Flugblatt zur Gedenkdemonstation für Rosa L. & Karl L. in Berlin Januar 2000 (Gruppe B.O.N.E., Berlin)

Statt einer roten Nelke für Rosa L. und Karl L. - zur Gedenkdemo 2000: Wollt ihr mich verarschen oder was?

Alle Jahre wieder ist es ein schönes Bild, wenn sich die HohepriesterInnen der Klassenlinie mit ihren herangekarrten Zwerggemeinden versammeln, um sich in einem golgathamäßigen Totenkult als die einzig legitimen Erben von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg darzustellen. Die Unverfrorenheit, mit der sie diese Traditionslinie für sich beanspruchen, hat schon was, aber es gehört auch einiges an Schlafmützigkeit dazu, ihnen diese Anmaßung abzunehmen. Schauen wir doch mal hin, welche Lichtgestalten sich da so im frühmorgendlichen Berlin tummeln.

Nicht fehlen darf natürlich Stefan Engels MLPD, die den Rest der Welt mit "Arbeitsplätzen für Millionen" bedroht. Auch heuer wird sie wieder hart von der DKP bedrängt werden, die schon wieder (immer noch?) durch ihren Hirten verkündet, der Mensch werde erst in der Partei (der DKP?, der DKP???!) zu einem solchen. Drollig auch, wenn sich gerade diejenigen mit Augenaufschlag zu Rosa Luxemburg bekennen, in deren Stall einst der 'Luxemburgismus' zu einem Schimpfwort gemacht wurde. Natürlich sind auch die Fanclubs des Herrn Trotzki zugegen, offen oder unter Tarnkäppchen. Stets bemüht, als irgendwie `gut´ zu erscheinen, zehren sie doch nur davon, daß ihr Meister gegen einen noch konsequenteren Schlächter den kürzeren zog. Wir haben Dich nicht vergessen, Trotzki, Metzger von Kronstadt! Da, langerwartet, nähern sich Mao-köppchen auf rotem Tuch, getragen von den Revolutionären Kommunisten (BRD). Schade, daß die ihre Kraft nicht auch darauf verwenden, sich von den Massakern ihrer Brüder und Schwestern vom Leuchtenden Pfad an der peruanischen Zivilbevölkerung zu distanzieren. Noch mehr drängen vorbei, Trüppchen, die keiner kennen mag. Auch Juso-Fahnen wehen - Banner der Partei, die noch jede Selbstorganisation geifernd bekämpfte und deren Führung (war da was?) den Mord an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg angeordnet hat.

Gespenstisch das Defilee der Graulinge, die, mit und ohne PDS-Mitgliedskarte ihrem Staat nachgreinend, ein rotes Nelklein ablegen und sich triefend von Ressentiments bis zum nächsten Jahr wieder fein bedeckt halten, KlassenkämpferInnen, die sie sind. Genug der traurigen Litanei. Es drängt sich nur die Frage auf, ob die erstaunlich vielen TeilnehmerInnen trotz oder wegen der autoritär-verkirchten Marxismus - Leninismus - (ML -) Combos hier sind. Führen diese etwa „das Erbe" von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg fort? Gehört ein drittes L für Lenin an die L(iebknecht)/L(uxemburg)-Gedenkdemo?


