Augustin Souchy - Brief aus Spanien. Barcelona, Juli 1936

Spanien hat viel gemeinsam mit Rußland. Kommt man zur Grenze, muß man aussteigen, in Rußland wie in Spanien. Die Eisenbahnschienen sind breiter. Die Züge gehen nicht weiter. Die europäische Welt nimmt ein Ende. Eine andere, eine eigene Welt beginnt. Es wird diskutiert, viel diskutiert, in Rußland wie in Spanien. Man spricht mehr, als man arbeitet. Man geht später schlafen als in den anderen europäischen Ländern. Lunatscharski hat seine russische Seele in seinem Theaterstück "Don Quixote" leicht vermählen können mit der spanischen Seele. Die orthodoxe Kirche in Rußland, die katholische Kirche in Spanien haben das Volk in geistiger Umnachtung und Abhängigkeit gehalten. Aber auch die natürliche Reaktion des Volkes, der Geist der Rebellion fanden sich im zaristischen Rußland wie im bourbonisch regierten Spanien. Seit in Rußland der Bolschewismus herrscht ist vieles anders geworden, ganz anders. Doch in Spanien ist seit dem Sturze der Monarchie noch vieles gleich geblieben. Doch Spanien hebt sich heute vorteilhafter ab gegenüber Rußland. In Spanien wird noch gekämpft für die Freiheit, in Rußland nicht. Und dieser Kampf macht Spanien für uns sympathischer und interessanter.

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Bahnhof Port Bou, erste Station in Spanien, an der Ostgrenze der Pyrenäen. Erster Eindruck: Kampf der Klassen. Mit weißer Kreide und Riesenlettern bedeckt eine Anschrift die Eisenbahnwaggons, die uns nach Barcelona bringen sollen. Da steht: CNT - Ferroviarios. No mas promesas. Hechos. Viva la Huelga - UGT. Eisenbahner! Keine Versprechungen mehr. Taten! Es lebe der Streik! Beide Eisenbahnergewerkschaften, die syndikalistische und die sozialistische wollen sich beteiligen am Streik. Nirgends in der Welt dulden die Eisenbahndirektionen ähnliche offene Aufforderungen zum Streik auf den Eisenbahnwagen. Aber in Spanien ist alles möglich. Ein Eisenbahner erklärte mir: Wir haben Mindestlöhne von 4,50 Peseten pro Tag. Das ist 1/3 amerikanischer Dollar. Tief unter dem Lebensminimum. In Frankreich haben die Arbeiter höhere Löhne erkämpft. In Spanien muß es auch besser werden.

Auf dem Bahnhof in Barcelona die gleiche Kreideaufschrift auf den Eisenbahnwagen, die gleiche Aufforderung zum Streik. Die Züge durchrasen das ganze Land mit der Aufschrift Viva la Huelga! