblich Gerechten das politische Feld überfluten. Den historischen Rahmen, in dem diese Explosion stattfand, hat Anderson in seiner "Erfindung der Nation" adäquat beschrieben: Bildung, Einheit der Verwaltung, allgemeine Wehrpflicht, Journalismus und Druckereigewerbe, in die selbstverständlich nur Männer eingebunden waren, bildeten die sozialen und historischen Voraussetzungen. In Frankreich waren Sprach-, Religions- und Verwaltungseinheit auf für Europa einzigartige Weise durch geographische Grenzen definiert. In Frankreich war auch der Geist der aufgeklärten Rationalität wie in kaum einem anderen Land zuhause. Daß sich gerade hier das "von allem Mythos befreite" und in das männliche Selbstzurückverlegte Subjekt den neuen Mythos von der Nation der Brüder schuf, scheint daher kein Zufall der Geschichte." (Schaeffer-Hegel 1996, S.97)

Über den Zusammenhang von Nation und Männlichkeit kann ich das Kapitel "Männliche Geburtsweisen. Der männliche Körper als Institutionenkörper" aus dem Buch "Das Land, das Ausland heißt" von Klaus Theweleit empfehlen. Hier nur ein kurzes Zitat, da ich aus Platzgründen nicht das ganze Kapitel zitieren kann: "Die Rede von der "Geburt der Nation", ein Topos des 19. und 20. Jahrhunderts, war durch unsere Nachkriegsgeschichte schon ein bißchen fremd geworden, fast vergessen, bis sie uns in Erinnerung gerufen wurde durch die Ereignisse des November 1989. Antje Vollmer notierte dazu, nach ihren Mauervisitationen im März 1990: "Männer, wohin ich seh, ein unübersehbares Heer dunkelblauer Anzüge, Männer in permanenter Männerpaarbildung. (...)"Macht das Tor auf!" An allen Mauer- und Stacheldraht-Durchbrüchen waren es Herren, die sich als erste Wort und Hand nehmen. Das Recht der ersten Nacht war ihrs - und dann durfte das einfache Volk: fließen, strömen (...). Das ist die Blütezeit der eingeschlechtlichen Schöpferkraft. Der Nationalismus, der Staat und die Partei sind die männlichen Produktionen künstlicher Wirklichkeiten schlechthin."

Man mußte nicht die nachfolgenden Einschränkungen von Frauenrechten und die verstärkte Offensive gegen den Feminismus abwarten, um zu wissen, daß sie kommen würden. "Nation" ist immer eine Mann-Mann-Geburt, und "die Frau" ist in ihr ausgeschaltet und unten."

Männlichkeit und der Staat sind vielfältig miteinander verknüpft. Dies wird weder von Janet Biehl noch von Murray Bookchin im Konzept des Libertären Kommunalimus genügend herausgehoben. In einem Aufsatz über "Die Geschlechterparadoxie des Staates. Überlegungen zur feministischen Staatsanalyse" geht Bettina Knaup auf einen Ansatz ein, den sie mit Eva Kreisky "das Männerbundtheorem" nennt. Der Staat habe sich nach Kreisky unter Ausschluß der Frauen gebildet, wodurch Institutionen nichts anderes seien, als "sedimentierte männliche Interessen und männliche Lebenserfahrung". Bettina Knaup faßt den Ansatz zusammen:

"Das Männliche des Staates macht sie [Eva Kreisky] in seiner männerbündischen Verfaßtheit aus. Der Männerbund sei die "Standardform der Politik". [...] Männerbünde weisen dabei nach Kreisky die folgenden wesentlichen Charakteristika auf:


Innerhalb der staatlichen Institutionen sind Frauen sehr ungerne gesehen. Dies gilt besonders für staatstragende Institutionen wie Militär und Polizei. In den USA sieht sich der Staat gezwungen Maßnahmen zu ergreifen gegen die Übergriffe von Soldaten gegen Soldatinnen - mit mäßigem Erfolg. Und in der BRD offenbarte im letzten Jahr eine Studie, daß Übergriffe von Polizisten gegen Kolleginnen eher die Regel als die Ausnahme sind. Besonders krass waren die Vorfälle in München, wo eine Polizistin von den Kollegen in den Selbstmord getrieben, eine weitere mit Säure verletzt wurde.

