Der Respekt des freien Geistes. Abel Paz' Biographie ist eine wichtige Fundgrube zur Geschichte Spaniens (Buchbesprechung)

Die Lebenserinnerungen des spanischen Anarchisten Abel Paz, mit bürgerlichem Namen Diego Camacho - vier ansehnliche Bände - sind wichtige Zeugnisse zur Geschichte Spaniens im 20. Jahrhundert.

Sie decken einen Zeitraum von gut 33 Jahren ab: Von seiner Geburt unter ärmlichen Verhältnissen im Jahr 1921 bis zum Ende seiner Haft in den Gefängnissen Francos 1954. Dazwischen liegt ein einschneidendes Ereignis, nicht nur im Leben von Abel Paz: Der Spanische Bürgerkrieg, und mit ihm die kurze, aber tiefgreifende soziale Revolution, die die Verwirklichung des Lebenstraumes so vieler Anarchistinnen und Anarchisten auf dem Land und in den Städten war und deren Scheitern viele von ihnen nie ganz verwinden konnten. Dieser Revolution hat Abel Paz den zweiten Band seiner Autobiographie gewidmet, Anarchist mit Don Quijotes Idealen, der erstmals unter dem Titel Viaje al pasado ['Reise in die Vergangenheit'] 2002 in der Edition der Fundación de Estudios Libertarios Anselmo Lorenzo (Madrid) als reich bebilderter Prachtband erschien und einen bemerkenswerten Verkaufserfolg erlebte. Es sei an dieser Stelle ehrlicherweise eingestanden: Es war einem zunächst nicht ganz wohl bei dem Gedanken gewesen, dass die Frankfurter Edition AV die Lebenserinnerungen von Abel Paz vollständig ins Deutsche übertragen lassen wollte (mittlerweile sind alle vier Bände erschienen).

Man fürchtete viel Engagement - und wenig handwerkliche Gründlichkeit. Es wäre schließlich nicht das erste Mal gewesen, dass eine unverzichtbare Quelle zur spanischen Zeitgeschichte durch unsauberes Arbeiten für den deutschen Buchmarkt verdorben wurde: Vor (nun glücklicherweise schon) einigen Jahrzehnten gab der Karin Kramer-Verlag Gerald Brenans meisterliches, wenn auch naturgemäß diskussionsbedürftiges Werk The Spanish Labyrinth ['Das spanische Labyrinth'] (London, 1962) zur Übertragung an ein "Übersetzerkollektiv", das eine derart lausige Arbeit ablieferte, dass das Buch auf deutsch im Grunde unlesbar ist. Man muss sich weiterhin mit dem englischen Original behelfen, und kein deutscher Verlag hat sich seither an einer Neuübersetzung versucht. Um es nur gleich zu sagen: Das Aufatmen folgte dem sorgenvollen Luftanhalten beim Öffnen des Buches auf dem Fuße.

Iris Leuterts Übersetzung ist gut und gründlich, und vor allem Michael Halfbrodts ebenso kenntnisreiches wie sprachsensibles Lektorat hat Anarchist mit Don Quijotes Idealen zu einem durchweg erfreulichen Leseerlebnis gemacht. Man hätte freilich auch kaum anderes erwarten dürfen, denn Abel Paz gehörte zu den agilsten Federn des spanischen Anarchismus. Ein umfangreiches biographisches Personenregister erleichtert die Benutzbarkeit des Bandes.

Mit politischen Lebenserinnerungen, oder, um die korrekte Gattungskennzeichnung zu bemühen, mit autobiographischer Literatur muss man natürlich umgehen können. Autobiographien bewegen sich auf einem schmalen Grad zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Dichtung und Wahrheit. Jeder Mensch, der versucht, sein Leben im Rückblick zu ordnen, muss auswählen, sortieren, gewichten, verbinden und gestalten.

Er muss zahllose Eindrücke und Details fortlassen, um einige wenige Erinnerungen hervorzuheben, und nicht selten steht - und sei es nur als Gedächtnisstütze - die "eigentliche" Literatur mit all ihren einprägsamen Kunstgriffen dabei Pate. Hinzu kommt bei Erinnerungen spanischer Anarchistinnen und Anarchisten ein weiteres Problem: Denn während des Bürgerkriegs gerieten auch innerhalb der anarchistischen Bewegung unterschiedliche Strömungen aneinander. Zwar blieb man bis 1939 im kritischen Gespräch, und niemandem wäre es eingefallen, von einer Spaltung der Bewegung zu sprechen.

