Luisa Sánchez Saornil - Die Hochzeitszeremonie oder die Feigheit des Geistes

Im Archiv eines gewissen "Ateneo Libertario" haben wir eine große Anzahl von Heiratsurkunden betrachten können, die von den Genossen des Komitees in dessen Namen beglaubigt worden sind. So wie in diesem Ateneo können wir sie sicherlich auch bei jeder anderen Gewerkschaft oder in den Büros eines Bataillons der Konföderation finden.

Es wird ohne Zweifel Leute geben, die diesen Dingen wenig Bedeutung beimessen wollen, auch einige, die meinen, daß es nicht lohne, zwei Spalten mit solchen Angelegenheiten zu füllen, und welche, die versuchen werden, zu lächeln oder mehr oder weniger dezente Witze im Zusammenhang mit dieser Frage zu machen.

Wir meinen dagegen, daß es in einer Zeit tiefgehender sozialer Veränderungsprozesse weder Details noch Ereignisse gibt, die - so wenig wichtig sie auch erscheinen mögen - nicht von uns in aller Ausführlichkeit untersucht werden müßten. Diese Dinge, die wir für klein halten, haben manchmal weitreichende Bedeutung im Zusammenleben der Menschen. Dieses Zusammenleben bildet die Grundlage für den sozialen Aufbau.

Jedes einzelne dieser isolierten Dinge scheint für sich genommen keine Bedeutung zu haben. Aber da keines davon für sich bestehen kann, sondern in enger Beziehung zu den anderen steht, bildet es nur ein Zahnrad innerhalb des gesamten Räderwerks. Deshalb dürfen sie von niemandem geringschätzig oder oberflächlich betrachtet werden.

Wir Anarchisten haben Jahre um Jahre damit verbracht, für die freie Verbindung zu plädieren und sowohl das kirchliche als auch das weltliche Ritual der Hochzeit zu verdammen - man verzeihe uns den Begriff.

Wir haben Zeitungen, Zeitschriften und sogar Bücher damit gefüllt, den alten formellen Kram der Hochzeiten zu verurteilen und ihn sehr treffend in Zusammenhang mit der sozialen Grundlage des kapitalistischen Systems gebracht, der Prostitution. Die Prostitution mit all ihren Aspekten: die Prostitution des Mannes, der seine Gedanken und Ideen verpfänden mußte, um essen zu können. Die Prostitution der Frau, die aus dem gleichen Grunde sogar so weit gehen mußte, ihren eigenen Körper zu verkaufen. Die Prostitution, eine zwangsläufige Konsequenz der Ausbeutung.

Wenn das stimmt, wenn wir die Jahre damit verbracht haben, zu behaupten, daß für die Verbindung zweier Menschen die freie Übereinkunft beider genügen würde und eine Heiratsurkunde nichts anderes als ein Kaufvertrag wäre, wie können wir uns dann diese absurden Zeremonien erklären, die schon beinahe "Einbürgerungsurkunden" für die syndikalistischen Organe geworden sind? Und das ist doppelt beschämend, weil diese Zeremonie nichts anderes als ein treues Abbild der kirchlichen Zeremonie ist. Denn damit sie juristisch abgesichert wird, muß sie - wie jene - später gegenüber dem Gericht bestätigt und legalisiert werden.

Unterstreichen wir das Beschämende noch weiter, weil es im Grunde nichts anderes bedeutet als die öffentliche Einmischung in den Beischlaf, die Umwandlung einer einfachen und natürlichen Funktion in ein spektakuläres Ereignis auf der Ebene der Pornografie.

Wir haben nicht aufgehört zu wiederholen und werden das auch niemals tun, daß wir gerade die Revolution machen, daß der Augenblick gekommen ist, die Worte durch Taten zu ersetzen, daß man der oberflächlichen Geschwätzigkeit von gestern jetzt die Ehre erweisen muß, auch auf die Gefahr hin, unseren Kredit als Revolutionäre und Anarchisten zu verspielen, was sowieso heißt, doppelt "Revolutionäre" zu sagen.

Wenn die Revolution die Veränderung von Gewohnheiten ist, dann beginnen wir auch hier. Aber bald. Wir sollten jetzt schnell unsere Vorhaben, Gesetze und Prinzipien von gestern zum Leben bringen.

Wir haben neulich gesagt, daß die Revolution bei uns selbst anfangen müsse. Wenn wir das nicht machen, werden wir die soziale Revolution verlieren - nichts mehr und nichts weniger. Unsere bourgeoise Mentalität wird die alten Konzepte nur mit neuen Kleidern versehen und sie dabei in ihrer Gesamtheit aber beibehalten. Man muß sehr auf diese kleinen Dinge aufpassen, die oftmals die besten Anzeichen für unsere fehlenden revolutionären Fähigkeiten sind.

Wenn es uns gefällt, verurteilen wir ruhig die freie Verbindung. Aber verkleiden wir sie nicht feige mit scheinheiligen Zeremonien, und ziehen wir nicht die Gewerkschaften in unsere geistige Feigheit mit hinein.

Aus: "Horas de Revolucion", S. 24-26, veröffentlicht von der Gewerkschaft Nahrungsmittel, Barcelona, o.D.

Originaltext: Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.