Arnold Roller - Die direkte Aktion. Revolutionäre Gewerkschafts-Taktik (1907) (Auszug)

Was heisst „direkte Aktion“?

Die Worte direkte Aktion kamen erst vor wenigen Jahren auf. Zuerst von Frankreich aus propagiert, verbreitete sich dieses Losungswort rasch unter den Arbeitern der anderen romanischen Länder und zuletzt auch in der Schweiz. Als die Arbeiter dieser Länder am eigenen Leibe zu erkennen begannen, wie der immer mächtiger werdende Kapitalismus ihrer alten Waffen spottet, als sie an Beispielen merkten, dass es weder auf dem bisherigen friedlichen Wege, noch mit den indirekten Mitteln der Vermittler und Parlamente fernerhin ginge, als sie sahen, dass auf diese Weise alle ihre Hoffnungen betrogen wurden, wandten sie sich von denjenigen ab, die sie in dem alten Geleise festhalten wollten und griffen mit Erfolg zu einer neuen ökonomischen Kampfmethode, die allgemein direkte Aktion genannt wird.

Was ist nun diese „direkte Aktion“? Wörtlich bedeuten diese Worte den unmittelbaren Kampf der Arbeiter gegen die Unternehmer, den unmittelbaren Kampf der Arbeiterklasse gegen die Unternehmerklasse. Nicht auf Umwegen durch Schiedsgerichte und Parlamente, sondern durch direkten Druck auf die Unternehmer sollen die gewünschten Reformen von den Arbeitern selbst eingeführt werden, wobei vor allem der allerrascheste, beste und energischste Weg eingeschlagen wird, ohne sich besonders zaghaft an das zu halten, was das Gesetz derjenigen, denen man ja die Forderungen entreissen will, verbietet oder erlaubt. Die direkte Aktion kann die mannigfaltigsten Formen annehmen. Sie kann in ihrer einfachsten Form sogar friedlich verlaufen, indem die Arbeiter gewisse Wünsche, wie z. B. Verkürzung der Arbeitszeit, ohne lange zu bitten, selbst einführen.

Unter die Gesamtbezeichnung „direkte Aktion“ gehört der revolutionäre terroristische Streik, der ökonomische Terror, der persönliche Terrorismus gegen verhasste Ausbeuter und Antreiber; kurz gegen kapitalistische Despoten; der Sabot (sabottage) Gocanny, Obstruktionismus, Boykott, kurz alle energischen revolutionären und direkten Mittel, die ohne Vermittlung und Umwege geeignet sind, die Forderungen des Proletariats durchzusetzen.

[…]

Die direkte Aktion als unmittelbare Befreiung, als vollständige Emanzipation des Proletariats.

Der soziale Generalstreik, Vernichtung der bestehenden und Neuorganisation der zukünftigen Gesellschaft.

Die direkte Aktion als Betätigung des Proletariats beschränkt sich aber nicht nur auf die Erzielung von Verbesserungen in der Gegenwart, sondern ihr weiteres Ziel ist die Beseitigung der kapitalistischen Gesellschaft überhaupt und die Neuorganisation einer freien Gesellschaft. Denn alle Verbesserungen der Lebenslage in der bestehenden Gesellschaft sind nur illusorisch, können niemals von langer Dauer sein. Die Kosten eines jeden siegreichen Streiks, durch den die Arbeiter höhere Löhne erringen, zahlen nicht die Unternehmer, sondern das konsumierende Publikum. Mit den höheren Löhnen steigen sofort auch die Preise der Waaren, und da dies gleichmässig in allen Berufen der Fall ist, bleibt die Lage des Arbeiters dieselbe. Ja, sie sinkt sogar noch relativ im Vergleiche mit dem steigenden Wohlstand der Bourgeoisie, mit den fortwährend neuen Kulturbedürfnissen, die in dem Arbeiter durch seine wachsende Bildung und die Entstehung immer neuer Industrien erweckt werden, die er aber trotz seines höheren Lohnes nicht befriedigen kann.

Der einzige positive und wirkliche Erfolg des Proletariats ist die Verkürzung der Arbeitszeit; dies allein ist ein Gewinn an wirklich positiver Freiheit. Die Stunden, die er früher hinter den vergitterten Fenstern der Fabrik verbringen musste, kann er dann zu seinem Vergnügen, zu seiner Bildung, zur Vorbereitung für die soziale Revolution benützen.

