Anarchismus und Verbrechen

Die Verteidiger von Moral, Ordnung und Gesetz — sowohl jene des bestehenden, wie jene des erträumten sozialdemokratischen Herrschaftssystems — glauben dadurch, daß Anarchisten (oder gewesene Anarchisten), manchmal auch gemeine Verbrechen verüben, stets einen neuen Halt für ihre Beschuldigungen gegen den Anarchismus zu finden; durch gehörige Ausbeutung solcher Tatsachen hoffen sie, zu beweisen, daß der Anarchismus kein Ideal und kein praktisches Ziel hat, daß derselbe bloß ein Deckmantel für "Verbrechen" ist, und daß die Anarchisten deshalb alle Ordnung und die ganze Gesellschaft umstoßen wollen, um ihre persönlichen Gelüste zu befriedigen.

Leider werden diese Verleumdungen bei einer großen Masse Menschen, die einfach glauben, was man ihnen sagt, anstatt selbst die Wahrheit zu suchen, und nachzudenken, die gewünschte Wirkung nicht verfehlen; und sogar solche, die nahe daran waren, die Richtigkeit der anarchistischen Ideen anzuerkennen, dieselben aber noch nicht ganz klar erfaßt haben, werden durch diese Ereignisse in ihre alte Scheu und Furcht vor dem Anarchismus zurückfallen, wenn sie sich nicht die Mühe nehmen, den Sinn der ganzen Sache zu überdenken.

Was ist ein legales Verbrechen? Eine Handlung, welche gegen die bestehenden Begriffe und Vorschriften über Recht und Unrecht verstößt. Diese werden aber von den Bedürfnissen und der Umgebung des Menschen bestimmt. Was zu einer Zeit oder an einem Ort oder unter einer bestimmten Gruppe oder Klasse von Menschen als Verbrechen gilt, kann unter anderen Umständen als Tugend angesehen werden und umgekehrt. Bei manchen primitiven Völkerschaften, welche in ihren gefahrvollen Herumstreifereien die jagd- und kampfunfähigen Alten dem Verhungern preisgeben müssen, ist z.B. Vater- und Muttermord - bei uns als entsetzliches Verbrechen angesehen - nicht nur keine Sünde, sondern die heiligste Pflicht; dieselben Völker würden es aber für ein undenkbares, unnatürliches Verbrechen ansehen, wenn sie einen Stammesgenossen hungern ließen, während die übrigen im Überfluß zu essen haben — ein Zustand, welcher in unserer zivilisierten Gesellschaftsordnung die Regel ist. Nach den Gesetzen der kapitalistischen Herrschaftsordnung sind Eigentum und Staat — das heißt die Macht einer kleinen Minderheit, von der Arbeit der übrigen Menschen zu leben und dieselbe zu ihrem Dienste zu zwingen — die heiligsten und unantastbarsten Einrichtungen; und der Diebstahl am kapitalistischen Eigentum, in all seinen Formen, das ärgste Verbrechen.

Für uns hingegen, die wir im freien, herrschaftslosen Zusammenwirken und dem Wohlstand Aller die einzige Möglichkeit für das Lebensglück eines jeden Menschen erblicken, ist eben die Grundlage der heutigen Gesellschaftsordnung, die Herrschaft des Menschen über die Menschen, das größte, ja man kann sagen, das einzige wirkliche echte Verbrechen; denn aus der Ausbeutung und Knechtung der Arbeitenden, aus dem Elend, welches die Folge davon ist, entstehen alle übrigen grausamen und unnatürlichen Handlungen, welche den Menschen Leiden verursachen und deshalb von uns als verbrecherische erkannt werden.

