Mariano Cardona Rosell (CNT) - Drei Gewissheiten (1937)

Nach Ablauf des ersten Jahres

Heute vor einem Jahr begann dieser Bürgerkrieg, der unsere Felder und Städte mit Blut tränkt. Während dieses Jahres wurde der Bürgerkrieg aus eben dem Grunde, aus dem er entstand, zu einem sozialen Krieg; inzwischen jedoch hat er sich langsam zu einem internationalen Krieg entwickelt, der in unserem Land ausgetragen wird, das vielerorts von der deutschen und italienischen Barbarei im Dienst der Aufständischen überfallen worden ist und verheert wird. (...) Was meines Erachtens von herausragender Bedeutung ist, ist die Tatsache, daß nach Ablauf dieses ersten Jahres bewaffneten Kampfes gegen den Faschismus das Proletariat die drei Gewißheiten erlangt hat, die sein Verhalten bestärken, seine Ausdauer kräftigen und seinen Weg zum Sieg ebnen werden.

Wird der Krieg nicht gewonnen, geht alles verloren  

Das Proletariat hat die Gewißheit, daß wir alles verloren haben werden, wenn es den Krieg nicht gewinnt. Sieg oder Niederlage im Krieg entscheidet über das Schicksal des iberischen Proletariats und damit des Proletariats der ganzen Welt. Dieser Krieg ist nicht einer der vielen Kriege, die in die Annalen der Geschichte eingehen. Deshalb kann er weder wie irgendeiner dieser Kriege betrachtet noch wie ein solcher eingeschätzt werden. Unser gegenwärtiger innerer Krieg ist so komplex, daß er als Prototyp eines sozialen Krieges in der zivilisierten Welt charakterisiert wird. Weil er das ist, ergeben sich bei seinem Ausbruch und seiner Entwicklung diese drei Merkmale: 

Als die privilegierte Klasse sieht, daß sie nicht einmal mehr durch den Betrug des bürgerlich-demokratischen Systems verhindern kann, daß das Proletariat vorausschreitet und seine Klassenziele zu erreichen sucht, die der gesamten Gesellschaft zugute kommen, erhebt sie sich unter Anwendung der ihr zur Verfügung stehenden militärischen Mittel und versucht, den beschleunigten Entwicklungsablauf, den das Proletariat seinen Bewegungen aufzwingt, in Blut zu ersticken. Das Proletariat, das in Spanien Klassenbewußtsein entwickelt hat, greift zur Waffe und ist entschlossen, die Aufständischen zu besiegen; diese wollen ihre Diktatur errichten, um mit Hilfe eines faschistischen Regimes dem Kapitalismus weiterhin auf irgendeine Art seine sozioökonomischen Privilegien zu sichern; dies ist aber nur möglich auf Kosten der Versklavung des Proletariats, das den Lohn- und Lebensbedingungen sowie der (parlamentarischen) Vertretung unterworfen wird, die ihm aufgezwungen werden.

