Anarchafeminismus - Auf den Spuren einer Utopie

Seit einem Jahr warten viele AnarchistInnen gespannt auf Silke Lohschelders Buch "Anarchafeminismus. Auf den Spuren einer Utopie". Weil wir das Buch wichtig für die weiteren libertären Debatten finden, veröffentlichen wir hier vorab einen Beitrag aus dem voraussichtlich im Oktober 2000 erscheinenden Werk (GWR-MS).

Der Anarchismus umfasst von seinem Anspruch her die Befreiung der Frau ebenso wie die des Mannes. Wie die Analyse klassischer anarchistischer Theorie gezeigt hat, bedeutet das jedoch nicht automatisch die Berücksichtigung eines frauenspezifischen Blickwinkels; im Gegenteil: die anarchistische Theorie des 19. Jahrhunderts geht davon aus, dass die Frauenbefreiung automatisch aus der Befreiung des Volkes folgen werde. Weder Bakunin noch Kropotkin ist es gelungen, den von ihnen formulierten Anspruch konsequent umzusetzen, obwohl die Ansatzpunkte dazu bei ihnen durchaus zu finden sind.

Mit ihrer Analyse, die autoritär-patriarchalen Kleinfamilienstrukturen bildeten den Kern der Frauenunterdrückung, befinden sie sich in Übereinstimmung mit der feministischen Theorie. Jedoch gelingt es ihnen nicht, aus ihrer Sozialisation so weit auszubrechen, dass sie sich eine Gleichberechtigung von Frauen auf allen Gebieten vorstellen können. Aus diesem Grund bleiben sie in ihren konkreten Entwürfen traditionellen Geschlechterbildern verhaftet. Besonders deutlich wird das bei Kropotkin: Die Ansätze seines Gesellschaftsentwurfs sind für seine Zeit sehr fortschrittlich - die Zuständigkeit der Frauen für den Reproduktionsbereich ist für ihn aber scheinbar ein Naturgesetz.

In Bakunins Theorie sind patriarchale Denkstrukturen in dieser Form nicht nachzuweisen - seine Utopie beruht auf einer faktischen Gleichstellung der Geschlechter. Dennoch: Die Notwendigkeit, Frauenrechte in seiner gesellschaftlichen Realität zu erkämpfen, sieht er nicht - er spricht sich sogar dagegen aus, die Frauenfrage in seine politische Praxis einzubeziehen und lässt damit seine revolutionäre Konsequenz auf diesem Gebiet vermissen. Insofern hat sich meine Eingangsthese, der Anarchismus blende die Formen sexistischer Herrschaft in seiner Analyse aus, bestätigt.

Es bedurfte erst des Kampfes anarchistischer Frauen, um den Anarchismus auf der theoretischen wie der praktischen Ebene um einen weiblichen Blickwinkel zu erweitern. Das ist das Verdienst von Frauen wie Louise Michel, Emma Goldman oder den Mujeres Libres. Obwohl sie innerhalb der libertären Bewegung ihrer Zeit mit ihren feministischen Positionen alleine standen, haben sie - durch ihre persönlichen Beispiele ebenso, wie durch ihre theoretischen Analysen - den Anarchismus mit seinen patriarchalen Strukturen konfrontiert und damit die Grundlage für seine feministische Weiterentwicklung geschaffen. Mit ihrer Weigerung, frauenspezifische Forderungen von einer umfassenden linken Theorie zu trennen, isolierten sie sich dabei auch von den politisch aktiven Frauen ihrer Zeit. Die dahinterstehende Überzeugung trifft sich jedoch mit Erkenntnissen, die Strömungen innerhalb der neuen Frauenbewegung formulieren: Die Konzentration auf reformistische Forderungen kann zwar eine Gleichstellung der Frauen innerhalb bestehender Strukturen erreichen, für deren Befreiung sind aber weiter reichende Konzepte erforderlich. Solche Konzepte liefern die feministischen Beiträge zum Anarchismus. Sie gehen von zwei Prämissen aus: der konkreten Veränderung der Lebenssituation von Frauen durch ihre eigenen, direkten und selbstbestimmten Aktionsformen, und von der Vision einer Gesellschaft ohne Hierarchie und Herrschaft. Die Unterdrückung der Frau wird als Bestandteil der allgemeinen Unterdrückung gesehen und kann deshalb nicht isoliert angegangen werden. Damit beziehen sich die anarchafeministischen Ansätze direkt auf die Analysen der vorgestellten Anarchistinnen.