Nach der Niederlage jedoch, und unter den häufig elenden Bedingungen des Exils, trugen spanische Genossinnen und Genossen ihre ideologischen Meinungsverschiedenheiten bisweilen mit offener Klinge aus.

Nicht umsonst hat man Autobiographien "Selbstrechtfertigungsschriften" genannt. Kaum ein anarchistischer Memoirenschreiber - und derer gibt es viele - mochte nach Revolution und Bürgerkrieg darauf verzichten, in seinen Erinnerungen noch einmal eine Lanze für seine Strömung zu brechen und sie als die einzig anarchistische hinzustellen. Wer beim Lesen von Anarchist mit Don Quijotes Idealen in Ehrfurcht erstarrt und vor lauter Respekt vor der bemerkenswerten Lebensleistung eines Abel Paz das kritische Nachfragen vergisst, wird zuletzt zwar gut unterhalten und um viele Informationen reicher sein. Ein authentisches Bild der Spanischen Revolution jedoch wird er nicht gewonnen haben.

Diego Camacho war bei Ausbruch des Bürgerkriegs am 18. Juli 1936 nicht einmal 16 Jahre alt. Am unterhaltsamsten - und wohl auch glaubwürdigsten - ist Anarchist mit Don Quijotes Idealen immer dann, wenn der alte Abel Paz mit mildem Lächeln auf den jugendlichen Heißsporn zurückblickt, der sich z.B. sofort nach dem Beginn der Kämpfe in Barcelona mit seinen kaum älteren Genossen zur erstürmten Kaserne von San Andrés aufmacht, um dort Waffen zu ergattern: "Mit geschultertem Gewehr holten wir uns noch zwei Schachteln Munition [...] und verließen zu dritt die Kaserne, Liberto und ich mit neidischem Blick auf Bajens' Pistole, denn eigentlich hätte uns so etwas besser gefallen als die großen Gewehre" (S. 16). Als sie sich allerdings mit ihren neuen Schätzen, die Diego nicht einmal zum Schlafen ablegen möchte, an der Pedralbes-Kaserne melden, um an die Front zu ziehen, erhält ihr Eifer einen empfindlichen Dämpfer: "Ricardo Sanz kannte uns von der Escuela Natura her sehr gut. [...] Als wir ihm erzählten, dass wir an die Front wollten, wurde er stinksauer, nicht nur auf uns, sondern auch auf den Compañero Lafuente. 'Freundchen', sagte er zu ihm, 'wenn wir auch diese Burschen an der Front opfern, was bleibt uns dann noch?'. Dann wandte er sich uns zu: 'Ab ins Viertel! Die Revolution besteht nicht nur aus Schießen...'. Liberto und ich zogen von dannen, mit eingezogenem Schwanz, wie man so schön sagt, und von unserer Schießwut geheilt" (S. 33). An Schilderungen wie diesen wird die alltägliche Lebenswirklichkeit der Revolution regelrecht greifbar, und keine geschichtswissenschaftliche Veröffentlichung könnte Vergleichbares bieten.

Abel Paz' Beschreibungen der revolutionären Begeisterung, die nicht zuletzt die jungen Aktivistinnen und Aktivisten von El Clot, seinem Viertel in Barcelona, erfasste, sind ähnlich anschaulich: "Es gab keine andere Autorität als die Autorität aller. Die Revolution war etwas Lebendiges, Latentes, das sich auf der Straße ausdrückte. Jene Unordnung ließ mich später denken, dass eben sie die logische Ordnung einer Revolution ist, die von unten kommt, die fest in der Erde verwurzelt ist und die Energien für ihre Verwirklichung in sich selbst findet" (S. 34). Auch das Misstrauen, das dem jungen Städter entgegenschlägt, als er sich zu einem Fußmarsch durch die revolutionären Landkollektive aufmacht, ist nachvollziehbar und hebt sich wohltuend ab von idealisierenden Darstellungen einer Schichten- und Regionen übergreifenden Einigkeit der Revolutionäre. Erst, als die Bauern und Landarbeiter sehen, wie sich der Junge aus Barcelona müht, sich bei der Arbeit nützlich zu machen, wird er akzeptiert und herzlich aufgenommen. Politische Solidarität überwand nicht einfach Grenzen wie jene zwischen Stadt und Land. Wen wundert's? Die Revolution wurde von Menschen gemacht, und nicht von Helden oder Heiligen. Die Schilderungen des Lebens in den Kollektiven bilden neben der Beschreibung der Kulturarbeit der anarchistischen Jugendgruppen in Barcelona und der Auseinandersetzungen innerhalb der anarchistischen Bewegung die vielleicht interessantesten Passagen des Buches.