Gegen den Faschismus erhebt das Proletariat das Banner der Sozialen Revolution, um die neue Ordnung zu errichten, die jeden weiteren Militär- oder Klassenaufstand und somit die Errichtung jeglicher Diktatur und irgendwelcher stets verhaßter Privilegien unmöglicht macht. Nachdem sich der Kampf auf das ganze Land ausgeweitet hat, bestimmen die Einstellung der Kämpfer und die Rechtfertigung der Haltung und der Anstrengungen der Parteien im Bürgerkrieg dessen soziales Ziel. Wenn ein sozialer Krieg erst ausgebrochen ist, wird er zwangsläufig Rückwirkungen im Ausland hervorrufen, und die Regierungen der Länder, die unmittelbar am Sieg einer der Parteien interessiert sind, werden intervenieren, um die ihnen nahestehende Seite zu verteidigen. Und daher setzen sich die entschieden faschistischen Mächte über alle internationalen Verträge hinweg, treten jedes geschriebene und internationale Recht mit Füßen sowie jegliche Norm weltweit gültiger Moral und menschlichen Zusammenlebens, marschieren in unser Land ein, ohne uns auch nur offiziell den Krieg zu erklären, und bekämpfen uns mit ihren besten Kräften, die sie in den Dienst der Aufständischen gestellt haben. Die anderen Regierungen der Welt (mit der ehrenvollen Ausnahme von zweien, die uns die umfassende moralische und die begrenzte materielle Unterstützung gewähren, die ihnen die Umstände erlauben oder ihre Sympathien gebieten) zeigen sich unentschlossen und zaghaft; wenn ihnen auch anscheinend ein Triumph des Faschismus mißfiele, fürchten sie im Grunde doch mehr die Abschaffung der kapitalistischen Privilegien. Der Sieg oder die Niederlage in einem Krieg dieser Ausmaße ist entscheidend für das Schicksal der spanischen Arbeiter, aber darüber hinaus auch für das Proletariat der ganzen Welt als Klasse, wenn auch die Kurzsichtigkeit seiner Feigheit oder seiner Unwissenheit, hinter der bestimmte Interessen stehen, dem Proletariat in anderen Ländern nicht erlaubt einzusehen, wie es in diesem Moment handeln müßte. Wenn der Faschismus, der bereits in Deutschland, Italien und Portugal herrscht und andere Nationen unmittelbar beeinflußt, über das iberische Proletariat triumphiert, wird der internationale Sieg der Reaktion nicht auf sich warten lassen.(...)

Das spanische Proletariat weiß sehr wohl, daß es, wenn es den Krieg nicht gewinnt, alles verliert - alles, sogar sein Leben. Daher kämpft es und wird bis zu seinem Tod weiterkämpfen. Niemand soll versuchen, es mit falschen Versprechungen zu überlisten, denn es besitzt schon diese Gewißheit, die in seinem Verstand tief eingedrungen ist, und die es leitet wie ein Leuchtturm in der Nacht: Es wird sich nicht betrügen lassen.

Während der Krieg geführt wird, muß die Soziale Revolution durchgesetzt werden

Das Proletariat hat weiterhin die Gewißheit, daß es leichter ist, die Soziale Revolution, für deren Verwirklichung es kämpft und streitet, während des Krieges durchzuführen. Das Proletariat ist unentbehrlich an und hinter der Front; ohne seine Teilnahme am Kampf wäre dieser schon zu Ende. Es ist hauptsächlich das Proletariat, das sein Blut an den Fronten vergießt und das der ungeheuren Arbeitsbelastung hinter der Front standhält. Ihm ist es zu verdanken, daß die Fronten versorgt werden und daß die Produktion hinter der Front nicht eingestellt wird. In seinen Händen liegt der gesamte Wirtschaftsapparat des regierungstreuen Spanien und die Leitungsposten der überwältigenden Mehrheit der landwirtschaftlichen und industriellen Betriebe und Unternehmen des Landes. Und da diese in seinen Händen liegen oder doch zumindest von seinem Willen abhängen, kann es logischerweise, wenn es will und sich dies vornimmt, jeden Widerstand politischer Art ausräumen, der das vollständige oder partielle Vorherrschen der kapitalistischen Privilegien zu verlängern sucht; es erscheint ebenfalls logisch, daß es sich dazu entschließt, mittels Gesetz die Grundlagen, Normen und Einrichtungen der neuen Gesellschaftsordnung, für die es kämpft, zu legalisieren. Solange der Krieg andauert - da nun der Kampf gegen den Faschismus als sichtbaren und tödlichen Feind unumgänglich ist treibt ein kategorischer Imperativ das Proletariat zur Vollendung des Kampfes gegen den Feind. Es zerstört dabei dessen wirtschaftliche Grundlagen und ersetzt die sozioökonomische Ordnung, in der der Faschismus entstand, durch eine neue Gesellschaftsordnung, in der kein Platz ist für Privilegien, und in der daher auch die Priveligierten nicht mehr bestehen können.

