Zum Todesurteil für einen Film

Der 1925 uraufgeführte Film "Panzerkreuzer Potemkin" von Sergej M. Eisenstein (1898-1948) wurde am 24.3.1926 von der Filmprüfstelle in Berlin wegen Staatsgefährdung verboten. "Staatsgefährend" war der Klassenstandpunkt dieses Films über die russische Revolution. Ein schönes Beispiel für politische Zensur gegen links in der Weimarer Republik.

Der Film: Panzerkreuzer Potemkin ist wegen Aufreizung zum Klassenhaß zum Tode verurteilt.

"Die Kunst dem Volke!" In allen Tonarten, sanft, schmeichelnd, schmusend, grollend, befehlend, gebietend sangen "sie" das gleiche Lied: Die Kunst dem Volke. Das hat aber den gleichen Sinn wie: "Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben." Welche Kunst woll "sie" auch dem Volke schon geben? Illustrationen aus Schullesebüchern und Grimmschen oder Andersenschen Märchen, Kaiserbilder des Hofmalers Fischer, Genre und Historie von Prof. Artur Kampf, Deffregger, Leibi usw. Kurz gesagt: leichtfertige Pinselfechtereien, nichtssagend, nichtsfordernd als beschauliches Betrachten. Ja, auch das Theater soll dem Volke gegeben werden; aber was: dumpfe, öde, einschläfernde Operetten, Revuen, Komödien, Humoresken, damit wollen "sie" das Volk umhüllen und über den Ernst des Alltags in ein "heiteres leichtes Reich des Frohsinns" entführen. Doch auch der Film soll dem Volke zugeführt werden, die Kunst eines Viggo Larsen, Psilander, Alwin Neuß, einer Wanda Treumann, Henny Porten, Asta Nielsen und vor allem "Liebesdramen" der erhebende und vaterländische starke Wert eines "Fridericus Rex"-Filmes. So sieht die Kunst aus, die "sie" dem Volke geben wollen.

Aber der größte Teil des Volkes, das sich bewußt wurde, welch schnödes Gaukelspiel ihm da vorgemalt, vorgespielt und vorgeflimmert wird, wendet sich angewidert davon ab; nur ein übermäßig kleinhirniger und indifferenter Teil läuft in diese Museen, in diese Theater mit "volkstümlichen" Preisen, in diese Kinos und Kabaretts, und glaubt, es sei Kunst, ein "Rotkäppchen mit dem Wolf", einen größenwahnsinnigen, orden- und uniformgeschmückten "Herrscher und Monarchen" zu malen oder einen betrügenden Ehegatten, eine Betrogene, ins Wasser springende Geliebte zu spielen — all das ist Kitsch, nicht Kunst!

Die Menschen, die die Kunst wollen, ihre Kunst, bauten sich ihre Volksbühne, malten sich ihre Bilder; die Käthe Kollwitz, der Heinrich Zille, Franz Masereel, Hans Balusdieck und George Grosz sind die Maler des Volkes geworden; Upton Sinclair, Jack London, Alfons Paquet, Lunatscharski, Kurt Kläber ihre Dichter, die vom Volke gelesen, deren Theaterstucke vom Volke gesehen und begeistert aufgenommen werden. Das Volk, dieses Volk hat sich die Kunst nicht geben lassen, es hat sie sich genommen, wie es sie wollte: ihre Kunst! Und das Volk hat sich den Film genommen zu seinem Nutzen, Seinen Film hat sich das Volk geschaffen: seinen Potemkin! Groß und schön, überwältigend, erhebend, kraftvoll und mutig, eine kühne Flamme, ein dankbares in memoriam an die Toten, an seine Helden, eine Hymne, ja eine Hymne an die Revolution, an die Erhebung, an die Freiheit! So schuf sich das Volk seinen Film.

