Birgit Schmidt - Der disziplinierte Anarchist (Buchbesprechung)

Er unterstützte den Krieg der Alliierten gegen die Deutschen und kritisierte die kubanische Revolution aus libertärer Sicht: Sam Dolgoff war ein streitbarer Anarchosyndikalist. Jetzt sind seine Memoiren auf Deutsch erschienen.

Anders als in Deutschland interessiert sich in den USA ein Zweig innerhalb der Geschichtswissenschaft für die Geschichte des Anarchismus und Anarchosyndikalismus im Land, und das aus ­gutem Grund. Die Kommunistische Partei der USA ist über den Status einer Splitterpartei niemals hinausgekommen, die Versuche, eine sozialistische Partei zu gründen, scheiterten bereits im Ansatz. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren die Vereinigten Staaten dennoch Schauplatz zahlreicher gewerkschaftlicher Kämpfe. Der Historiker Paul Avrich (1931-2006) war einer der besten Kenner der anarchistischen Bewegung. Er ermutigte Aktivisten dazu, aus ihrem Leben zu erzählen, und dokumentierte dies für die Nachwelt. Er befragte ehemalige Aktivisten der Arbeiterorganisation Knights of Labour, führte Interviews mit den ehemaligen Wobblies, wie die Mitglieder der Industrial Workers of the World genannt werden, und sprach ebenso mit den radikalen Gewerkschaftern der Textilindustrie wie mit altgedienten Anarchisten.

Einer, der von ihm aufgefordert worden war, seine Geschichte niederzuschreiben, ist der anarchistische Aktivist Sam Dolgoff (1902-1990). Unter dem Titel »Anarchistische Fragmente. Memoiren eines Anarchosyndikalisten« sind seine Erinnerungen im Verlag Edition AV nun auch auf Deutsch erschienen. Auch wenn Dolgoff, der das Handwerk des Malers gelernt hatte, alles andere als ein begnadeter Schriftsteller ist, sind seine Memoiren doch aufschlussreich. Dolgoff ist ein recht typischer Vertreter des amerikanischen Anarchismus, dessen Anfänge in den revolutionären Kämpfen des von Pogromen erschütterten Zarenreichs liegen. Auch Dolgoff, der eigentlich Dolgopolski hieß und im Jahr 1902 geboren wurde, entstammte wie so viele seiner späteren Genossen dem Chagallschen Milieu eines Stetls. Er wuchs im heutigen Weißrussland auf und gelangte mit der großen russisch-jüdischen Einwanderungswelle Anfang des 20. Jahrhunderts an die amerikanische Ostküste, genauer: an die Lower Eastside in New York. Über die von Armut geprägten Verhältnisse, in denen er lebte, schreibt er in seinem Buch: »Die zwei Toiletten für die sechs Mietparteien auf jedem Stockwerk befanden sich auf dem gemeinsamen Flur. Es gab kein Badezimmer. Ein großer Waschzuber in der Küche diente auch als Badewanne. Wenn ein weiterer Immigrant auf der Suche nach Obdach kam, diente eine Abdeckung aus Metall über dem Waschzuber auch als Bett. Es gab keine Zentralheizung, kein heißes Wasser und keinen Strom.«

Sein Vater war vor dem langjährigen Militärdienst geflohen, den der Zar den Juden seines Reiches auferlegt hatte. Der Bruder des Vaters, ein kommunistischer Schriftsteller, verschwand in den dreißiger Jahren in einem Lager des Stalinschen Archipels.

Sam Dolgoff war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitglied der Industrial Workers of the World. In den zwanziger Jahren zog er als Redner von Stadt zu Stadt und sprach an Straßenecken und in Hörsälen, agitierte für die Arbeiteraktivisten Mooney und Billings, für Sacco und Vanzetti und gegen reformistischen Sozialismus und autoritären Kommunismus. In Chicago schloss er sich 1925 der Gruppe »Free Society« an, der größten anarchistischen Fraktion der Stadt, und kam mit Grigori Maximow, einem Veteranen der Russischen Revolution, in Kontakt. In Chicago begegnete er auch Lucy Parsons, die Witwe des Haymarket-Märtyrers Albert Parsons, und Ben Reitman, dem Liebhaber von Emma Goldman. Er schrieb für alle maßgeblichen Organe der Bewegung wie Vanguard und verfasste Bücher über Bakunin, über die Spanische Repu­blik und über die Anarchisten auf Kuba. Er gründete eigene Zeitungen und lebte mit seiner Frau Esther und seinen beiden Söhnen lange Zeit in einer anarchistischen Kolonie, wobei sich sein Zorn bald gegen die sogenannten »Kolonie-Hoboes« richtete, die, wie der bodenstän­dige Dolgoff meinte, lieber nehmen als geben würden und das anarchistische Gemeinwesen zugrunde richteten. Für ihn waren es »Schmarotzer, die ständig von einer Kolonie zur nächsten wanderten«.

