Diego Abad de Santillan - Der ökonomische Organismus der Revolution. Organisation der Arbeit (1936)

Wir wollen hier den ökonomischen Organismus der Revolution und die allgemeine Richtung der neuen ökonomischen Struktur darlegen. Wir haben nicht die Absicht, neue gesetzliche Richtlinien aufzustellen, aber wir kommen nicht umhin, etwas über die Grundlagen der Republik der Arbeiter nach der Ausschaltung der Privateigentümer und ihrer Mittelmänner auszusagen. Eine Arbeiterrepublik muß den gesamten sozialen Reichtum übernehmen und die ganze Verwaltung müssen die Produzenten selbst in die Hand nehmen.

In den letzten Jahren haben die Anarchisten eine große Anzahl konstruktiver sozialistischer Literatur geschrieben. Wichtiger ist allerdings ihre Überzeugung von der möglichen Veränderung der ökonomischen und politischen Bedingungen, mit dem Ziel, allen Menschen ein Existenzminimum durch die Arbeit eines jeden zu garantieren. (…)

Als erster Schritt ist es wichtig, ein Organ zu schaffen, das die täglichen und unmittelbaren Probleme der Revolution lösen kann. Dieses Organ kann unserer Meinung nach nichts anderes als die Organisation der Arbeit sein - ohne Beeinflussung durch den Staat, ohne Zwischenstellen und Parasiten.

Wir können nicht zum ökonomischen Primitivismus zurückkehren. Als Ziel stellen wir uns ein System der Produktion und Verteilung durch die Produzenten und Konsumenten selbst vor, wobei ein Höchstmaß an Koordinierung aller produktiven Faktoren erreicht werden muß. Im Gegensatz zur kapitalistischen Ökonomie, die unfähig war, die große Vergeudung und die selbstmörderische Konkurrenz der einzelnen Industriebetriebe untereinander einzudämmen, haben wir eine nationale Koordinierung im Auge, um ein Höchstmaß an Produktion zu erreichen und alle vorhandenen Möglichkeiten auszuschöpfen.

(...) wir (meinen), daß jeder einzelne Betrieb der Mittelpunkt der Produktion ist und nicht die einzelne Branche. In einem einzelnen Betrieb können die Arbeiter der verschiedensten Berufsarten und Fähigkeiten zusammenarbeiten und dort die Basis bilden für die lokale, nationale und internationale Organisation aller Betriebe der entsprechenden Industriezweige.

Selbstverständlich ist es notwendig, die Freiheit des einzelnen in der Gruppe, die der Gruppe innerhalb der Gewerkschaft, die Gewerkschaft innerhalb der Branchenräte, dieser in den lokalen Räten etc. zu bewahren. Gleichzeitig kann es aber zahlreiche Abweichungen davon geben. Deshalb muß ein allgemeines ökonomisches Organ geschaffen werden, das wir im folgenden zu skizzieren versuchen.

Wir möchten hier nicht unsere Zukunftsträume darlegen, sondern das, was unter gegenwärtigen Bedingungen möglich erscheint. Wir können den Privatkapitalismus überwinden, ohne eine Phase des Staatskapitalismus zu durchlaufen. Wir wollen jenen, die arbeiten, die Mittel geben, wirkliche Eigentümer der Produktion und Distribution zu werden. Wenn unser Vorhaben auch nicht die Erwartungen der Anspruchvollsten erfüllen mag, so wird doch hier etwas in Gang gesetzt, was keine Hoffnungen zerstören soll und die Möglichkeit auf spätere Verbesserungen offen läßt.

Arbeit wird ein Recht und gleichzeitig eine Verpflichtung sein. Das ökonomische Leben kann nicht unterbrochen werden. Im Gegenteil, die Revolution muß es stark antreiben und wir müssen jetzt lernen, wie während und nach der Revolution weiter produziert, distribuiert und konsumiert werden kann - nicht nur von den Anhängern, sondern auch von den Gegnern der Revolution.