Wir gestehen es unumwunden ein: es hat Sozialisten und Anarchisten gegeben, die ganz wie andere Sterbliche auch in der Geschichte dieser Bewegung Diebstahl, Raub und Mord begangen haben, überhaupt alle strafgesetzlich verfolgten Handlungen als anarchistisch und als an und für sich verdienstvoll und nützlich dargestellt haben. Da die Gesetze des kapitalistischen Staates die Aufrechterhalter des heutigen Elends sind, so ist alles, argumentieren sie, was gegen diese Gesetze verstößt, ein Ausdruck und ein Beispiel der Empörung gegen dieselben und gegen die Ausbeutung der Knechtschaft überhaupt. Das ist aber bloße Theorie und eine falsche noch dazu. Um was es sich im wirklichen Leben handelt, — und der Anarchismus als Bewegung hat dies international einsehen gelernt, - ist das: ob diese oder jene Handlung unseren eigenen Begriffen von Recht und Unrecht entspricht, und ob sie die Verbreitung der anarchistischen Idee fördern, und uns der Verwirklichung der anarchistischen Gesellschaft näher bringen, kann.

Ehe wir auf eine Darlegung dieses unseres Standpunktes eingehen, tut es not, daß wir erklären, was auch wir Anarchisten als verbrecherisch auffassen. Ohne den individuellen Meinungen darüber Gewalt antun zu wollen, darf gesagt werden, daß uns allen das jenige Verbrechen ist, was in seiner Ausführung keine Schwächung, sondern Stärkung des bestehenden Zustandes bedeutet. Wir bekämpfen den Kapitalisten, weil er arbeitslos ausbeutet, und uns ist die Ausbeutung eine legale Form des Diebstahls; wir bekämpfet) den Staatsmenschen, weil er unterdrücken muß, und jede Unterdrückung geleitet schließlich zur Tötung des Unterdrückten. Solches Handeln nennen wir legalen Mord. Aber ganz abgesehen von legal oder illegal sind uns Diebstahl und Mord an sich verwerflich, widerlich, und wir wollen eine Gesellschaftsordnung begründen, in der sie nicht mehr gedeihen können. Auch wir haben somit gewisse Ansichten über das, was Verbrechen ist und stets bleibt; und es ist einerlei, ob diese Taten von oben oder unten ausgeführt werden — sie verbleiben im Moment der Ausführung stets Verbrechen. Ein Unterschied kommt erst auf in den total verschiedenen Motiven und Absichten der Täter. Hier kann es sehr oft vorkommen, daß man eine unsoziale Handlung als eine soziale auffassen muß, wenn sie die Absicht hat, der Gemeinschaft zu dienen, das individuelle Moment des Vorteiles der Erkenntnis von einer bestimmten Notwendigkeit für das Gemein-und Allwohl aufopfert.

Nehmen wir nun von diesem Standpunkt aus das Problem betrachtet, den Berufsdieb. Er stiehlt, weil ihm die Gesellschaft kein so müheloses Dasein bietet, wie dem Bourgeois. Sein Zweck ist nicht, sich das zu nehmen, was ihn und seine Familie vor dem Hungertod schützen kann und was die heutige verbrecherische Gesellschaft ihm vorenthält; sein Zweck ist meistens, sich ein arbeitsloses Einkommen und Leben zu ermöglichen, wie es der Bourgeois aller Arten auch hat. Er stiehlt meistens Geld, das Mittel des heutigen Systems, um sich alles erschachern zu können, wonach die Gemeinheit und die Korruption sich sehnt. Das Geld, das der Berufsdieb stiehlt, nimmt er gewöhnlich vom Kapitalisten und weder dieser noch die heutige Gesellschaft und Staatseinrichtung haben ein moralisches Recht dazu, ihm einen Vorwurf zu machen. Denn der Brufsdieb betreibt nur das illegal, was das ganze heutige System legal betreibt. Wohl aber hat der Anarchismus, der sich gegen jeden Diebstahl, jede Ausbeutung und jeden Betrug kehrt, wohl aber hat er das Recht zu konstatieren, daß der Berufsdieb nicht zu seinen Vertretern gezählt werden kann, einfach deshalb, weil es dem Anarchismus ganz gleichgültig ist, welche Einzelpersönlichkeit sich im Besitz von kapitalistischer Ausbeutungsmöglichkeit befindet, der Anarchismus sich gegen jede kehrt, der Anarchismus nicht darnach strebt, daß die Geldreichtümer der kapitalistischen Klasse in die Hände der proletarischen übergehen sollen, sondern daß der Geldreichtum überhaupt aufhöre und die Arbeitsmittel — die keineswegs identisch sind mit Goldmünzen - in die Hände der Arbeitenden übergehen sollen.