An anderer Stelle jedoch fehlt die Anschaulichkeit, die oft den Reiz von Abel Paz Erinnerungen ausmacht und sie zu einem (auch) historisch wertvollen Zeugnis werden lässt. Dann ist Anarchist mit Don Quijotes Idealen nichts weiter als ein politisches Manifest. Seitenlang zitiert Paz - wörtlich! - aus dem Standardwerk von José Peirats La CNT en la revolución española ['Die CNT in der spanischen Revolution'] (3 Bde., Toulouse, 1952), um die Politik der führenden Köpfe der CNT zu kritisieren (vgl. S. 226-247). Dann wiederum sind es die Lebenserinnerungen des Stalin-Agenten Walter G. Krivitskys, die Abel Paz' Anklage gegen die konterrevolutionäre Politik der spanischen Kommunisten stützen sollen. Wieder füllt sich der Band mit seitenlangen Textauszügen (vgl. S. 100-110).

Abel Paz erinnert sich nicht mehr. Er macht sich nur noch auf den Weg zum Bücherschrank. Für Leserinnen und Leser, die die spanischen beziehungsweise französischen Originale nicht kennen, sind solche Textzitate sicherlich aufschlussreich. Für alle anderen jedoch sind sie eigentlich nur ermüdend. Besonders ärgerlich wird es, wenn Paz absichtsvoll gelebte Erinnerung und politische Traktate mischt. So legt er, ausgerechnet bei der Schilderung seiner sanft aufkeimenden Liebe zu seiner Genossin Ada, dieser die Paraphrase einer Kritik an der europäischen Außenpolitik (!) von Camillo Berneri in den Mund, die in schönstem Schriftdeutsch daherkommt und fast zwei Seiten füllt (vgl. S. 169-170). Man mag denn doch, bei allem Wohlwollen, nicht so recht glauben, dass eine junge spanische Anarchistin beim Rendezvous mit einem verliebten Genossen nichts Besseres zu tun hat, als in einem fort in Druckbuchstaben zu reden.

Distanz und Selbstkritik sind Abel Paz' Sache in Anarchist mit Don Quijotes Idealen nur selten. Er will eine Lanze brechen für seine Sicht der Revolution. Das ist das gute Recht eines jeden Zeitzeugen. Schade nur, dass dabei ausgerechnet die Zeitzeugenschaft bisweilen auf der Strecke bleibt.

Nichts desto trotz ist Abel Paz Bürgerkriegs-Autobiographie eine Fundgrube interessanter Details und wertvoller Informationen, nicht zuletzt zur Kultur- und Sozialpolitik der Anarchistinnen und Anarchisten in Barcelona.

Sie gehört in Spanien längst zu den Standardreferenzen jeder ernsthaften Beschäftigung mit der sozialen Revolution, und seit Abel Paz' Tod am 13. April 2009 (siehe Nachruf in GWR 339, Mai 2009) sind seine Erinnerungen nur noch wertvoller geworden. Die letzten Zeuginnen und Zeugen schwinden, und was bleibt, wird für die Zukunft kaum mehr sein als bedrucktes Papier, um die Erinnerung an ein außergewöhnliches Ereignis der spanischen Geschichte und des internationalen Anarchismus zu bewahren.

Soll dieses Ereignis aber mehr sein als ein tröstender Mythos, ein großelterliches Anarchistenmärchen, dann muss den Erinnerungen von Abel Paz mit genau der gleichen kritischen Distanz begegnet werden wie allen anderen Veröffentlichung zum Spanischen Bürgerkrieg auch.

Eine solche Herangehensweise hat nichts Respektloses. Sie ist, im Gegenteil, Ausdruck des Respekts vor dem Leben eines Menschen, der nie von den anarchistischen Idealen seiner Jugend ließ. Zu diesen gehörte zu allen Zeiten die Verteidigung des freien Geistes.

M. Baxmeyer

Anmerkungen:
Der Hispanist und Literaturwissenschaftler Martin Baxmeyer ist mit Bernd Drücke und Luz Kerkeling Herausgeber von "Abel Paz und die Spanische Revolution", Frankfurt/M. 2004

Aus: Graswurzelrevolution Nr. 352 (Oktober 2010)

Originaltext: http://www.graswurzel.net/352/paz.shtml