Mujeres Libres - Leitartikel aus "Am 65. Tag der Revolution"
Hier sind wir wieder, liebe Leserin. Etwas Tiefgreifendes, Großartiges hat sich in diesem kurzen Zeitabschnitt ereignet, seitdem wir das letzte Mal zu Dir sprechen konnten. In der Zwischenzeit haben wir einige Schmähschriften herausgegeben, die wir grundsätzlich in jenem abgewogenen und gewichtigen Ton abfassen. Etwas Großartiges, das die Gemüter bewegt und bewirkt hat, daß neue Aspekte überprüft werden mußten; denn die Äußerungen von gestern sind jäh veraltet, sind kärglich, überholt und unbrauchbar geworden.
Hier ist also Deine "Mujeres Libres", nur äußerlich erneuert; denn innen überdauert die Substanz, von der sie zehrt.
Als wir eines Tages von unserer Ausgewogenheit sprachen, sagten wir: "Man soll daraus nicht schließen, daß wir uns am Rand der Dinge und der Ereignisse befinden." "Wir möchten, daß unsere Zeitschrift aus Herz und Blut besteht, etwas Lebendiges und Bewegendes ist, wo die alltägliche Mühsal sich wiederfindet." Getreu unseren Absichten sammeln wir heute die Ereignisse des Tages und machen aus "Mujeres Libres" eine bewegende, warme und pulsierende Zeitschrift, die in ihrer ganzen Dichte die Größe des Augenblicks reflektieren kann.
Die Ereignisse haben sich überstürzt, und obwohl wir für unser Werk gerne die Ruhe einiger gelassener Tage gehabt hätten, sollten wir nicht darüber lamentieren, daß es nicht so gekommen ist, sondern unsere entschiedenen Bemühungen darauf richten, unseren Ton und unsere Ausdrucksweise dem beschleunigten Rhythmus anzupassen, in dem sich das Leben entwickelt.
Das ist weder Fahnenflucht noch eine Berichtigung. Wir halten nach wie vor an den Absichten fest, die unsere Gründung bestimmt haben. Unsere Ziele haben sich absolut nicht geändert. "Mujeres Libres" sind mit dem Ziel entstanden, die libertäre Bewegung zu erweitern, und das halten wir aufrecht. Aber die Umstände zwingen uns dazu, die Taktik zu ändern. Wir müssen jetzt nicht mehr die Frau irgendwo in ihren Häusern suchen. Es ist nicht mehr nötig, sie von der Notwendigkeit einer Teilnahme an der sozialen Bewegung zu überzeugen. Der Bürgerkrieg hat die spanischen Frauen mobilisiert, wie es der Weltkrieg eines Tages mit den anderen Frauen auch machen wird: sie wild, brutal auf die Straße stoßen. Von den Notwendigkeiten und ihrem Selbsterhaltungstrieb angespornt und bedrängt, war die Frau gezwungen, sich unter den Schutz irgendeiner Fahne zu begeben. Sie hat sich nicht damit aufgehalten, nach der Bedeutung zu fragen - sie hatte auch keine Zeit dazu - und danach, womit sich dieser Schutz ersetzen ließe oder was sich dafür anbieten könnte. Die Frau ist noch von dem Kanonendonner und dem Rattern der Gewehre betäubt und nur damit beschäftigt, zu überleben. Aber dieses Leben verläuft nur instinktiv und nicht bewußt. Und hier liegt die Aufgabe, die wir verantwortungsvoll ergreifen müssen: diesen Instinkt in Bewußtsein zu verwandeln.
Aber die Taktik von gestern - wir haben es bereits gesagt - nutzt uns nichts. Wir können nicht länger mehr oder minder riskante Theorien aufstellen. Es ist auch nicht mehr die Zeit, mit Theorien zu jonglieren, während wir einen weit entfernten Horizont betrachten. Heute müssen wir tatkräftig sein und mit der Realität arbeiten, deren Gehalt dunkel bleibt. Diese Taten, diese Realitäten sind es, die jenes Bewußtsein bilden sollen, das wir anstreben.
Die Frau geht taub und noch blind Wege entlang, von denen sie nicht weiß, wohin sie wirklich führen. Sie hat sich, wie wir vorher schon sagten, irgendeiner Fahne verschrieben, ohne deren Bedeutung zu kennen. Diese farbigen Tücher, jene Anagramme haben sie in ihrer aufgewühlten Vorstellung und in ihren Lebensbestrebungen fasziniert, dieses Tuch oder jenes Anagramm hat sich für sie in einen Talisman verwandelt. Die Aufgabe von "Mujeres Libres" muß deshalb folgendes sein: diese Embleme in lebendige und greifbare Ereignisse zu verwandeln, ihnen ihre mysteriöse Faszination zu nehmen, damit jede Frau einen klaren Weg und einen bestimmten Vorsatz vor Augen hat.
Im Augenblick hat der Antifaschismus alle Anstrengungen und jeden Willen an sich gebunden. Aber der Antifaschismus ist nur eine Negation, die Negation des Faschismus, und die Negationen haben nur eine beschränkte Lebensdauer. Und dann? Dann muß unser Leben positiv verankert werden.
Antifaschist zu sein bedeutet wenig. Man ist Antifaschist, weil man in erster Linie mehr ist, weil wir dieser Negation auch etwas Positives entgegenstellen können. Und das läßt sich für uns - für uns von "Mujeres Libres" - in drei Buchstaben zusammenfassen, in einem jener Anagramme, das heute etwas unschuldig auf der Brust vieler Frauen prangt: C.N.T. (Confederacion Nacional del Trabajo), was für die rationale Organisation des Lebens auf der Grundlage von Arbeit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit steht.
Wenn wir nicht dafür einstehen würden, hätte der Begriff Antifaschismus für uns keinen Sinn.
Leitartikel aus: "Mujeres Libres", am 65. Tag der Revolution
Originaltext: Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.