Das revolutionäre Proletariat weiss, dass das endliche Resultat seiner direkten Aktion die Aufhebung des Lohnsystems überhaupt sein muss, und sind seine Kämpfe in der Gegenwart eine Schulung, eine Vorbereitung zur sozialen Revolution — eine Vorbereitung, die ihm aber schon in der Gegenwart Nutzen bringt, weil er sich durch diese Kämpfe schon heute stückweise immer mehr Freiheit erringt.

Gegenüber der indirekten parlamentarischen Aktion, die dem Proletariat verspricht, den Kapitalismus durch den Parlamentarismus, durch die Eroberung der politischen Macht zu beseitigen, lehrt die revolutionäre ökonomische Taktik, den Kapitalismus durch die direkte Aktion des revolutionären, ökonomischen sozialen Generalstreiks zu vernichten und an deren Stelle die freie Gesellschaft zu errichten. So ist der soziale Generalstreik mit Expropriation der höchste Ausdruck, die Krönung der direkten Aktion des Proletariats.

Überhaupt ist auch in der Theorie des Anarchismus durch das Betonen der ökonomischen Aktion und des revolutionären Streiks eine bedeutsame Wendung eingetreten. Das blosse „In-den-Grund-und-Boden-Philosophiren“ der bestehenden Gesellschaft durch den Anarchismus hat dem Staate nicht wehgetan. Auch das Ausmalen herrlicher Paradiese in der Zukunft konnte grosse Proletariermassen weder gewinnen noch satt machen.

Alle Redereien von der „zukünftigen Gesellschaft“ klingen an’s Ohr der Proletarier wie alle anderen religiösen Himmelsvertröstungen, wenn sie ihm — wie alle Religionen — ein Glück in ferner Zukunft — nach seinem Tode oder für spätere Generationen versprechen.

Das Proletariat will heute schon Erfolge sehen, will heute schon mehr Brot und mehr Freiheit, und diese geben ihm leider bis heute alle anarchistischen Philosophen und Zukunftsträume ebenso wenig, wie der religiöse Mystizismus der Pfaffen und der sozialdemokratische Parlamentarschwindel. Deshalb konnte auch jener philosophische Anarchismus niemals eine Massenbewegung werden — er war und ist verurteilt, eine kleine Sekte für Literatur und Schönheit begeisterter Schwärmer und Idealisten zu bleiben, die sich an dem Mystizismus des Ideals berauschen.

Ganz etwas Anderes wird es aber, sobald der Anarchismus wirklich zur revolutionären Arbeiterbewegung wird und sich mit den praktischen Fragen der Gegenwart befasst — sobald er schon positive Erfolge für das Proletariat in der Gegenwart erringt.

Durch diese revolutionäre ökonomische Taktik in der Gegenwart gewinnt man also erstens die Massen; zweitens, gibt sie den Kämpfenden schon heute mehr Glück und Freiheit, und drittens — und hauptsächlich für diesen Abschnitt — wird das Proletariat durch die fortwährend und wiederholten revolutionären Streiks mit ökonomischem Terror dazu erzogen und angelernt, wie Streiks siegreich durchzuführen sind. Durch die positiven Erfolge ermuntert, lernt es sich Mut und Kampfesfreudigkeit und immer grössere „Begehrlichkeit“ an.

Die Streiks werden dann immer grösser und immer revolutionärer; das durch antimilitaristische Propaganda stark unterkühlte Heer wird für die Herrschenden immer weniger zuverlässig, und so wird eines Tages ein grösser revolutionärer Riesenstreik, an dem das an ökonomischen Terror und revolutionäre Streiks schon gewöhnte Proletariat die weiteste Forderung — die Aufhebung des Lohnsystems überhaupt fordern wird, — zum sozialen Generalstreik werden, den es siegreich und nicht mit gekreuzten Armen durchzuführen wissen wird. So steuert nun die Entwicklung der revolutionären ökonomischen Kämpfe der Gegenwart, gleichzeitig mit den fortwährenden Gegenwarts-Erfolgen, mit fortwährendem Gewinn immer grösserer Freiheit für das Proletariat — geradezu von selbst endlich zum siegreichen ökonomischen Generalstreik als Entwicklungsresultat der vielen kleineren revolutionären Streiks zum Ziele hin. Gerade diese Auffassung des fortwährenden Anwachsens der ökonomischen revolutionären Aktion des Proletariats bis zu seiner Spitze, dem sozialen Generalstreik, entspricht unendlich mehr der logischen Auffassung der Evolution, des Entwicklungsprinzips — wie alle dialektischen Kladderadatsch-Theorien „evolutionistischer“ und wissenschaftlicher Sozialdemokraten.