Wenn es die Aufgabe der Frontkämpfer ist, den Sieg zu erkämpfen, so haben die Menschen hinter der Front die doppelte Verpflichtung, diesen Sieg durch die Erhöhung der Produktion zu erleichtern und mit ihrer Beharrlichkeit und Fähigkeit die Umwandlung der sozio-ökonomischen Ordnung zu erreichen, damit der letzte Kanonendonner, der unseren Sieg im Krieg verkündet, auch das Ende des Kapitalismus in unserem Land ankündigt. Solange der Faschismus an den Fronten bekämpft wird, kann der Widerstand, der im regierungstreuen Spanien dem Aufbauwerk des Proletariats entgegengebracht wird, unmöglich ein faschistischer sein; daher ist es leichter, die angestrebten Veränderungen durchzuführen, solange der Krieg auf den Schlachtfeldern tobt. Aus all diesen Gründen und aus der Überlegung heraus, daß die Verwirklichung der iberischen Sozialen Revolution mit umfassender Vergesellschaftung gleichzusetzen ist, die das wirtschaftliche Potential und die materiellen Ressourcen des Landes verbessert und unfraglich die Möglichkeiten zum Durchhalten im Kampf und zum Sieg im Krieg erweitert, hat das spanische Proletariat die unumstößliche Gewißheit, daß es eben jetzt, solange der Krieg noch andauert, mit Hilfe seiner Klassenbrüder hinter den Fronten die Soziale Revolution durchführen kann und muß. Es ist nach Ablauf dieses ersten Kriegsjahres so fest davon überzeugt, daß es den genannten zwei Gewißheiten eine dritte und letzte hinzufügt, die es in seinen Entscheidungen bestärkt.

Wird der Krieg gewonnen, ohne daß die Soziale Revolution durchgeführt wurde, kann diese mißlingen

Das Proletariat hat die Gewißheit, daß es, wenn es den Krieg gewinnt, ohne die Soziale Revolution durchgeführt zu haben, die Möglichkeit diese durchzuführen, insgesamt aufs Spiel setzt; denn auf eine Etappe, die ihre schöpferische Unfähigkeit bewiesen hat, als ihr alles zur Verfügung stand, um die neue Gesellschaftsordnung vorzubereiten, zu strukturieren und zu verwirklichen, kann man zur Durchführung eines so großen Werkes dann nicht zählen, wenn Elend und wirtschaftlicher Ruin aufgrund der revolutionären Vernachlässigung um sich gegriffen hätten. Die Rückkehr der Frontkämpfer und ihre Wiedereingliederung in den Arbeitsprozeß würde unweigerlich zu Zusammenstößen führen, wenn sich dann herausstellt, daß das vergossene Blut und das ungeheure, tragische Erlebnis nicht einmal dazu gedient hätten, den Triumph der jahrhundertealten Ideale des Proletariats zu sichern.

Nur, wenn ab sofort an der Sozialen Revolution gearbeitet wird, kann verhindert werden, daß in der Zukunft ein schicksalhafter wirtschaftlicher Ruin so über die Massen hereinbricht, daß sie sich (da ihnen die Nüchternheit fehlen würde, die ungeheure Aufgabe anzugehen, die sie im Stich ließen, als sie sie leicht hätten durchführen können) von der Demagogie einer Person, eines Sektors oder einer Partei leiten ließen, die, so einzigartig sie sich auch selbst bezeichnen mag, nichts anderes wäre als die Errichtung einer politisch-wirtschaftlichen Diktatur und die Niederlage der Sozialen Revolution. Und da das Proletariat die Gewißheit hat, daß das oben Angedeutete eintreten würde, wenn es eine revolutionäre Mission jetzt, solange der Kanonendonner noch hallt, nicht erfüllte, wird es die Revolution durchführen, während es Krieg führt, und es wird den Krieg gewinnen, um den Triumph der Revolution zu sichern.

Das erste Kriegs- und Revolutionsjahr ist abgelaufen. Möge das zweite, das morgen beginnt, unter dem Zeichen der siegreichen integralen Sozialisierung und der absoluten Niederlage für den Faschismus stehen.

(Juli 1937)

Aus: H. Auweder / M. Schumann: A las barricadas. Triumph und Scheitern des Anarchismus im spanischen Bürgerkrieg. Trotzdem-Verlag, 1999. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Trotzdem-Verlags.


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