Anarchosyndikalistischer Widerstand - Illegale Schriften 1 (Pressedienst der IAA, 1934)

Anarchosyndikalistische Propaganda in Deutschland. Pressedienst herausgegeben vom Sekretariat der IAA, 22. Februar 1934, Nr. 176
 
IAA.) Die deutsche Sektion der IAA. wurde kurz nach dem Aufstieg Hitlers zur Macht verboten. Eine grosse Menge freiheitlicher Literatur wurde von der Polizei beschlagnahmt, viele Genossen in den verschiedensten Teilen des Landes wurden verhaftet. Zwar wurden einige von ihnen nach mehreren Monaten Haft wieder entlassen, doch folgten neue Verhaftungen. Gegen den Vorsitzenden der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter Union Deutschlands ist ein Verfahren wegen Landesverrats im Gange.
 
Obwohl durch die politische Polizei zunächst jede Verbindung der Genossen untereinander unmöglich gemacht wurde, ist es den alten Orts-Gruppen der FAUD inzwischen gelungen, wieder ein neues organisatorisches Leben aufzubauen. Durch illegale Organisationen wurden hohe Geldsummen für die Gefangenen bezw. deren Familien aufgebracht, doch teilen uns die Genossen mit, dass sie den an sie gestellten Anforderungen nach Solidarität nicht genügend nachkommen können. Sie verlangen die brüderliche Hilfe der übrigen Sektionen der IAA.
 
Mit der Solidaritätsleistung für ihre gefangenen Kameraden geben sich die deutschen anarchosyndikalistischen Genossen aber noch nicht zufrieden. Trotz schwerster Bedingungen, in Nichtachtung der unerhörten Strafdrohungen und bestialischen Verfolgungen gegen revolutionäre Agitation setzen sie auch ihre Propaganda für den revolutionären Syndikalismus fort.
 
Von einer Zentralstelle der illegalen FAUD herausgegeben, erscheint seit kurzer Zeit ein illegales Blatt unter den Titel DIE SOZIALE REVOLUTION. Dieses wird auf eine durch die Verhältnisse bedingte sehr eigenartige Weise in Deutschland selbst hergestellt und in grossen Teilen des Landes geheim zur Verteilung gebracht.
 
Das Blatt trägt das Motto: "Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk ihrer selbst sein". Im Leitartikel der letzten Nummer heisst es u.a.: "Selten gab es in der Geschichte eine Umwälzung, die so ausschliesslich auf das politische, auf die Eroberung der politischen Macht eingestellt gewesen wäre wie die sogenannte "Nationale Revolution" in Deutschland. Auch heute noch, fast ein Jahr nach dem Beginn der Revolution, herrscht der Chef in der Fabrik, sitzt der Gutsbesitzer auf seinem Land, verdient der Kapitalist sein Geld und front der Arbeiter wie vorher. Alle Klassen sind noch vorhanden und haben sich in nichts verändert. Lediglich die dürftigen politischen Rechte der Republik sind ihnen abhanden gekommen, und die leitenden Personen sind andere geworden..." 
 
Dieser Artikel spricht weiter davon, dass die praktische Entwicklung in Deutschland "bereits viele von ihrer Angst oder gar von ihrer Zustimmung zum neuen Regime geheilt" hat, doch warnt es vor Illusionen: "... aber von murrender Kritik zu offener Empörung ist noch ein weiter Schritt. Dieser Schritt wird dann getan werden, wenn auch noch die letzte Grundlage eines stabilen wirtschaftlichen Lebens, die Währung, ins Bodenlose fällt. Und das ist eine Tatsache, die unter Umständen schneller eintreten kann als mancher denkt..." 
 
Ein anderer Artikel greift vom antiparlamentarischen Standpunkt aus den autoritären Geist des deutschen Volkes an und schliesst mit den Sätzen: "Geistige Schulung der Vorhut, damit man weiss, was zu beginnen ist im Momente der sozialen Revolution, Verbreit ung der zweiten Revolution, die nur eine soziale sein kann und zur Abschaffung des Schmarotzertums und des Staates an sich führen muss."
 