Auch die Neuorganisation nach dem siegreichen ökonomischen Generalstreik erfolgt im Gegensatz zur Auffassung der Verkünder der indirekten parlamentarischen Aktion, die die Vergesellschaftung der Produktionsmittel durch den Staat dekretieren und organisieren wollen — auf direktem Wege, nach Sturz des kapitalistischen Systems, durch die direkte Besitzergreifung der Produktionsmittel durch das Proletariat, — nicht durch die Vermittlung des Staates oder der „Nation“. Die direkte Besitzergreifung erfolgt durch die direkte Expropriation der Kapitalisten während des Kampfes und die Übernahme der Produktionsmittel durch die Gewerkschaften eines jeden Ortes, die dann die Produktion weiter führen und anderseits durch die Rücknahme der Erde durch die Bauern, die sie dann gemeinsam bearbeiten. Wir halten es für überflüssig, hier noch mehr über diese Form der direkten Aktion, den sozialen Generalstreik und die direkte Besitzergreifung der Produktionsmittel zu sagen, weil dieses Thema in der Broschüre „Der soziale Generalstreik“ von demselben Verfasser ausführlich behandelt wurde, und begnügen wir uns damit, auf diese zu verweisen.

Auch für diese Erscheinung der direkten Aktion sehen wir gegenwärtig zahlreiche Beispiele in Russland, wo die Bauern schon in hundert Fällen in allen Provinzen des Reiches die grossen Grundherren vertrieben und sich die Erde zurücknahmen — obwohl doch die Sozialdemokraten seit Jahrzehnten predigten, dass nur der sozialistische Staat dies tun dürfe, dass der Boden verstaatlicht werden muss — was natürlich die Bauern niemals verstehen werden. Ohne auf Staatsdekrete zu warten, führen sie durch direkte Aktion die Expropriation durch. Was nun die Bauern in Russland schon heute tun, wird also in Westeuropa und Amerika auch das Industrieproletariat gegen den Kapitalismus durchzuführen wissen.

So sehen wir die direkte Aktion in ihren mannigfaltigsten Formen, in den verschiedensten Erscheinungen. Eigentlich ist ja die direkte Aktion allein eine Aktion, denn alles Andere ist nur direkter Schwindel, Aktionslosigkeit, Untätigkeit, Beauftragung Anderer, das durchzuführen, was zu tun man selbst zu feige, zu faul oder zu unfähig ist. Wenn das Proletariat etwas erreichen will, muss es seine Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

Gewiss birgt die direkte Aktion Gefahren in sich, weil jeder Einzelne selbst handeln, seinen Mut, seine Fähigkeit betätigen muss. Sie ist nicht so bequem wie die parlamentarische Aktion, wo die Arbeiter ihr Schicksal Anderen anvertrauen. Aber wir sehen ja, wohin das führte. Die Lebenslage des Proletariats sinkt absolut und relativ in allen diesen Ländern, in denen es sich feige und gesetzlich verhält. Will es nicht herabgedrückt werden zu chinesischen Kulis, mit dem schönen Glauben an eine mystische Zukunft, die ihm seine blassroten Mandarinen schon zu verschaffen versprechen, so muss es bald selbst in den Kampf treten, auf die eigene Kraft vertrauen, um auf direktem Wege, durch seine direkte Aktion seine Forderungen der Gegenwart erkämpfen und so seine Zukunft vorzubereiten.

Durch das Beispiel der Tat, der Aktion, würden immer rascher und immer mehr Proletarier gewonnen, die, den Versprechungen Anderer nicht mehr vertrauend, sich endlich kräftig genug fühlen werden, durch ihre direkte Aktion den ganzen Bau der gegenwärtigen Knechtschaft niederzureissen und selbst direkt eine Gesellschaft zu organisieren, in der die Erde den Bauern, die Gruben den Bergleuten und die Maschinen den Arbeitern gehören — eine Gesellschaft ohne Arme und Reiche — ohne Herren und Knechte.

Aus: Arnold Roller - Die direkte Aktion. Revolutionäre Gewerkschafts-Taktik (1907) (Auszug)

Originaltext: http://raumgegenzement.blogsport.de/2010/11/20/arnold-roller-siegfried-nacht-die-direkte-aktion-revolutionaere-gewerkschafts-taktik-1907/ (kleinere Scanungenauigkeiten entfernt)