Zu den Tugenden »Vernunft und Solidarität«

Ich denke, auch diese Tugenden müssen männerkritisch auseinandergenommen werden. Unter Vernunft ließe sich - unkritisch - der objektivistische männliche Rationalismus verstehen, unter Solidarität Männerkumpanei, Kameradschaft und Patriotismus.

Die Vernunft, auf die wir uns beziehen sollten, ist die selbstreflexive Standpunkttheorie im triple oppression-Ansatz. Und Solidarität sollte sich ebenfalls von der Theorie der dreifachen Unterdrückung herleiten. Ja, beide Tugenden sollten noch eine Ebene tiefer ansetzen: Es gibt schließlich nicht nur die alltägliche Unterdrückung, sondern Rassismus, Sexismus, Klassismus funktionieren gerade auch dadurch, daß "Exempel statuiert" werden; d.h. traumatisierende Gewalt findet seine Opfer fast immer auf Seiten derer, die bereits von Sexismus, Rassismus und/oder Kapitalismus unterdrückt werden oder schwächer sind, in Abhängigkeitsverhältnissen, wie z.B. Kinder. Vernunft und Solidarität haben daher parteiisch zu sein, wir haben uns als Verbündete zu verstehen und zu verhalten.

Ich würde zu diesen beiden Tugenden noch eine dritte hinzufügen: die Neugier im Sinne von Experimentierfreudigkeit. Der "citoyen", der nur den Tugenden Vernunft und Solidarität verpflichtet ist, erscheint mir ein wenig zu erwachsen, zu statisch und konservativ. [1] Dies spiegelt sich in Bookchins und Biehls Plädoyer für das Mehrheitsprinzip und gegen das Konsensprinzip in den Volksversammlungen. Zur Würde gehört für mich, sich nicht über oder unter andere zu stellen (Solidarität) [2], sich über sich selbst und seine Umgebung Klarheit zu verschaffen (Vernunft), aber auch das Selbstvertrauen, sich in neue ungewohnte Situationen hineinzubegeben (Neugier).

Frauen und Aufstände

Soweit ich weiß, haben Frauen bei kommunalen Aufständen immer eine wesentliche Rolle gespielt. Es waren in den letzten beiden Jahrhunderten zunächst Hungerrevolten, angezettelt von Müttern, die zu Aufständen führten.

Eine der wenigen Revolutionen, die es in Deutschland gegeben hat, war die Etablierung der (Wieder)TäuferInnen-Commune in Münster in den dreißiger Jahren des 16.Jahrhunderts. Alle Herrschenden, die sich nicht von ihrem Besitz trennen wollten, wurden rausgeschmissen und die Häuser an das Volk verlost; die großen Kirchen galten als "Steinkuhlen", sie wurden demontiert, um Material für neue Häuser zu haben; die Köpfe der Heiligenstatuen wurden als Kanonenkugeln benutzt und 80% der Täuferinnen waren Frauen!

Der Sturm auf die Bastille entwickelte sich, soweit ich weiß, aus dem Protest von Frauen, aus einer Hungerrevolte - wie ja auch die Oktoberrevolution in Rußland durch Hungerrevolten ins Rollen gebracht wurde.

Es gibt ein Buch von Veronica Bennholdt-Thomsen über eine 80.000 Einwohnerinnen-Stadt in einer südlichen, indigenen Region in Mexiko, namens Yuchitan, die von ihr als Matriarchat beschrieben wird und die als ein Musterbeispiel für die Verwirklichung einer kommunalen Utopie im indigenen Trikont gelten könnte - gerade auch nach den Kriterien des "Libertären Kommunalismus".

Nun gut, wir leben weder im 16. Jahrhundert, noch im Trikont. Aber wenn ich mir ansehe, zu wem ich Kontakt außerhalb der Polit-Szene und meiner Lohnarbeitsstelle habe, dann ist es der Kontakt, der durch Kinder vermittelt wird: Eltern von Freundinnen der Kinder, Eltern, die Kinder in derselben Kita oder Schulklasse haben. Ich denke, Spielplätze sind wesentlich kommunikativere Plätze als Kneipen, Diskos und Biergärten; über die Kinder kommt mensch ins Gespräch. Zumeist allerdings sind es Frauen, die sich um die Kinder kümmern und den Kontakt herstellen. Ich finde die geschlechtsneutrale Darstellung und die Nichterwähnung von Kindern in Janet Biehls "Libertären Kommunalismus" deshalb verfälschend.