Richten wir einen flüchtigen Blick auf die Geschichte. Sie zeigt wie gering der Stellenwert der Selbstbestimmung des Menschen bei Lenins Bolschewiki war: So setzten sie sich zunächst mit populären Parolen an die Spitze der revolutionären Bewegung in Russland, um diese dann mit bürokratisierenden Gewerkschaften abzuwürgen. Anschließend wurden selbst diesen harmlosen Truppen noch bis zur Unkenntlichkeit gestutzt, weil es keine gesellschaftliche Macht neben der Partei geben durfte. Ein Schlüsselbegriff dieser Zeit war die sogenannte 'Arbeiterkontrolle' in den Betrieben: „Wenn wir von Arbeiterkontrolle sprechen, (...), machen wir damit auch klar, was für einen Staat wir planen. (...) Wenn es ein proletarischer Staat ist, dann kann Arbeiterkontrolle in der nationalen, ständigen, alles betreffenden, präzisen Überwachung der Produktion und Distribution von Waren bestehen." (Lenin, Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? 1.10.1917) Die bolschewistische Gleichsetzung von Arbeiterkontrolle mit Überwachung ist aufschlußreich. Nirgends wird bei Lenin Arbeiterkontrolle durch wirkliche Entscheidungsfreiheit definiert. „Während der Übergangsperiode mußte man die negativen Aspekte der Arbeiterkontrolle in Kauf nehmen, weil Arbeiterkontrolle eine Taktik des Kampfes von Kapital und Arbeit war. Aber nachdem die Macht in die Hände des Proletariats übergegangen ist (d.h. in die Hände der Partei), wurde die tägliche Praxis der Betriebsräte, die Betriebe quasi als Eigentum zu behandeln, antiproletarisch." (Pankratova, 'Russische Fabrikkomittees im Kampf für eine sozialistische Fabrik', Moskau 1923)

Für große Teile der revolutionären Arbeiterschaft hingegen schien Arbeiterkontrolle die Antwort auf ihre Bedürfnisse, doch leider entging ihnen der feine Unterschied zwischen Kontrolle und Überwachung, auf dem die Bolschewiki immer bestanden. Autoritär wie der von Lenin viel gelobte „Deutsche Staatskapitalismus" sollte sein Land sein: „Industrie mit Maschinenparks (...) verlangt absolute, strenge und einheitliche Willensbildung.(...) Wie kann das geschehen? Indem Tausende ihren Willen einem Einzigen unterordnen. Bedingungslose Unterordnung unter den Willen eines Einzelnen ist für den Erfolg von voll rationalisierten Produktionsprozessen unbedingt notwendig." (Lenin, Ausgew. Werke, Bd. 7, S. 332-33) Trotzki führte diese Position 1920 auf dem 3. Gesamtrussischen Kongreß der Gewerkschaften weiter. Er erklärte, daß „Militarisierung der Arbeit (...) die unvermeidliche Voraussetzung für die Organisation unserer Arbeitskraft ist. (...) Stimmt es denn, daß Zwangsarbeit immer unproduktiv ist? (...) Dies ist ein jämmerliches liberales Vorurteil: Auch die Sklaverei war produktiv." In der Frage der Ökonomie galt Lenins größte Sorge der 'Effizienz' und nicht etwa der Selbstbestimmung der ProduzentInnen. Dabei setzten Lenin und Trotzki nicht nur wie das Kapital Effizienz mit individueller Betriebsführung gleich, sondern saßen auch völlig unreflektiert einem kruden Produktivkraftfetisch auf: „Die Summe aller für den Sozialismus notwendigen Bedingungen ist: Kapitalistische Technik plus letzte Ergebnisse der Wissenschaft." (Lenin, Sochineniya, XXII, S. 516-17) Die Macht der ArbeiterInnen im Betrieb wird damit von Lenin nicht als notwendige Voraussetzung für die Herstellung des Sozialismus genannt. Vielmehr war es Lenin zufolge Aufgabe der Bolschewiki, „den deutschen Staatskapitalismus zu studieren und keine Anstrengungen zu unterlassen, ihn nachzuahmen" (ebd.)

