Suceso Portales - Wir brauchen eine Moral für beide Geschlechter
Man braucht keine Luchsaugen zu haben, um zu sehen, was in dieser revolutionären Zeit vergänglich wird und was sich ankündigt, wo die grundlegenden Vorstellungen umgewälzt werden, auf die sich die sogenannte Ordnung stützt. Zwei Dinge geraten dabei in dieser ungerechten Welt aus dem Lot: die Privilegien der Klasse, die die Zivilisation des Schmarotzertums begründet hat, aus der heraus sich das Monstrum Krieg und das Privileg des Mannes ("macho") (1) herausgebildet hat. Dieses Privileg hat die Hälfte der menschlichen Gattung zu autonomen Wesen und die andere Hälfte zu Sklaven werden lassen, dabei aber eine Art eigengeschlechtlicher Zivilisation geschaffen: die männliche Zivilisation, die eine Zivilisation der Kraft ist und die moralisches Scheitern durch die Jahrhunderte hindurch hervorgerufen hat.
Währenddessen machen sich die Arbeiter bereit, ihre historische und menschliche Mission zu erfüllen, die darin besteht, für immer die Schmarotzerklasse verschwinden zu lassen, die die soziale Harmonie unmöglich gemacht hat. Sie wollen ein neues Leben aufbauen und strukturieren, das menschlicher und gerechter ist. Wer von den vielen aber, die die Flagge menschlicher Ansprüche hissen, wird währenddessen der schwächsten und schutzlosesten Kreatur unter den Unterdrückten die Hand reichen, deren Rechte die kapitalistische Gesellschaft vollkommen vergessen hat: der Frau, allen Frauen? Die soziale Klasse, in die man sie hineingezwängt hat, ist der Klasse der Lohnsklaven untergeordnet, von denen sie die traurigsten und gefügigsten Dienerinnen der elenden Sklaven sind.
Wir hören täglich genügend von der Befreiung der Unterdrückten und von der edlen Einführung der "sozialen Gerechtigkeit" . Aber wir hören bis auf wenige Ausnahmen niemals etwas davon, daß sich diese Befreier auf die Notwendigkeit einer vollständigen Befreiung der Frau bezögen. Diese armen Frauen, durch die elende Erziehung, die für uns immer vorgesehen war, an den Rand eines traurigen geistigen Infantilismus getrieben, haben deshalb in vielen Fällen nicht die Vorteile der Freiheit verstehen können.
Um die Folgen eines solchen Verhaltens abzustellen, sollten wir anfangen, eine einzige Moral für beide Geschlechter einzuführen.
Fußnote:
1) Anm.d.Übers.: "macho" ist ein im Grunde unübersetzbarer Begriff, eine Mischung zwischen Potenzprotz, Male-Chauvinist und Patriarch. Wie viele Begriffe in dieser Richtung im Deutschen, ist er aber nicht eine Neuschöpfung jüngster Zeit, sondern ein umgangssprachlicher Ausdruck, der schon lange im Spanischen verwurzelt ist.
Aus: "Mujeres Libres", Nr. 10
Originaltext: Mary Nash: Mujeres Libres. Die freien Frauen in Spanien 1936 - 1978. Karin Kramer Verlag, Berlin 1979. Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Freundeskreis Karin Kramer Verlag. Das Copyright des Textes liegt weiterhin beim Karin Kramer Verlag, der Text darf ohne Rückfrage nicht weiter kopiert oder gedruckt werden. Im Karin Kramer Verlag sind zahlreiche Bücher zum Anarchismus erhältlich.