Diese Zitate zeigen, dass die deutschen Anarchosyndikalisten der IAA treu bleiben und das ihre tun, um der deutschen Arbeiterklasse die Lehren aus dem grossen Zusammenbruch ihrer autoritären Massenorganisationen zu Bewusstsein zu bringen.
 
Ausserdem veröffentlichen die deutschen Genossen im Ausland ein Blatt: DIREKTE AKTION, das gleichfalls illegal nach Deutschland gelangt.
 
Die erste Nummer der DIREKTEN AKTION stellte fest, dass in Deutschland unter der Herrschaft der Nationalsozialisten bereits 70 Hinrichtungen revolutionärer Arbeiter vollstreckt worden sind. Das war noch vor dem eilfertigen Mord an Van der Lubbe. Inzwischen hat sich diese Zahl noch stark erhöht. Daneben muss jedoch gesagt werden, dass auch schon hunderte von Arbeitern und Intellektuellen ohne Gerichtsverfahren von den braunen Bestien ermordet worden sind. Ununterbrochen werden revolutionäre Arbeiter "auf der Flucht erschossen". Verteiler illegaler Flugblätter erschiesst man ebenfalls häufig ohne Warnung.- Zehntausende von Revolutionären schmachten noch immer in den Konzentrationslagern und Gefängnissen, täglich erfolgen neue Verurteilungen.
 
Diese Tatsachen geben einen Begriff davon, unter welch schwierigen Bedingungen die deutschen Genossen ihre revolutionäre Arbeit fortsetzen und zeigon dass sie der Solidarität der IAA. würdig sind.

***********

Die Opposition gegen den Faschismus  

IAA.) Die Militanten der deutschen Sektion dar IAA. können mit grossen Schwierigkeiten dem Sekretariat der IAA. regelmässig Berichte senden. Berichte über die politische und soziale Lage in Deutschland werden an der Grenze das Reiches abgefangen. Wenn sie kritisches über das Hitlerregime enthalten, werden Nachforschungen über den Absender angestellt, die betreffenden Briefschreiber wandern in die Konzentrationslager oder erhalten sogar Verfahren wegen Hoch- und Landesverrats. Dasselbe Schicksal trifft Empfänger von Briefen mit politisch verdächtigem Inhalt.
 
Wenn die Genossen der FAUD trotzdem Berichte über die Lage in ihrem Lande an die IAA. gelangen lassen, dann müssen sie Methoden anwenden, bei denen sie nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihr Leben aufs Spiel setzen.
 
Die Genossen scheuen diese Gefahren nicht. Auf diese Weise erhalten wir die folgenden Schilderungen aus einem bekannten industriellen Gebiet Mitteldeutschlands. Sie stammen von zwei Genossen, die seit langen Jahren zu den bekanntesten Militanten der FAUD gehören.
 
"Die grossen Parteien und Gewerkschaften der deutschen Arbeiterschaft sind zusammengebrochen. Die oppositionellen Minderheitsgruppen, die früher schon gegen die grossen zentralistischen Organisationen kämpften, bilden heute das einzige Fundament für eine Neugestaltung der deutschen Arbeiterbewegung. Sie organisieren mit den aktivsten Gruppen aller Richtungen gemeinsam den Widerstand gegen den Faschismus. Die Arbeiter in den Betrieben und auf den Stempelstellen sehen dies schon heute, sie suchen bereits Verbindungen mit diesen Gruppen. Schon äussert sich aufs neue der Wille zur Organisation, proletarische Solidarität findet neue Formen des Zusammenschlusses.
 