Ich möchte in diesem Absatz nicht eine Gleichsetzung von Frauen und Müttern fortschreiben. Ich finde es nachvollziehbar, wenn Frauen sich gegen eine ihnen zugeschriebene spezifische Verantwortung für Kinder wehren. Das Defizit sehe ich bei Männern. Wir Männer haben mehr Verantwortung für Kinder zu übernehmen, gerade auch auf dem Weg zu einer anarchistischen Gesellschaft. Das Plädoyer des Autoren von "bolo'bolo", P.M., daß jeder Mann täglich mindestens zwei Stunden Verantwortung für Kinder übernehmen sollte, kann ich von der Tendenz her mittragen. Klaus Theweleit empfiehlt uns Männern das, was er mit Sara Ruddick "Caring Labor" nennt, welches auf "mütterlichem Denken" basiert, aber nicht nur auf die gewaltige Aufgabe begrenzt ist, das Leben in den Kindern zu entfalten, zu schützen und zu erhalten: "Sorgende Arbeit" wäre zu wenig gesagt; eine lebenserzeugende Arbeit ist gemeint, nicht einfach bloß "Mutterarbeit", und auch nicht eine Arbeit, die nur von Frauen getan werden könnte, im Gegenteil: Das Feld für männliche Sorge von "Caring Labor" wäre riesig, nicht nur den Kindern gegenüber. [...] Eine entwickelte Frau/Mann/Kinder-Politik gegen das Männerbündlerische, gegen das Kriegerische als Mittel der Politik, gegen die Isolierung der Frauen von der gesellschaftlichen Macht..."

Doch hiervon scheint die anarchistische Szene meilenweit entfernt. Vor Jahren habe ich einen sehr guten Videofilm gesehen, der von FrauenLesben aus der linksradikalen Szene in Freiburg gedreht wurde. Er kritisierte, daß Menschen mit Kindern (in der Regel Mütter) aus der politischen Szene ausgegrenzt werden. Eine dokumentierte Aktion war das öffentliche Verlesen von den Namen von Männern mit der Anzahl der Abtreibungen, die sie zu verantworten hatten. Die anarchistische Polit-Szene in den Städten ist kinder- und elternfeindlich. Dies ist ein Grund dafür, daß Menschen um die dreißig die Szene verlassen.

Wenn also die Versammlungen wirklich so wichtig sind für die Umsetzung des Libertären Kommunalismus, dann wäre es das mindeste, Vorkehrungen zu schaffen, die es Eltern, wenn nicht sogar Kindern, ermöglichen, an diesen genauso ausgeruht und vorbereitet teilnehmen zu können, wie alle anderen. Dies ist vor allem eine Aufforderung an Männer, Verantwortung für Kinder (und Verhütung) zu übernehmen.

Mehrheit, Konsens oder "strenger Konsens"

Basis des Libertären Kommunalismus soll die kommunale Versammlung sein. Während der Versammlung wird mit einfacher Mehrheit entschieden. "Anders läßt sich das nicht machen..." sagt Murray Bookchin im Interview. Janet Biehl geht noch genauer aufs Konsensprinzip ein und möchte dieses eher für kleine Gruppen gelten lassen, nicht aber für große Versammlungen. Ich denke, Ralf Burnicki, der vorkurzem sein Buch "Anarchie als Direktdemokratie" herausgegeben hat, wird sagen, daß das sehr wohl geht mit dem Konsens auf großen Versammlungen. Ich sehe hingegen sowohl die Notwendigkeit eines Konsens, als auch die Schwierigkeit und plädiere für etwas, was ich in Anlehnung an Sandra Hardings Begriff der "strengen Objektivität" "strengen Konsens" nennen möchte.

