Frauenstimmrecht und die Befreiung der Frau

Ähnlich argumentierende Texte gegen das Frauenstimmrecht finden sich in vielen alten anarchistischen Zeitschriften rund um die Jahrhundertwende, so etwa auch bei Erich Mühsam. Das Frauenstimmrecht wird dabei im Sinne der anarchistischen Parlamentarismuskritik als unnützes Instrument für die Befreiung der Frauen verworfen, während reaktionäre Kritiker des Frauenstimmrechts Frauen von der politischen Entscheidungsfindung ausschließen und ihnen das Stimmrecht vorenthalten wollten.

Es liegt in dem Umstände geistiger Unselbständigkeit und- Zurückgebliebenheit, daß es trotz einer 60 jährigen modernen Arbeiterbewegung noch möglich ist, dieselbe durch den Parlamentarismus fast vollständig aus jener Bahn zu schleudern, die zu dem Ziel zu führen berufen ist, um dessen Willen die proletarische Bewegung ja eigentlich begründet wurde: Erkämpfung des Sozialismus durch die Aufhebung des Privateigentums.

Dieses wirkliche Endziel der sozialen Kampfesaktion des Proletariats, das sich in seinen Konsequenzen harmonisch vereint mit dem Begriff der Aufhebung jeder politischen Herrschaft, also mit dem Anarchismus, ist durch die parlamentarische Taktik gänzlich den Blicken des kämpfenden Proletariats entrückt worden; es gelang denjenigen, die durch die Ergatterung sozial auskömmlicher politischer Positionen ein direktes, unmittelbares Interesse an dieser Abirrung hatten, den wirklichen sozialen Kampf in ein ödes Feilschen, Geplänkel für Scheinreformen, ein Einsetzen der revolutionären Kraft des Proletariats für bürgerliche Interessen zu verwandeln.

Das Betrübende dieser Situation ist vornehmlich in dem gelegen, daß man den Massen vorgaukelt, das parlamentarische Gaukelspiel sei politischer Kampf und führe, könne jemals zum Ziele führen. Ist schon der Proletarier bedrückt von all den Verelendungstendenzen des modern-kapitalistischen Systems; ist die zentralistische Gewerkschaftsbewegung mit ihren den neuen sozialen Verhältnissen absolut nicht angepaßten, veralteten Mittelchen des Kleinstreiks nicht im Stande, diesen Verschlechterungstendenzen wirksam, tiefgreifend entgegenzutreten; ist somit der männliche Prolet nur in vereinzelten Fällen und ganz minimalen noch dazu im Stande, mit geistiger Klarheit und echtem Verständnis die sozialen Probleme zu begreifen — ist, kurz gesagt, der Proletarier in seiner Unwissenheit, die von dem heutigen System und ihren Stützen künstlich gezüchtet wird, ein Spielball der politischen Interessendemagogen, so ist die Frau, die Proletarierin, zum größten Teil noch weit unwissender als er.

Wir könnten das eigentliche Thema dieses Aufsatzes nicht erschöpfen, auch nur behandeln, wenn wir auf alle ursprünglichen Ursachen dieser noch weit größeren Unwissenheit, als sie unter der Männerwelt besteht, eingehen wollten. Genug, sie ist da; so sehr, daß zum Beispiel in Belgien einzelne Wortführer der Sozialdemokratie gegen die Verleihung des Fauenstimmrechtes waren, weil sie davon eine Verstärkung der Macht des Klerikalismus befürchteten.