Diese Kunst, diesen Film sollen wir aber nicht haben, diese Kunst wollen "sie" uns nicht geben. "Sie" verbieten uns diesen Film! Zu diesem Verbot berichtet Leo Lania in seinem Bericht: "Die Oberfilmprüfstelle sitzt zu Gericht", daß selbst die Herren von der Oberfilmprüfstelle überwältigt werden von der Kraft dieses Films: "Seine Sprache dröhnt, wie ein Gewitter über den Beschauer hinweg, reißt ihn aus noch so distanzierter Stellung in den Mittelpunkt der Handlung."

Das ist das Wunder des "Potemkin": Selbst die Herren Prüfer und Sachverständigen können sich der Wirkung dieses künstlerischen Erlebnisses nicht entziehen. Sie setzen gelangweilte Mienen auf — es gelingt ihnen nicht. Und das erste Wort, das fällt, als die Lichter wieder aufflammen, ist die Feststellung, man habe bisher noch nie einen Film von dieser künstlerischen und technischen Vollendung gesehen, der Film sei ein außerordentliches Kunstwerk.

Der diese Worte spricht, ist der Vertreter der württembergischen Regierung, der auf solche Art die Begründung seines Antrages einleitet, die Oberfilmprüfstelle möge die weitere Aufführung des Films nicht nur in Württemberg, sondern im ganzen Reiche — verbieten."

Trotz des Zugeständnisses, "außerordentliches Kunstwerk", Verbot. Aber es soll uns nicht kümmern, was "sie" sagen: Kunst — aber Tendenz, wir wissen: Sie nennen es nur Tendenz, weil es nicht ihre Linie ist, wäre es aber ein "Fridericus-Rex", weder dessen Nichtkunst noch dessen augenfällige Tendenz würde "sie" kümmern, ihn nicht nur zu gestatten, sondern ihn sogar zu fördern. Aber sie fürchten uns, die Macht unserer Kunst, unseres Potemkin. Sie sehen die Flammenzeichen an der Wand, die künden, daß "Belsazar ward in selbiger Nacht von seinen Knechten umgebracht". "Sie" sind wie Pfaffen, die es nicht wagen, sich in Versuchung zu begeben, "sie" fürchten die Sprache, von der sie hören, daß "sie" Lügner, Betrüger und Schufte sind, "sie" fürchten, edel und rein menschlich und wahrhaft heldisch handeln zu müssen, "sie" fürchten, überwunden zu werden von dem Edlen und Freien, "sie" sind feige, knechtsselig, sie schlottern vor den Folgen dieser Tat; vor dem Freispruch des Films. "Schnell hinweg! Hinweg! Verbot! Tod!" schreien "sie" — und machen sich zweimal lächerlich: einmal wollen sie die Republik schützen durch Verbot eines antizaristischen, also auch antimonarchistischen Films, sie treten "als Anwalt der ehemaligen Zarenherrschaft" auf, und ein andermal sehen und erkennen sie das Kunstwerk des Volkes und verbieten es, als Kunstschänder, Bilderstürmer, Tempelräuber!

Allzu deutlich lassen sie sich in die Karten sehen: ihre Moral hat einen doppelten Boden, ihr Kunstverständnis ist doppelzüngig. Monatelang ist der Film in Deutschland von Millionen Menschen gesehen worden, vom ganzen Volke, nirgends ist es zu Aufständen, Störung der Friedhofsruhe und der Zuchthausordnung der deutschen Republik gekommen; spontanen Jubel und Beifall, enthusiastische Begeisterung löste dieser Film in Millionen Herzen. Daß es nicht zu Aufständen kam, lag nicht in der (wie angenommen werden kann) geringen Wirkung des Films, im Gegenteil, als einen Treueschwur nahm jeder die Gewißheit mit nach Hause, im Gedenken an die ersten Opfer der Revolution, auch sich mit Leib und Seele dem Kampfe für die Freiheit zu weihen. Aber gerade das ist die Stelle, weshalb der "Potemkin" verboten werden muß! Er ist zum Altar des Volkes geworden, zum Eidgenossen! Und es darf nicht sein, hört ihr, es darf nicht sein, daß wir Kämpfer der Freiheit sind.

Aus: Der Syndikalist, 8. Jahrgang, Nr. 32, Berlin 7. August 1926. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.