Mehrheits- und Konsensentscheidungen haben den Anspruch, zwei Problemen gerecht zu werden. Das eine besteht im Anspruch, niemanden unterdrücken zu wollen, alle an der Entscheidung teilhaben lassen zu wollen, das ist der ethische Aspekt; das andere Problem darin, die richtige oder richtigste Entscheidung treffen zu wollen, was ich als den erkenntnistheoretischen Aspekt bezeichne. Wenn wir versuchen mit einer Methode Lösungen für zwei Probleme zu finden, dann hat dies seine Ursache darin, daß die Probleme auf Seiten der/ des Unterdrückten zusammengehören. Diese Probleme werden mit dem Wort "Standpunkttheorie" zusammengefasst: das Proletariat hat einen anderen Standpunkt, einen anderen Erkenntniszugang als die Bourgeoisie. Die Lösung aus der alten marxistischen Standpunkttheorie lautete weder Mehrheits- noch Konsensentscheidung sondern "Diktatur des Proletariats". Mit dem Aufkommen der Theorie der dreifachen Unterdrückung durch Sexismus, Rassismus und Klassenwiderspruch ließ sich irgendein "Diktatur-Anspruch" nicht mehr erheben. Vielmehr geht es um das Voneinanderlernenkönnen. Sandra Harding sieht die konkrete Utopie eines "multiple subject" als revolutionäres Subjekt. Dennoch darf dieser "Wärmestrom" des Voneinanderlernes nicht den "Kältestrom" der klaren Analyse der Herrschaftsverhältnisse verdrängen. Wir sollten auf einer Versammlung nicht so tun, als wären wir alle gleich. Hierzu ein Beispiel aus meiner eigenen Geschichte, als Ende der 80er Jahre in unserem Autonomen Zentrum Frauen-Lesben forderten, ab sofort das Zentrum geschlechstsspezifisch getrennt zu organisieren, die eine Woche von FrauenLesben, die nächste von Männern, usw.. Einige Männer sahen sich vor dem Kopf gestoßen, wollten diese Trennung nicht und verstanden dies als einen Verstoß gegen das Konsensprinzip. Eine Frau schrieb hierzu: "Die Kritik von Männern, daß es keine Konsensentscheidung war, klingt in meinen Ohren absurd. Noch nie in der Geschichte haben Frauen ihre Freiräume erbeten oder sie gar mit Männern gemeinsam beschlossen; sie wurden immer erkämpft. Ich behaupte, daß sonst auch keine entstanden wären. Das ist bis heute so geblieben. Alles andere halte ich für eine Farce."

Der Irrtum, auf dem sowohl das Mehrheits- als auch das Konsensprinzip beruhen, besteht darin, nur Menschen zu kennen. Hierbei erscheint mir das Mehrheitsprinzip objektivistisch zu sein: alle Menschen sind gleich und wenn nur oft genug eine aufgeklärte Mehrheit entscheiden kann, finden wir die Wahrheit, den richtigen Weg. Und das Konsensprinzip scheint auf einer subjektivistischen Annahme zu beruhen: alle Menschen sind so unterschiedlich, daß es nicht gut ist, von einer Wahrheit auszugehen, daher muß solange diskutiert werden, bis eine Lösung gefunden wird, die alle zufrieden stellt.

Sandra Harding, die in ihrem Buch "Das Geschlecht des Wissens" versucht, die Theorie der Dreifachen Unterdrückung mit der Standpunkttheorie zu verbinden, benutzt den Begriff der "strengen Objektivität". Sie lehnt sowohl den Subjektivismus (von der Esoterik bis zur Postmoderne) ab, der sagt, daß es keine Wahrheit (zu erkennen) gibt, als auch den "wissenschaftlichen", sachlichen, methodenfixierten Objektivismus, den sie nur für "schwach objektiv" hält, weil er den/die Forschende nicht in die Forschung miteinbezieht. Sie sagt, "gute" Überzeugungen sind sozial verortet, deshalb stellt die Standpunkt-Theorie "die Beobachterin und ihre "Beobachtungsinstitutionen" auf dieselbe Ebene der Kritik Würdigkeit wie die zu beobachtenden Gegenstände" (Sandra Harding, Das Geschlecht des Wissens, S. 195). Erst dann kann von einer "strengen Objektivität" ausgegangen werden.

Diese Ansatz läßt sich meines Erachtens auf politische Entscheidungsfindungsprozesse übertragen: ein "schwacher Konsens" ist einer, der die gesellschaftlichen Widersprüche verdeckt läßt, indem Männer mit ihrem Veto feministische Positionen abschmettern können, während ein "strenger Konsens" davon ausgeht, daß es unterschiedliche Kompetenzen gibt und daß Männer, Weiße, Reiche, Heteros, körperlich und geistig der Norm entsprechende Menschen,... in bestimmten Entscheidungsprozessen nichts zu sagen haben was wichtig wäre.

Krieg und Männlichkeit

Als im Herbst 1992 die Berichte über die Vergewaltigungslager in Bosnien bekannt wurde, meinte eine Frau aus unserer anarchistischen Studiengruppe, wir müßten was machen... Was sollten wir machen? Als anarchistische Miliz in Bosnien einmarschieren?

