Johannes Supe - »Bei uns bestimmen die Mitglieder, wie gekämpft wird«

Konkurrenz für die DGB-Verbände: Die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union Berlin organisiert prekäre Kleinbetriebe. Ein Gespräch mit Tinet Ergazina und Markus Weise

Die Freie Arbeiterinnen- und Arbeiter-Union, FAU, ist anders. Eine Gewerkschaft ohne Festangestellte und mit klassenkämpferischer Ausrichtung. Wie klappt das mit der Basisdemokratie bei Ihnen in Berlin?

Weise: Bei uns bestimmen die Mitglieder selbst, wie und welche Kämpfe geführt werden. Und die Auseinandersetzungen führen sie dann mit unserer Unterstützung selbst durch. Da gibt es keine Tarifkommission, die sagt: »Das Angebot vom Arbeitgeber nehmen wir jetzt an.« Ob am Ende ein Vertrag unterschrieben wird, entscheiden die Betroffenen selbst. Einen bezahlten Apparat haben wir nicht. Leute in Funktionen – wie Tinet oder ich – sind gegenüber der Basis weisungsgebunden. Wir üben unsere Tätigkeiten neben der Arbeit aus und können jederzeit wieder abgewählt werden.


Bekannt geworden ist Ihre Gewerkschaft zuletzt über den Arbeitskampf bei der Mall of Berlin. Dort unterstützen Sie rumänische Arbeiter, die sich über niedrigen Stundenlohn und Zehnstundentage beschweren. Wie kamen die Beschäftigten zu Ihrem Syndikat?

Ergazina: Hauptsächlich beschweren sie sich darüber, dass sie um ihre Löhne geprellt wurden. Freunde von ihnen waren auf die FAU Berlin gestoßen. Acht Arbeiter kamen dann zu uns. Mit ihnen haben wir überlegt, was zu tun ist. Dabei mussten wir auch grundsätzliche Probleme lösen: Sie waren obdachlos und ohne Einkommen. Die ersten paar Nächte konnten die Kollegen bei uns im Büro übernachten, später haben wir für sie Unterkünfte in Hausprojekten gefunden. Wir haben auch eine Spendenkampagne organisiert, um das Geld für Essen und BVG-Karten zu beschaffen. Und nur wenige Tage nach dem ersten Treffen gab es bereits die erste Aktion mit ihnen, die auch gleich auf eine große Presseresonanz gestoßen ist. Sie haben dann mit unserer Unterstützung vor dem Arbeitsgericht Lohnklagen erhoben.


Ein typischer Konflikt für Sie?

Weise: Er ist beispielhaft. Wir führen unsere Kämpfe meist im hochprekären Bereich. In der Regel aber eher in der Klitsche von nebenan, oft in Gastrobetrieben. Im Fünfmannbetrieb bekommen die Leute täglich mit, was am Kapitalismus Scheiße ist. Dort werden sie etwa um ihre Überstunden beschissen. Vorletzte Woche kam jemand zu uns, der per SMS gefeuert wurde. »Brauchst nächste Woche nicht mehr kommen«, stand darin.


Und dann stürmen Sie direkt den Laden?

Ergazina: Nein, das läuft organisierter. Bis zu fünf Personen kommen in einer Woche mit Problemen zu uns. Die meisten davon können wir mit Briefen regeln. Etwa wenn jemand unrechtmäßig gefeuert wurde oder seinen Lohn nicht bekommt. Nach einer Meldung von uns geben die Arbeitgeber oft nach. Dann ist auch alles gut. Ansonsten kommt es zu Kämpfen. Und das hat sich mittlerweile herumgesprochen.


Greifen Sie bei den Auseinandersetzungen auch zu Sabotageakten?

Ergazina: Arbeiter greifen doch tagtäglich zur Sabotage, das kann auch eine kleine Sache sein. In einem Gastronomiebetrieb gab es etwa keine gute Belüftung. Der Chef wollte, dass die Fenster dort immer geöffnet sind. Aber einigen aus der Belegschaft schlug das auf die Gesundheit, sie bekamen etwa Nackenschmerzen. Dann wurden die Fenster einfach festgenagelt. Wer es gewesen ist, verriet man nicht.


Nutzt so etwas auch beim Kampf um einen Tarifvertrag?

Weise: Das ist eine ganz andere Nummer. Da schauen wir uns erst mal die Firma genau an und überlegen uns, wo deren Schwachpunkte liegen. Oft sind die Betriebe etwa auf ihren guten Ruf angewiesen. Mit der Belegschaft überlegen wir dann, was für sie in Frage kommt. Manche wollen auch erst einmal sanfter in eine Auseinandersetzung einsteigen. Natürlich sagen wir denen nicht: »Wir machen jetzt aber Sabotage.«


Und dafür braucht es eine FAU Berlin mit ihren 300 Mitgliedern? Können das DGB-Verbände wie ver.di oder die IG Metall nicht wesentlich besser, zumal sie um einiges größer sind?

Weise: Der DGB ist nicht unser Gegner, sondern die Kapitalseite. Unser Anliegen ist es immer, mit den Kolleginnen und Kollegen der DGB-Gewerkschaften an der Basis solidarisch zusammenzuarbeiten. Der große Unterschied zu den Verbänden des Gewerkschaftsbunds ist natürlich, dass bei uns die Betroffenen entscheiden. Bei den DGB-Verbänden gibt es hingegen nur selten eine Einbeziehung der Basis. Da wird den Leuten oft nur gesagt, dass sie während der Mittagspause mal einen Warnstreik machen sollen. Oder sie kriegen eine E-Mail nach dem Motto: »Ziehe deine orange Weste an und komm her.« Aber in die Entscheidungsprozesse werden die Kollegen nicht miteinbezogen.