Solche Auffassungen haben wir bei Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht gefunden. In Auseinandersetzung mit Lenins Idee der Kaderpartei und dem Bürokratismus der Sozialdemokratie entwickelte Rosa Luxemburg ihre Vorstellung einer basis- und rätedemokratischen Organisation. Hierarchische Strukturen waren ihrer Ansicht nach eine Ursache dafür, das die Arbeiterlnnen 1914 den Kriegskurs der SPD-Führung akzeptierten. Sie bezeichnete deswegen politische Autonomie von Basiseinheiten als eine Bedingung für einen Neuanfang. Spät - nämlich erst im November 1918 - "entdeckte" Luxemburg die Räte als Koordinationsorgane der Revolution und politische Struktur einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft. Nur die Selbsttätigkeit der Menschen könne zum Sozialismus führen, deswegen müßten sich die Arbeiterlnnen von der Bevormundung durch ihre Führerlnnen befreien. Sie vertrat die "Diktatur des Proletariats" gegen die Bourgeoisie als Weg zum Sozialismus - allerdings als etwas Grundverschiedenes zu Lenin, nämlich als breite Selbstorganisierung der revolutionär gesinnten Massen und nicht als Diktatur über sie. Der Sozialismus könne nur das Werk der Arbeiterlnnen selbst sein, nicht einer Minderheit im Namen der Arbeiterlnnen, da die Idee des Sozialismus die Herrschaft einer Minderheit ausschließe: „(...) einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker, d.h. Diktatur im bürgerlichen Sinne... (Rosa Luxemburg, Zur Russischen Revolution, 1918)

„Der Grundfehler der LeninTrotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur genau wie Kautsky, der Demokratie entgegenstellen. `Diktatur oder Demokratie’ heißt die Fragestellung sowohl bei den Bolschewiki wie bei Kautsky. Dieser entscheidet sich natürlich für die Demokratie, und zwar für bürgerliche Demokratie. LeninTrotzki entscheiden sich umgekehrt für die Diktatur im Gegensatz zur Demokratie und damit für die Diktatur einer handvoll Personen d.h. für bürgerliche Diktatur. Es sind zwei Gegenpole, beide gleich weit entfernt von der wirklichen sozialistischen Politik." (Rosa L. in "Zur Russischen Revolution")

Alle Macht den Räten!

Wer dieseForderung der ehemaligen "Maximalisten" der russischen Sozialrevolutionäre von 1905 ernsthaft als gesellschaftliche Neuordnung in die Praxis umsetzen wollte, bekam es nicht nur mit einer Allianz des Kapitals, der Monarchisten und der Sozialdemokratie zu tun, sondern wurde bereits 1918 von den Bolschewiki an die Wand gestellt

Politisches Büro, Sekretariat für Inquisitionsfragen

Leitungskader: "Genossin Luxemburg, Sie haben sich in der Vergangenheit gewisse Verdienste erworben. Umso schwerer wiegt, was gegen Sie vorgebracht worden ist. Zur Sache: Sie haben wiederholt gegen die ehernen Prinzipien der Partei der Arbeiterklasse verstoßen. Im Wissen um Ihren Einfluß in der Partei haben Sie häretische Irrlehren mit dem Ziele propagiert, die Einheit und Geschlossenheit unseres Kampfbundes zu untergraben. Sie haben so wissentlich dem Klassenfeind in die Hände gearbeitet. Die Beweislast ist erdrückend oder streiten Sie etwa ab, unglaublicherweise eine grundsätzliche Autonomie der Basiseinheiten der Partei zu fordern? Sie haben an kleinbürgerliche Relikte im Proletariat appelliert, indem Sie die Spontaneität der Massen vergöttert haben als wüßten Sie nicht, daß von uns nicht kontrollierte Aktionen unsere Arbeiter im Kampf um den Endzweck der Geschichte nur desorientieren. Weiter. Ihre Positionen über das Verhältnis zwischen Partei und Räten sind unklar, sprich, Sie befördern demokratistische Rechtsabweichungen. Mehr noch: Sie haben sich erdreistet, zu äußern, wir strebten nicht die Diktatur des Proletariats, sondern eine Diktatur über das Proletariat an. Ist Ihnen bewußt, daß Sie nichtswürdige Person damit einen Keil zwischen unsere geliebte Klasse und uns zu treiben versuchen, uns, die wir Avantgarde, ja, mithin Auswurf der Bewegung sind? Schweigen Sie! Sie haben Ihr Schandmaul lange genug aufgerissen, um unsere Autorität zu zersetzen! Ich vertrete hier die Klasse, die unter uns um ihre Befreiung ringt. Sie haben sich unsäglicher Verbrechen schuldig gemacht. Widerrufen Sie! Wenn wir Sie schon aus den Annalen verschwinden lassen müssen, so wären wir doch bereit, Sie zuvor wieder als reuiges Schaf in unseren Schoß zurückkehren zu lassen. Denken Sie an Ihre unsterbliche Seele! Sie schweigen? Schafft Sie weg.