Ein syndikalistischer Genosse wurde in X. "wegen Missachtung des Horstwessel-Liedes" und Nichmitgliedschaft in der "Deutschen Arbeitsfront" aus seinem Betrieb entlassen. Er bekam deswegen auch keine amtliche Arbeitslosenunterstützung; Die früheren Kollegen dieses Genossen liessen aber jede Woche eine Sammelliste im Betrieb herumgehen, die etwa 18.- M. pro Woche einbringt. Die Liste geht regelmässig bis zu den Ingenieuren und in die Büros des Betriebes. Als die Verfertiger der Listen zur Verantwortung gezogen wurden, erklärten sie, man sammle nicht für einen Verräter an der nationalen Regierung, sondern für seine Frau und die unschuldigen Kinder. In diesem Betrieb, sagt unser Genosse, wird der revolutionäre Syndikalismus immer lebendg bleiben!
 
Ein anderer Fall aus einer bekannten Grossstadt. In einem Betrieb arbeiteten zwei Genossen von uns. Die Arbeiter weigern sich zum Teil sich in der faschistischen "Deutschen Arbeitsfront" zu organisieren, manche sind aus ihr sogar wieder ausgetreten. Als das famose Gesetz "Kraft durch Freude" verkündet wurde, zwang man unsere Genossen, an einer faschistischen Betriebsfeier teilzunehmen. Zum Schluss wurde das faschistische Lied der Arbeitsfront gesungen. Von wenigen Teilnehmern abgesehen, brummten die Arbeiter das Lied nur mit, ohne zu singen. Als aber die Verse kamen: "Auf, brecht die Tyrannei, Volk der Arbeit, mach Dich frei!", sangen alle aus voller Kehle. So äussert sich im Dritten Reich die Opposition der Arbeiter. Auch in diesem Betrieb ist der Anarchosyndikalismus heute schon fest verankert.
 
10 Genossen, die in einem der bekanntesten Chemiekonzerne arbeiten, berichten das folgende: Der Betrieb hat 4000 Mann Belegschaft. Bei einer Betriebsversammlung erschienen jedoch nur 300. Bei der nächsten Versammlung stand die SA-Kapelle im Hof, und alle sollten zwangsweise zur Versammlung marschieren. Als Ausgang aus dem Betrieb blieb nur der Weg durch die Abortanlagen. Opposition im Dritten Reich!
 
Ein grosser Metalbetrieb in Westdeutschland. Dort fand eine Versammlung der Nazibetriebszelle statt. Ein Angestellter der Arbeitsfront sprach über Marxismus. Er führte u.a. aus: "Marxismus ist Bonzengehalt." Ein Arbeiter rief: "Dann ist auch Goerings Gehalt Marxismus!" Der Arbeitsfrontredner rief in die Versammlung hinein: "Hier sind wohl noch Marxisten?" Hunderte von Arbeitern antworteten mit JA. Auch das bedeutet eine revolutionäre Bekenntnis.
 
Die "freiwilligen" Spenden, die dem Arbeiter zwangsweise vom Lohn abgezogen werden, wachsen immer mehr an. Offen rebellieren bereits viele Arbeiter gegen die immer schlimmere Verelendung, die durch diese verschleierte Lohnkürzung erfolgt.
 
Manche Arbeiter sagen heute zu den anarchosyndikalistischen Kameraden: "Hätten wir früher auf Euch gehört, dann wäre alles anders gekommen!"

Diese Situation bedeutet für den Anarchosyndikalismus in Deutschland einen grossen Auftrieb. Wir ersuchen alle Arbeiter zu vereinigen auf der Grundlage der revolutionären proletarischen Räteorganisation und freiheitlicher Gewerkschaften."
 
Unser Gewährsmann macht auch interessante Angaben über das Tempo einer möglichen Zersetzung des Naziregimes in Deutschland: "Die Entwicklung nimmt immer schnellere Formen an, sie überstürtzt sich. Die ständige Verschlechterung der Lebenslage der breiten Massen spielt eine grosse Rolle, doch sind auch andere Faktoren wichtig. In der SA. selbst erhebt sich schon eine Kritik gegen das Regime, die immer stärker wird. Die monarchistischen Kreise beginnen zu protestieren, die evangelische Kirche mit ihrer Stellungsnahme gegen die völkischen Reformsbestrebungen und der katholische Klerus sind zu Nestern des Widerstandes geworden. Viele Bürgerliche sehen heute mit Schrecken, was sie angerichtet haben. In der staatlichen Zwangsorganisation der Arbeiter, der "Deutschen Arbeitsfront", wird der Riss immer breiter. Die passive Resistenz der Bevölkerung bei Festen, Feiern und Geldsammlungen macht sich stärker bemerkbar. Die künstliche Belebung der Wirtschaft durch Steuergutscheine, Wechsel und andere Finanzmanipulationen ist bald zu Ende, die Zwangsarbeit wird eingeführt. Länger als drei bis vier Jahre kann sich das Regime nicht halten... was nachher kommt, ist heute noch nicht vorauszusagen."