Anarchafeministinnen verbinden feministische Analysen mit einer linken Herrschaftsanalyse. Sie ergänzen den Anarchismus, indem sie ihm eine Komponente hinzufügen, die bisher in der Theorie und Praxis nur am Rande berücksichtigt wurde. Durch ihre Verwurzelung im Feminismus gehen sie auch über die Vorstellungen Goldmans und der Mujeres Libres hinaus. Der ökologische Aspekt, den der soziale Ökofeminismus betont, fügt der Analyse des Beziehungsgeflechts aller Herrschaftsstrukturen einen weiteren Baustein hinzu. Er ist zudem unerlässlich für die konkretere Ausgestaltung einer gesellschaftlichen Utopie, weil ein verantwortungsvoller Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen erst die Basis für ein Fortbestehen der Menschheit auf der Erde schafft.

Meiner Überzeugung nach ist der Anarchismus Bakunins und Kropotkins geeignet, das Gerüst für eine feministische Utopie zu bilden. Eine Einordnung feministischer Theorie in einen weiter gefassten politischen Zusammenhang ist sogar notwendig. Feministische Forderungen, die sich nicht in einer gleichberechtigten Teilhabe von Frauen an kapitalistischen Unterdrückungsstrukturen erschöpfen, müssen das Ziel einer Abschaffung jeglicher Herrschaft umfassen, wie es der Anarchismus beschreibt. Die dargestellten anarchafeministischen Ansätze bieten eine Grundlage dafür. Ihre Zielrichtung muss aber ebenso eine Orientierung auf die feministische wie die anarchistische Bewegung beinhalten.

So, wie Feministinnen überprüfen müssen, inwieweit ihre Forderungen tatsächlich die Lebensrealitäten und Bedürfnisse aller Frauen repräsentieren, muss die anarchistische Bewegung permanent damit konfrontiert werden, dass ein Anspruch der Frauenbefreiung einer ständigen Reflexion verinnerlichter patriarchaler Strukturen und Unterdrückungsmechanismen bedarf, also auch eine Veränderung der Männer zur Voraussetzung hat. In diesem Sinne halte ich eine Erweiterung anarchistischer Theorie in Bezug auf eine fundierte Analyse sexistischer Herrschaft für unverzichtbar. Die Voraussetzung ist jedoch, dass Feminismus und Anarchismus als gleichwertige Theorien betrachtet werden, die sich gegenseitig ergänzen können, und der Feminismus nicht als natürlicher Bestandteil des Anarchismus gesehen wird. Diese Sichtweise entlässt Anarchisten aus der beschriebenen Verantwortung und birgt die Gefahr in sich, Sexismus doch wieder als Nebenwiderspruch abzutun, der mit der sozialen Revolution automatisch verschwunden sein werde.

Die feministische Erweiterung des Anarchismus darf sich aber nicht in der Theorie erschöpfen. Eine anarchafeministische Praxis (vergleichbar der, wie sie Michel, Goldman und die Mujeres Libres in ihren Zusammenhängen vorgelebt haben), setzt sich notwendigerweise von der anarchistischen Revolutionstheorie ab. Denn obwohl die Befreiung der Frauen einer grundlegenden Neustrukturierung gesellschaftlicher Zusammenhänge bedarf, darf patriarchale Herrschaft nicht solange hingenommen werden, bis sich die strukturellen Ursachen dafür durch eine Revolution verändert haben. Ein konsequent verstandener Anarchismus muss diese Analyse in seine Praxis integrieren. Ein linker feministischer Kampf muss sich aus den hier ausgeführten Gründen immer auf mehreren Ebenen abspielen: Er muss die Orientierung auf Männer als Teil der Gesellschaft genauso einschließen wie autonome Frauenzusammenhänge. Gleichzeitig muss er an gesellschaftlichen Realitäten ebenso ansetzen wie an der Umsetzung von Utopien. Das beinhaltet nicht zuletzt ein Angreifen geschlechtsspezifisch sozialisierter, psychischer Strukturen, die in der Gegenwart bestehen und relevant sind. In diesem Sinn sehe ich den Anarchafeminismus als eine guten Ansatzpunkt, um einen linken, emanzipatorischen Feminismus im Zusammenspiel theoretischer und praktischer Arbeit ständig weiter zu entwickeln.

Silke Lohschelder

Originaltext:
www.graswurzel.net, erschienen in der Graswurzelrevolution Nr. 250 Sommer 2000 (Änderung: neue Rechtschreibung)


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