Jahrzehnt auf Jahrzehnt ist es der Demagogie der bürgerlichen Demokratie weit besser als dem Despotismus gelungen, die Arbeiterklasse ins Gängelband rein parlamentarisch - politischer Scheinprobleme zu locken. Die Sozialdemokratie ist die Erbin dieser heimtückisch - bourgeoisen Taktik. Sie geleitet den Arbeiter von dem Felde des wirtschaftlichen Kampfes für die direkte Erkämpfung der neuen Gesellschaft auf das Gebiet der Aufpäppelung mittels parlamentarischer Trugreformen, die eine Stärkung der bestehenden Gesellschaftsordnung und des Staates bedeuten. Nicht nur, daß der Proletarier durch das Parlament nicht das Geringste erzielte, was eine wesentliche Verbesserung seiner Lebenshaltung wäre, nein, das was er durch die parlamentarische Spiegelfechterei »gewann«, war eine direkte Befestigung der bestehenden sozialen Ausbeutung und eine Verrammelung des Weges, der ihn zur Freiheit führt, zur sozialen Ordnung des Anarchismus auf kommunistischer Grundlage.

Obwohl die österreichische Sozialdemokratie in dem einen Jahr ihres parlamentarischen Wirkens in dem »Volkshause des allgemeinen Wahlrechtes« in Gemeinschaft mit allen übrigen Parteien nur das eine treffend illustrierte: den Bankerott des bürgerlichen Parlamentarismus für alle echten proletarischen Bestrebungen, somit auch nicht das Geringste leistete, um die Hoffnungen, die man dem Proletariat im Hinblick auf das allgemeine Wahlrecht gemacht, zu erfüllen — nichts desto weniger, sie hat schon wieder eine neue Problemstellung ihres Bankerotts erfunden und »auf allen Höhen« ertönt gegenwärtig in Österreich der Ruf nach dem allgemeinen Frauenstimmrecht als der nächsten Aufgabe, die einer Lösung harrt. Und freilich, wenn es gelingt, die geistige Unreife des Mannes durch die öden Litaneien vom »Wert des Parlamentarismus« gefangen zu nehmen, so gelingt und gelang es noch weit leichter, die Frau, dieses sowohl von den egoistischen Vorurteilen der Gegenwartsmoral, wie von der ökonomischen Abhängigkeit vom Manne niedergedrückte Wesen, dessen geistige Unentwickeltheit als Geschlecht ja stets den Spott der brüsken, diese aber verursachenden Männerwelt hervorruft, für das Trugphantom des Wahlrechtes zu gewinnen und der Frau einzureden, daß nur durch dieses sie sich die Gleichheit und Freiheit zu erkämpfen vermöge.

Wie es auch mit dem Männerstimmrecht nicht anders war, so war und ist es auch mit jenem der Frauen: es sind Angehörige der Bourgeoisie, die dieses Problem aufstellten und die Energie der unterdrückten Massen gewinnen wollen, um ihre rein bürgerlichen Zwecke durchzusetzen. Diese bestehen darin, daß sie, die Bourgeoisie, an dem politischen Haushalt der bourgeoisen Ordnung teilnehmen will; die Aufgabe des Proletariats ist es aber nicht, an diesem teilzunehmen, Mann und Frau des Proletariats haben ihre Ideale der Befreiung zu erringen, was nur geschehen kann nach Beseitigung der bourgeoisen Ordnung und ihres Haushaltes.

Ebenso wenig als das Männerwahlrecht auch nur im entferntesten die soziale Lage des männlichen Proletariats gebessert hat, hat das Frauenwahlrecht dort, wo es bereits durchgeführt ist, die Lage der Frau gebessert. Im Gegenteil, der Köder der bestehenden Gesellschaft zog die männlichen wie die weiblichen Proletarier verloren den Blick für das Ziel ihrer Befreiung, verzettelten ihre Kraft für nichts.