Tatsächlich zog die anarchistische Bewegung auch zahlreiche Außenseiter an. Für Dolgoff waren insbesondere die »Nudisten, Reformköstler, selbsternannte, mit Gott persönlich bekannte Heilige«, die sich im Kreis der Anarchisten tummelten, ein Ärgernis. Der Arbeiter mit Frau, Kindern und Arbeitsplatz klagt über Spalter, Querulanten, Provokateure und Verrückte. Ihm war es immer darum gegangen, seinem Leben und dem Leben anderer Menschen einen Sinn zu geben und diszipliniert für den Anarchismus zu arbeiten, der ihm nicht nur Synonym für die erstrebte solidarische Gesellschaft, sondern auch eine Art Verhaltenskodex war, der in etwa darauf hinausläuft, dass man sich niemandem unterwirft, hilfsbereit und solidarisch ist.

Von »absoluter Integrität« sei sein Vater gewesen, schreibt einer der beiden Söhne im Vorwort des Buches und fügt hinzu: »Was meinen Vater zum Anarchisten machte, war sein Hass auf diejenigen Institutionen, die das Leiden anderer aufrechterhielten und von diesem profitierten, nämlich der Staat, das kapitalistische System und organisierte, etablierte Religion.«

Mit diesem Hass war Dolgoff nicht allein, doch die insbesondere von russischen Juden und Ita­lienern getragene breite anarchistische Bewegung in den USA, die ihren Höhepunkt zwischen 1870 bis in die vierziger Jahre hinein hatte, spaltete sich immer wieder. Letztlich versank die Bewegung in der Bedeutungslosigkeit. Vergessen darf man allerdings nicht, dass es die großen Tragödien des 20. Jahrhunderts waren, die Anlass für Streits, Lagerkämpfe und Spaltungen boten. Bereits mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatten die Anarchisten auf internationaler Ebene erbittert gestritten, als sich der russische Anarchist und Schriftsteller Pjotr Alexejewitsch Kropotkin entgegen den pazifistischen Grundsätzen des Anarchismus für eine Kriegbeteiligung Großbritanniens gegen Deutschland aussprach.

Während der frühen zwanziger Jahre dann war man paralysiert angesichts der Verfolgung der russischen und ganz besonders der ukrainischen Anarchisten durch die Bolschewiki. Ratlosigkeit herrschte auch nach dem Zusammenbruch der Spanischen Republik. Bald fügte der Nationalsozialismus dem Anarchismus seine schwerste Wunde zu und gab den Anlass für eine weitere Spaltung – es sollte die letzte gewesen sein. »Zusammen mit Rudolf Rocker, Grigori Maximow und dem weitaus größten Teil der anarchistischen Bewegung, der sich entschlossen gegen den Ersten Weltkrieg gestellt hatte, waren wir nun der Ansicht, dass die bloße Existenz dessen, was von der Zivilisation noch übrig war, von einem vollständigen militärischen Sieg über die barbarischen Horden der Faschisten abhing«, schreibt Dolgoff. Anderen, in der Regel nichtjüdischen Mitgliedern der anarchistischen Bewegung, galt jedoch der Zweite Weltkrieg allein als imperialistischer Krieg, in dem man nicht Partei ergreifen wollte. Darüber zerstritten sich die Überreste einer Bewegung, deren Mitglieder zur Stelle gewesen waren, um den spanischen Faschismus oder als Soldat der US-Army den Nationalsozialismus aktiv zu bekämpfen.

Sam Dolgoff und seine Frau Esther blieben bis zum Schluss Anarchisten. Nach dem Tod des Diktators Franco reisten die beiden nach Spanien, um sich mit anderen einstigen Aktiven oder Zeugen heroisch-aussichtsloser Kämpfe zu treffen. Noch im hohen Alter verfolgte und kommentierte der Unermüdliche die Streiks im Iran und die Geschehnisse und Kämpfe in Ghana. Während der Niederschrift seiner Memoiren starb Dolgoff im Oktober 1990 im Alter von 88 Jahren. So ist ein Teil der Erinnerungen Fragment geblieben, was ihren Wert als historisches Dokument nicht mindern kann.

Sam Dolgoff: Anarchistische Fragmente. Memoiren eines Anarchosyndikalisten, Edition AV, Frankfurt / Main 2011, 231 Seiten

Originaltext: http://jungle-world.com/artikel/2011/40/44098.html