A. D. Santillan - Revolutionäre Richtlinien

Wir haben es schon vor dem 19. Juli gesagt; wir sagen es heute; und wir werden es morgen sagen: das, was uns von allen unterscheidet, das was für uns wesentlich ist an der Arbeiterbewegung, das ist unser Idealismus, das ist unsere einwandfreie, saubere Haltung, unsere unerschütterliche Gradheit und unsere Kampfkraft. Die Konjunkturritter haben immer über uns gelacht weil wir unsere Bequemlichkeit, unsere Ruhe und unser Leben für die gemeinsame Sache geopfert haben. Haben uns auf unserem bitteren und schweren Weg die Steine aufhalten können, die die Böswilligkeit und die Verständnislosigkeit uns Nahestehender oder unserer Feinde, vor die Füsse warfen?

Wir haben keinen Grund, diese unsere bisherige Haltung zu bedauern. Wir haben es immer vorgezogen und werden es weiter vorziehen, anzustossen, um den Blick frei zu behalten für das grosse Ziel, für die grosse Aufgabe, die uns erwartet, statt uns an Tageskleinkram und Parteileidenschaften zu verlieren.

Von diesem Weg, der der wahrhafte ist, möchten wir keinen der Unseren abweichen sehen. Wir möchten nicht im Namen unserer Bewegung die Zukunft der Gegenwart opfern; wir gehen unseren Weg weiter auf eine Zukunft der Gerechtigkeit, der Freiheit und des Brotes für alle zu. Wir verlassen nicht unsere fast ein Jahrhundert alte Linie, um uns in den Strudel der Politik zu stürzen in die Leidenschaften und die Kleinkrämereien enger Herzen und beschränkter Gehirne. All das ist bedeutungslos, unwesentlich und unserer grossen Sache fremd. All das geht vorüber, während die ewige menschliche Sehnsucht nach einer besseren Welt besteht. Wir sind die Träger dieser ewigen Sehnsucht; dafür müssen wir alle unsere Kräfte, allen unseren Enthusiasmus, alle unsere Fähigkeiten einsetzen. Der Krieg ist noch nicht gewonnen, die neue soziale Organisation ist noch nicht geschaffen, die Menschen sind noch nicht besser, als sie gestern waren.

Ein politisches Regime kann man in wenigen Stunden ändern; die Fahnen bekommen andere Farben; die Strassen andere Namen; aber das ist nicht Revolution; das ist revolutionäres Ballett. Die Revolution geht tiefer; sie muss die Gewohnheiten verändern, die traditionellen Laster ausrotten, den brutalen Egoismus und die Unwissenheit überwinden. Wir haben mit uns teuren Namen die Strassen der Dörfer und Städte neugetauft, wir haben stolz unsere Flagge wehen lassen, wir haben den hartnäckigsten Feind in die Flucht gejagt. Jetzt wird die Revolution Werk des Aufbaus, der Intelligenz, fruchtbare Arbeit, tägliches Beispiel. Vergessen wir das nicht!

Viele Genossen kostet es grosse Mühe, sich dieser neuen Arbeit anzupassen. Viele Jahre des Kampfes gegen den Kapitalismus und gegen die Verfolgungen des Staates haben ihnen den Kampf zur zweiten Natur gemacht. Das ist begreiflich, und wir machen ihnen daraus keinen Vorwurf. Aber die Revolution ist heute nicht so, wie sie vor dem 19. Juli war, der tägliche Kampf gegen ein politisches und soziales System. Die Bedingungen sind jetzt andere; und wir müssen uns hüten, aus einer Quijoterie heraus, das nicht zu sehen.

Unsere Schlagkraft von gestern muss andere Formen annehmen. Auf der einen Seite muss sie sich im Krieg gegen den Faschismus auswirken — und das ist etwas anderes als Prügelei mit Streikbrechern oder Kampf gegen engstirnige Arbeitgeber oder politische Tyrannen — und auf der anderen Seite muss sie sich in dem mühsamen Aufbau einer neuen und besseren Form wirtschaftlichen und sozialen Zusammenlebens äussern. Eine lange Erfahrung hat uns gelehrt dass das einzig Beständige an unserem Werk, das einzige, dessen wir uns nie zu schämen brauchen, die moralische Überlegenheit ist, die Klarheit und Geradheit der Haltung.

Das begonnene Werk, dieser Keim eines neuen Werkes, verlangt das Opfer alles Kleinkrams und Täglichen zugunsten des Grossen, das alle von uns erwarten. Seien wir wie immer die Ersten in allem Guten und Edlen und die Letzten — wenn es keine andere Lösung geben sollte — in allem, was unsere saubere revolutionäre Linie beschmutzen könnte. Die Genossen müssen das begreifen und danach handeln.

Es gibt viele Arten, das Spiel zu verlieren. Die schlimmste wäre, es zu verlieren in dem Pestsumpfe der Tagespolitik. Das ist nicht unsere Politik. Diese Haltung können wir nicht vertreten, weder als Männer der CNT und der FAI, noch als Augenzeugen der tragischen, grossen Stunde der Weltgeschichte, die begonnen hat.

Aus: Die Soziale Revolution Nr. 5-6, 1937. Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ä zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.