Nur in einem sozialistisch und politisch-geistig so wenig entwickelten Lande wie Österreich ist es möglich, mit einer solchen demagogischen Parole an die breiten Massen heranzutreten. In einem Lande wie Frankreich, wo die Volkselemente beiden Geschlechtes eine mächtige sozialistische Tradition und klar geschaute revolutionäre Ziele vor sich haben, ist es aussichtslos, mit derlei spieß- und kleinbürgerlichen Mittelchen die Massen auch nur in Bewegung zu setzen. Sie sind zu klug dazu, sich ins Schlepptau ehrgeiziger Politiker, ins Schlepptau der diabolischen Diplomatie des Staates nehmen zu lassen, der für diese Rufe nach dem Wahlrecht nur ein heimtückisches Lächeln der Verachtung übrig hat; im Bewußtsein des einen Gedankens: »Ihr Toren, welches Danaergeschenk, welche zweischneidige, heimtückische Selbstmordwaffe verlangt ihr von mir! Hier, nehmt sie denn hin —und »bekämpft« mich nur recht wacker mit ihr; gegen solche Streiche bin ich immun!«

Und darum ist es geradezu erfrischend und besonders für österreichische Verhältnisse sehr zeitgemäß, wenn wir einer Beführworterin des Frauenstimmrechtes, der Französin Angele Roussel von Paris das Wort dazu erteilen können, um diese Frage des Parlamentarismus in bezug auf Mann und Frau einmal gründlich zu beleuchten. Sie sagt darüber in einem Artikel über das »Frauenstimmrecht«: »Bei der großen Masse der arbeitenden Klassen blieb dieser Aufruf (»Die Frau erhalte das Stimmrecht«) ganz ohne Resonanz. Nur eine kleine Schar von Männern der Bourgeoisie griff ihn auf und begründete auf der Basis der von ihr ins Land hinausgetragenen Forderung den sogenannten »Parlamentsausschuß für Frauenstimmrecht«. Diese parlamentarische Schutztruppe wuchs zusehends, die Sache zog immer weitere Kreise und der naive Zuschauer konnte einen Augenblick glauben, daß in Frankreich die Bewegung schneller voran kommen werde als irgend wo sonst in der Welt; das Frauenstimmrecht schien bereits eine »ausgemachte Sache« zu sein. Aber die »öffentliche Meinung«, gegen deren Willen man nichts in der Welt durchsetzen kann, zeigte sich zurückhaltend. Die große Masse rührte sich nicht und konnte auf keine Weise in Fluß gebracht werden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Der Parlamentarismus hatte nicht die Resultate gezeitigt, die die große Menge von ihm zu erwarten berechtigt war. Es gab eine Zeit, wo der Mann im Volke von seiner Vertretung mächtige und bald bemerkbare Verbesserungen seiner wirtschaftlichen Lage erhoffte. Darum war er bereit, alle seine Kräfte einzusetzen, um sich das Stimmrecht zu erobern, das bisher ein Privilegium der »oberen« Klassen gewesen war. Er war bereit an den Gesetzen des Landes auch seinerseits mitzuwirken. Heute ist das Vertrauen des Volkes dahin. Man glaubt nicht mehr an die Wirksamkeit politischer Mittel. Und man interessiert sich für die Anwendung des Stimmrechtes selbst dort nicht, wo man es noch gar nicht besitzt. Man sagt sich: es wird nach Erlangung des Stimmrechtes mehr Wahlberechtigte geben, aber auch mehr Abgeordnete. Damit werden jedenfalls die Kosten für das Land anwachsen, und niemand kann uns dafür garantieren, daß im gleichen Maße auch unser Wohlstand an- wachsen und unser Elend abnehmen wird. Die Männer insbesondere sagen sich: wenn wir es nicht erreichen konnten, warum sollten es unsere Frauen vermögen? Und die Frauen: wie sollten denn wir die Handhabung der politischen Waffen besser als unsere Männer verstehen, wo wir sie doch noch nicht einmal kennen?

Damit ist nun freilich nicht gesagt, daß die französischen Frauen, wenn sie diese Waffe, ohne daß es ihnen besondere Anstrengungen kostet, erlangen können, etwa verschmähen würden; am wenigsten würden das die Frauen der Arbeiterklasse tun. Es fehlt nur gegenwärtig an Leuten, die von der Nützlichkeit des Stimmrechtes überzeugt sind.«

Mit Recht und glücklicherweise ist die französische Arbeiterklasse im wesentlichen dem Wahne des Parlamentarismus entwachsen. Wir glauben, die Stimme der obigen Anhängerin des Frauenstimmrechtes führt diese gegenwärtig von der österreichischen Sozialdemokratie aufgenommenen Politikantenparole genugsam ad absurdum.