Kurz gesagt: Jede Tat, die dem sozialen Elend oder dem Motiv der Beseitigung des heutigen Systems entspringt, ist moralisch kein Verbrechen für den Anarchismus; anderseits ist ihm jede Handlungsweise, die nur danach strebt, sich in den Besitz der heutigen Macht, und Gewaltsmöglichkeit zu setzen, die niemals zur Befreiung führen kann, ein Verbrechen in des Wortes tiefstem Sinn. Es sollte schließlich klar genug sein: Anarchist und Bourgeois müssen in allen ihren Aktionen strikte Gegensätze sein!

Die Expropriation von Geldsummen, auf dem Wege von List oder Gewalt, um dadurch die Kosten revolutionärer Propaganda zu decken, kann zu Zeiten revolutionärer Vorgefechte, wie z.B. in Rußland, verstanden und begriffen werden, wenn nicht die Opfer an Kampfeskräften und Menschenleben den Erfolg aufwiegen und dadurch wertlos machen (wie dies allzu oft geschieht). Wenn es sich aber um eine Expropriation zur bloßen persönlichen Bereicherung der Täter handelt, so müssen wir darüber klar sein, daß dies ausschließlich deren persönliche Angelegenheit ist und mit ihrer eventuellen anarchistischen Gesinnung nichts zu tun hat, wir die Sache unseres Kampfes von dieser Art reinlich zu scheiden haben. Die Sache des Anarchismus kann dadurch auf keinen Fall gefördert werden. Eine Summe Geldes — also des gesetzlichen Machtmittels, um sich die Arbeit anderer dienstbar zu machen! - hat den Besitzer gewechselt: Was ändert das am Zustand der Gesellschaft? Das geschieht in viel größerem Maßstabe tagtäglich bei jedem Kauf und Verkauf, bei jedem Börsenspiel. Wenn der Einbrecher — ob Anarchist oder nicht — einen gelungenen Fang tut, bringt uns das dem Anarchismus ebensowenig näher, als wie wenn z.B. ein Kapitalist oder Gutsbesitzer — der ja sonst in der Theorie auch Anarchist sein kann - seinen halbjährigen Pachtzins einheimst.

Die Verwirklichung des Anarchismus hängt ab vorn selbständigen Denken und Handeln der Menschen! Wir müssen das Ideal der herrschaftslosen Gesellschaft, der freien Föderation von in brüderlichem Zusammenwirken vereinten Gemeinschaften, in die große Masse des arbeitenden Volkes, der Bauern und Proletarier, tragen! Wir müssen ihnen zeigen, wie nur ihre eigene ausgebeutete Arbeit, ihr eigener Gehorsam das Gebäude der Herrschaft aufrecht erhält, welches sie zu lebenslanger freudloser Arbeit und Unfreiheit verdammt! Wir müssen ihnen beweisen, daß sie jede Verbesserung ihrer Lage, jeden Schritt zu ihrer Befreiung durch ihr eigenes selbständiges Handeln erkämpfen müssen! Wir müssen das Beispiel geben in diesem sozialen Kampf, wir müssen uns organisieren zu einmütigem, gemeinschaftlichen Handeln! Dies ist der Anarchismus!

Mittlerweile werden die bürgerlichen und sozialdemokratischen Zeitungsschreiber wohl nicht müde werden, ihrem Publikum vorzudeklamieren, daß Anarchismus Bombenwerfen, Mord und Diebstahl sei. Dagegen haben wir nur eine Waffe: Mit unermüdlichem Eifer die Menschen über das wahre Wesen des Anarchismus aufzuklären, sie zu Anarchisten zu machen, damit sie nicht jenen glauben, sondern selber denken!

Aus: "Wohlstand für Alle", 2. Jahrgang, Nr. 8 (1909). Digitalisiert von der Anarchistischen Bibliothek und Archiv Wien. Nachbearbeitet (Scanungenauigkeiten entfernt, ae zu ä, That zu Tat, Epropriation zu Expropriation usw.) von www.anarchismus.at.


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