Dem würden die Organisationen des DGB wohl widersprechen. Abstimmungen über Inhalte, Streiks und Tarifabschlüsse gibt es auch dort. Wegen der Größe der Gewerkschaften werden die Beschlüsse meist im Rahmen von Delegiertenversammlungen getroffen.

Weise: Das ist nur Trug. Da muss ich mir die Gewerkschaften nur ansehen, um zu wissen, wie undemokratisch sie sind. Der Funktionärsapparat stimmt ab, nicht die Leute im Betrieb. Und wenn die gefragt werden – meist gibt es dann ja Ergebnisse von 75 Prozent Zustimmung oder mehr –, muss man sich doch auch fragen: Wie hat man die Kollegen überhaupt informiert? Und was wäre denn, wenn sie nein sagen würden? Meist bekommen die Beschäftigten von den Funktionären etwas vorgelegt, an dessen Entstehung sie vorher gar nicht beteiligt waren. Eine wirkliche Meinung können sich die Arbeiter so kaum bilden.


Rechtfertigt das die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung? Die FAU organisiert immerhin Branchen, deren Beschäftigte typischerweise von DGB-Verbänden vertreten werden.

Weise: Eine Spaltung sehe ich nicht. Im Gegenteil: Wo es viele Gewerkschaften gibt, etwa in Frankreich, Italien oder Spanien, herrscht auch eine kämpferischere Tradition als hierzulande. Denn viele Verbände bedeuten auch »Konkurrenz«. Wenn die eine Gewerkschaft dann unternehmensnahe Politik macht, gehe ich zur nächsten. Das bringt auch die alteingesessenen Organisationen zum Nachdenken. Alle Arbeiterinnen und Arbeiter sollten das Recht haben, frei ihre Gewerkschaft zu wählen oder zur Not eben gründen zu können. Das nennt man Gewerkschaftsfreiheit.


Oder es kommt zu Konflikten untereinander. Wie etwa beim Berliner Kino Babylon. Zuerst wollten Sie dort kämpfen, aber ver.di verhagelte Ihnen einen Haustarifvertrag. Jetzt wird unter der Führung von ver.di gestreikt. Doch Sie haben die Termine des Ausstands so frühzeitig verraten, dass dessen Überraschungseffekt verlorenging.

Weise: Das ist eine Kritik, die wir auch annehmen, und wir haben uns entschuldigt. Unser Ansinnen war jedoch, Solidarität zu zeigen. Ver.di-Sekretär Andreas Köhn hat seinerzeit als gelber Gewerkschafter und Bossversteher gehandelt. Ich bleibe daher ein Freund vieler Verbände. Wenn es nur eine Gewerkschaft gibt, besteht im Grunde keine Arbeitervertretung mehr. Da brauche ich mir nur die Ostblockländer anschauen oder den deutschen Faschismus. Meine persönliche Meinung ist: Die systemtragende Einheitsgewerkschaft war meistens der Tod der Arbeiterklasse.


Kühne These. Wie schaut es bei Ihnen mit dem politischen Anspruch aus? Die FAU Berlin versteht sich ja als anarchosyndikalistische Organisation.

Ergazina: Der zeigt sich in unserer Praxis. Bei uns organisieren sich die Arbeiter selbst, um besser gegen den Kapitalismus zu kämpfen und ihre Arbeitsbedingungen zu verbessern. Das Ziel des Syndikalismus ist, dass die Arbeiter selbst ihre Betriebe übernehmen. Kurzfristig geht es darum, die Arbeitsbedingungen Schritt für Schritt zu verbessern oder einfach die eigenen Rechte durchzusetzen, wenn sie unterlaufen werden – und das ist unser Alltagsgeschäft.


Auf Ihrer Website bezeichnen Sie die FAU Berlin als »Transformationsorganisation«. Ist eine Gewerkschaft dazu geeignet, die Revolution voranzubringen?

Ergazina: Jeder Tag ist eine kleine Revolution. Etwa wenn der Arbeiter mehr über seine Rechte lernt und sich besser gegen seinen Arbeitgeber durchsetzen kann.


Mit einem besseren Wissen um die Rechte im Kapitalismus ist das System aber noch nicht zerschlagen, oder?

Ergazina: Mit dem Kapitalismus werden wir uns sicher noch eine längere Zeit herumschlagen müssen. Nur mit dem Wissen um die bestehenden Arbeitnehmerrechte den Kapitalismus zu zerschlagen wäre auch illusorisch. Aber sie sind ein Anfang zum Kämpfen. Transformation heißt die stückweise soziale Revolution von unten über einen langen Zeitraum, nicht von oben über Nacht.

Weise: Mit dem Überwinden des Kapitalismus ist es ja auch noch nicht getan. Es bedarf auch einer Idee, wie es dann weitergehen soll, und dafür ist unsere Gewerkschaft eine gute Schule.

Aus: Anarchismus, Beilage der jungen Welt vom 05.08.2015

Originaltext: https://www.jungewelt.de/beilage/art/269684