In Bosnien wurden 60.000 Frauen vergewaltigt, 30.000 von ihnen wurden schwanger. Auch UN-Soldaten beteiligten sich an Vergewaltigungen, niederländische Soldaten bekamen Playboy-Hefte geschenkt, damit sie sich zurückhalten...

Wer garantiert uns, sollte es irgendwann in ferner Zukunft tatsächlich zu militärischen Konfrontationen zwischen dem Staat und den befreiten Communen kommen, daß die libertären Männer nicht auch vergewaltigen? Das Täterprofil von Vergewaltigern ist Männlichkeit [3], und Theweleit spricht von der "erlaubten Übertretung" im Krieg, womit erklärt wird, weshalb "plötzlich" aus lieben Mitmenschen Bestien werden.

Die Gynäkologin Monica Hauser ist Ende 1992 nach Bosnien gefahren und hat dort in der zentralbosnischen Stadt Zenica ein Therapiezentrum für traumatisierte Frauen und Mädchen errichtet. Zur Zeit versucht sie, Frauen aus dem Kosovo Unterstützung zukommen zu lassen. In einem Vortrag beklagt sie das gesellschaftliche Desinteresse an dem Schicksal der schwersttraumatisierten Frauen und Mädchen [4].

Damit ein "Libertärer Kommunalismus" sich nicht ebenfalls zur "Unterlassene Hilfeleistung IG" (Monica Hauser) zählen muß, sollte Männlichkeit zentral problematisiert werden und Therapiemöglichkeiten nicht als irrelevant für die Schaffung einer libertären Gesellschaft denunziert werden. Therapien sind (lebens-)wichtig für traumatisierte Menschen und für die "Entschärfung" von uns Männern. Ich grenze mich ab von dem ganzen esoterischen Kram, sehe aber dennoch gute Therapieansätze, die auch mit einem anarchistischen Selbstverständnis zu vereinbaren sind. [5]

Benutzte Literatur:


Fußnoten:
[1] Das Problem einer allzu vernünftigen, solidarischen Gesellschaft hat Ursula K. LeGuin in ihrer Utopie "Planet der Habenichtse" ("The Dispossed") durchgespielt. Und Ernst Bloch kritisierte am Marxismus, daß er bislang zu sehr die Analyse der bestehenden Verhältnisse in den Vordergrund stellte, die Möglichkeit im Sinne des "Nach-Möglichkeit-Seienden" (Aristoteles Kata to dynaton), den Kältestrom, und darüber das Noch-Nicht-Seiende, das "InMöglichkeit-Seiende" (Aristoteles Dynamei on), den Wärmestrom, vergessen oder als kleinbürgerlich diffamiert hat. Allerdings warnt Bloch auch vor einem Wärmestrom ohne kritische Analyse, den er als "ruchlosen Optimismus" bezeichnet. Wärme- und Kältestrom gehören zusammen.
[2] In der Transaktions-Analyse wird davon ausgegangen, daß der Mensch verschiedene "Ich-Zustände" erlernt hat: das Kind-Ich, das Erwachsenen-Ich und das Eltern-Ich. Diesen Ich-Zuständen ließen sich die Tugenden Neugier (Kind-Ich), Vernunft (Erwachsenen-Ich) und Solidarität (Eltern-Ich) zuordnen. In der TA gilt es als "gesund", zwischen diesen Ich-Zuständen wechseln zu können, sie alle zur Verfügung zu haben. Ich spreche ungerne von Gesundheit und würde diese Kompetenz lieber als menschliche Würde bezeichnen.
[3] Heiliger, Anita / Constance Engelfried (Hrsg.) (1995): Sexuelle Gewalt. Männliche Sozialisation und potentielle Täterschaft, Frankfurt a.M. /New York
[4] aus: Hauser, Monica (1997): Die bosnischen Frauen...
[5] Z.B. die geschlechtsspezifischen Selbsthilfetherapieformen FORT (Frauen organisieren Radikale Therapie) und MRT (Männer organisieren Radikale Therapie). Zu MRT können Infos über den Männerrundbrief bezogen werden: Redaktion Männerrundbrief c/o Infoladen Bankrott, Dahlweg 64, 48153 Münster

Aus: Schwarzer Faden Nr. 68 (2 /1999)

Gescannt von anarchismus.at