Schnitt.

Mündungsfeuer.


Selbsternannte Avantgardegruppen ordnen heute die Russische Revolution immerhin als „gelungene Modernisierung/Industrialisierung des rückständigen Bauernlandes Russland" ein. Wie zynisch und menschenfeindlich die Ausgestaltung dieser Effizienzideologie praktisch ausgesehen hat, ist in diesem Flugblatt nicht hinreichend zu beschreiben, aber welchen Schaden der Kampf um das Menschenrecht dabei genommen hat, ist auch an dieser heutigen Demo abzulesen. Wer mag sich schon in die Hände dieser Gespenster begeben? Mit zornigem Blick sehen wir auf der Luxemburg-Liebknecht-Demo mehr Menschen für die "Reinkarnation" Lenins und der DDR demonstrieren als für die Neubestimmung des emanzipatorischen Kampfes, und das, obwohl ein gerüttelt Maß an Verantwortung für die Verhältnisse der Gegenwart auch auf das Käppchen der staatssozialistischen Orthodoxie geht.

Wie kommt es denn, daß eine soziale Revolution, die eine umfassende Emanzipation aller vormals Entrechteten im Sinn hatte, bisher nie von breiteren Bevölkerungsschichten als Ziel gesehen wurde? Da mag einiges an kaltem Krieg in den Köpfen stecken, aber von vielen wurde auch wirklich begriffen: Die Leninistische Revolution und ihre historischen Nachfolger hatten in krassem Gegensatz zum proklamierten Anspruch keine Arbeiter- und Bauernstaaten, sondern nur neue unterdrückerische Systeme zur Folge gehabt.

Für uns bedeutet „Soziale Revolution", sämtliche Ebenen des Systems umzuwälzen. Herrschaft wird in vielen gesellschaftlichen Sphären ausgeübt, die auf komplexe Art miteinander verwoben sind. Wollen wir Herrschaft und Ausbeutung auf allen Ebenen bekämpfen (und genau das ist unser Ziel!), so müssen wir zuvor die entsprechenden Zusammenhänge verstanden haben. Nicht zuletzt hier sehen wir den Ansatz von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, wonach ein selbstbestimmtes Denken und Handeln, das sich von Unterordnung emanzipiert hat, die unbedingte Voraussetzung einer revolutionären Umwälzung ist, als spannend und fruchtbar an.

Die Soziale Revolution kann nur anational, antistaatlich und globalsein. Ein solches Konzept steht im Widerspruch zu partei- oder staatssozialistischen Revolutionsmodellen, die mit Avantgardegestus, mit Staatssicherheitsdiensten und ParteipolizistInnen operieren, kurz: von oben Veränderungen diktieren wollen und somit lediglich die Formen der Herrschaft austauschen.

Aufgrund unserer Erfahrungen und historischer Analysen meinen wir, daß auch eine sich als antiautoritär verstehende revolutionäre Bewegung einer verläßlichen Organisierung bedarf. Sie muß versuchen, Lebens- und Politikformen zu praktizieren, die emanzipatorisch sind, die den Zielen der Aufklärung, dem Prozeß des Lernens ("Alle müssen alles lernen können/dürfen") sowie der solidarischen Kollektivität verpflichtet sind.

Was wir anstreben, ist ein basisdemokratisch organisiertes und kämpferisches Netzwerk all jener Menschen, die unter den gesellschaftlichen Strukturen leiden und die sich gegen alle Widerstände emanzipieren wollen.

Revolution ohne Emanzipation ist Konterrevolution - also: Antiautoritär & Linksradikal bis uns was besseres einfällt!

Originaltext: http://www.bone-net.de/flugschriften/ll-demo.htm