Viele befürchten, daß sich in einer freien Gesellschaft diejenigen, die sich vor produktiver Arbeit drücken wollen, leicht ihren Verpflichtungen entziehen könnten. In einem System organisierter Arbeit ist es jedoch nicht möglich, am Rande der Produktion zu leben. Übertriebene Zwänge und Druck sind weitaus gefährlicher als der Verlust des Zusammenhalts der Produktion. Deswegen sagen wir, daß die nächste, von den Anarchisten mit Begeisterung getragene Revolution eine Revolution sein wird, nach der Widerstand gegen die Macht keinen Platz haben wird. Wir sehen nach der Zerstörung des Kapitalismus eine lange und schwere Arbeitsperiode für uns libertäre Anarchisten voraus, denn jahrhundertelange Erziehung mit Privilegien und für Privilegien kann nicht mit einem Schlag ausgelöscht werden.

Anstelle des Kapitalisten, des Privateigentümers und Unternehmers wird es nach der Revolution Fabrik-, Betriebs- und Industrieräte geben, die von Arbeitern, Angestellten und Technikern gebildet werden. Sie repräsentieren diejenigen, die in den einzelnen Betrieben arbeiten. Diese wiederum haben das Recht, die Befugnisse ihrer Delegierten einzuschränken und sie abzuwählen. Niemand kann die Möglichkeiten und Fähigkeiten jedes einzelnen in einem bestimmten Betrieb besser einschätzen als die Arbeiter selbst. Dort, wo jeder jeden kennt, ist Demokratie möglich.

Die Betriebsräte, in Vertretung der in dem Arbeitsbereich Beschäftigten, koordinieren die Arbeit in ihrem Betrieb und stellen die Verbindungen zu anderen Betrieben und anderen Produktionsgruppen her. Bei der Disposition und Regelung ihrer Arbeit greift keine Instanz von außerhalb ein. Es gibt vollständige Autonomie. Die Produktion muß den Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Bedingungen jedes einzelnen Betriebes und den Bedürfnissen der Bevölkerung entsprechen.

Die Betriebsräte arbeiten untereinander zusammen und bilden die Gewerkschaften ähnlich gearteter Produktionszweige: die Handels- und Industriegewerkschaften. Diese neuen Institutionen haben keinen Einfluß auf die interne Struktur der einzelnen Betriebe. Sie sorgen für die Modernisierung der Werkzeuge; sie achten auf Zusammenschlüsse und die Zusammenarbeit der Betriebe, auf die Abschaffung unproduktiver Betriebe etc.

Die Gewerkschaften sind die repräsentativen Organe der lokalen Produktion eines bestimmten Produktionszweiges. Sie sorgen nicht nur für deren Bestand, sondern bestimmen auch deren Zukunft. Sie gründen Berufsschulen, Forschungsinstitute und Experimentierlabors - entsprechend ihrer Mittel und Initiativen. Die Gewerkschaften sind nach der Funktion der einzelnen Zweige untereinander verbunden. Wir teilen sie in 18 Sektionen oder Branchen auf, deren Aktivitäten für die Entwicklung einer modernen Gesellschaft unbedingt notwendig sind:

1. Rat der Nahrungsmittelindustrie;
2. Rat der Bauindustrie;
3. Rat der Bekleidungsindustrie;
4. Rat der Landwirtschaft;
5. Rat der Viehproduktion;
6. Rat der Forstwirtschaft;
7. Rat der Bergbau- und Schwerindustrie;
8. Rat der öffentlichen Versorgungsbetriebe;
9. Rat des Transportwesens;
10. Rat für Kommunikationswesen;
11. Rat der chemischen Industrie;
12. Rat des Gesundheitswesens;
13. Rat der Metallindustrie;
14. Lokaler Wirtschaftsrat;
15. Regionaler Wirtschaftsrat;
16. Bundeswirtschaftsrat;
17. Rat für Kredit- und Wechselwesen;
18. Rat für Verlagswesen und kulturelle Aktivitäten.

Aus: Ökonomie und Revolution, Texte von Diego Abad de Santillan u. Juan Peiro, Karin Kramer Verlag, Berlin 1975, S. 94-97; Neuauflage: Verlag Monte Verita, Wien 1986

Originaltext: Degen, Hans-Jürgen: „Tu was du willst“. Anarchismus – Grundlagentexte zur Theorie und Praxis. Verlag Schwarzer Nachtschatten 1987. Digitalisiert von www.anarchismus.at