***********

Die Lage in Deutschland

Aus einem Bericht der deutschen Sektion der IAA. entnehmen wir die folgenden Darstellungen:
 
IAA.) "Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Lage in Deutschland durch folgende Faktoren gekennzeichnet ist: Die    wirtschaftliche    Verelendung des deutschen Proletariats nimmt zu. Deutschland treibt einer Inflation zu. Jetzt ist diese Inflation noch kontrolliert, sie wird aber zu einer bodenlosen werden. Das Tempo wird ein langsames sein. Ebenso verhält es sich mit Hitlers Macht. Sie wird noch von längerer Dauer sein als mancher denkt. Sie wird aber eines Tages mit jähem Sturze enden. Solange werden wir in der Illegalität arbeiten müssen. Vermittels inflationistischer Manöver und der fieberhaften Belebung der Rüstungsindustrie kann Hitler heute eine vorübergehende Scheinkonjunktur schaffen. Man pumpt ungeheure Summen in die Wirtschaft, die die Grosskapitalisten einstecken. Diese Gelder sind die Steuereinnahmen von 1935 und 36, die jetzt schon aufgefressen werden.
 
Am Ende dieser Entwicklung steht die Notenpresse. Der grösste Feind Hitlers bleibt die Krise. Diese wird sich stärker als er erweisen. Hinzu tritt für das internationale Proletariat die Gefahr des Krieges, zu welchem Deutschland ungeheuer rüstet. Deutschland hat nach dem Osten orientierte imperialistische Interessen.
 
Die heutige Krise muss auch in den noch nicht faschistisch regierten Staaten des Westens mit dem Faschismus enden, wenn das europäische Proletariat nichts ernsthaftes unternimmt. Deshalb verfolgen wir mit Aufmerksamkeit die Vorgänge in Spanien, denn sie sind von historischer Bedeutung für die internationale Arbeiterbewegung. Eine Niederlage des spanischen Proletariats wäre ein schwerer Schlag für die Arbeiterklasse der Welt, sein Sieg eine grosse Hoffnung für Europa."
 
Zum Schluss weist der Bericht der FAUD. darauf hin, dass das internationale Proletariat im Kampf gegen den Faschismus und Kapitalismus heute neue Wege suchen muss, auch auf internationalem Gebiet. Die Arbeiterklasse muss sich über die starren Grenzen ihrer verschiedenen 0rganisationen hinweg zu einigen versuchen auf der Grundlage revolutionärer Gewerkschaften. Die FAUD begrüsst alle Bestrebungen in den verschiedenen Ländern, die auf Schaffung der revolutionären Einheit der Arbeiterklasse hinzielen. Die unmittelbar drohende Gefahr des Faschismus und des Krieges fordert von den Organisationen der Anarchosyndikalisten in allen Ländern höchste Verantwortlichkeit. Werden diese Zeichen der Zeit nicht verstanden, dann bedeutet der Sieg des Faschismus in Deutschland den Anfang vom Ende der Befreiungsbewegung der Arbeiterklasse in der ganzen Welt.

Aus: Theissen / Walter / Wilhelms: Anarcho-Syndikalistischer Widerstand an Rhein und Ruhr. Zwölf Jahre hinter Stacheldraht und Gitter. Originaldokumente. Ems-Kopp-Verlag 1980. Digitalisiert von www.anarchismus.at


Creative Commons - Infos zu den hier veröffentlichten Texten / Diese Seite ausdrucken: Drucken



Email