Wenn wir von der Frau sprechen, so sprechen wir von ihr wie von /einem vergewaltigten Heiligtum, wenn man sie für den Unsinn einer solchen Forderung, wie sie das Stimmrecht in der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt ist, zu fanatisieren und im Interesse bürgerlicher Frauenrechtler sich betätigen läßt. Die Frau ist nicht deswegen unfrei, weil sie nicht stimmen darf; im Gegenteil, es ist eine Herabwürdigung der Frau, ihr zu sagen, daß ihre Freiheit von da anfängt, wo sie der Staat ihr gestattet, — durch die Verleihung eines Fetzen Papieres. Der österreichische Arbeiter ist nicht freier geworden durch den Stimmzettel. Beide,der Proletarier wie die Proletarierin, sind sozial unfrei durch ihre ökonomische Besitzlosigkeit.

Die ökonomische Armut ist der Richtspruch, der sie beide zur sozialen Nichtswürdigkeit verurteilt. Die Dame der Bourgeoisie, die reich, in Luxus und Überfluß leben kann, hat politischen, wie sozialen Einfluß — auch ohne einen Stimmzettel; noch mehr: so weit sie sich auch geistig befreit hat, reißt sie sich los von allen den moralischen Vorurteilen, die die Welt des Privateigentums auf die Frau gehäuft hat, und sie besitzt dann ihre wahre Befreiung: Geistige und materiell-ökonomische Unabhängigkeit!

Dies muß das Ziel der emporstrebenden Proletarierin sein! Sie muß sich geistig befreien, muß vor allem sich selbst die Freiheit geben, indem sie Schulter an Schulter mit dem organisierten Männerproletariat ökonomische Kämpfe kämpft, um sich zu erringen mehr Brot, mehr Licht, mehr Luft. Das Recht der freien Mutterschaft, das ist es, was sie zu erreichen hat, und dies gibt ihr der Staat nie, noch die bestehende Gesellschaftsordnung.

Eine einzige Frau, die solcher Art geistig und ethisch den Morgenschimmer der Befreiung erblickt, fest verbündet mit dem Mann in seinen wirtschaftlichen Kämpfen ihm zur Seite steht, ist wichtiger als tausende von Frauenstimmen in der Wahlurne, die dem Feuer der Vernichtung preisgegeben werden und Alles beim Alten belassen. Das Ideal des Anarchismus ist die absolute ökonomische Gleichheit von Mann und Frau; die gleiche, absolute Freiheit für beide Geschlechter. Ihn zu erstreben, bedeutet schon, die Praxis seiner Ideen zu erproben, was dadurch geschieht, daß die Frau geistig dazu erzogen wird, sich allen den traditionellen Vorurteilen der überlieferten Sitte, den Geboten der Herrschaft des Mannes zu entziehen und in freier Kameradschaft mit dem Manne durch das Band gegenseitiger Liebe wahre soziale Gleichheit und Freiheit zu erstreben, zu erkämpfen. Nur gemeinsam kann sie erkämpft werden, nicht durch das Parlament, sondern dadurch, daß Mann und Frau die Fesseln der ökonomischen, staatlichen und geistigen Knechtschaft abschütteln, in und durch Freiheitskampf denjenigen Gesellschaftszustand der Befreiung begründen, in dem als sozialer Tenor ein Motto gilt: Mann und Frau sind gleich frei, in harmonischer, freier Vereinigung lebe jedes sein Glück, seine Freude: — das Glück der Gemeinschaft, die Freude in der Freiheit ihrer gegenseitigen Liebe!

Aus: "Wohlstand für Alle", 1. Jahrgang, Nr. 11 (1908). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat usw.) von www.anarchismus.at.


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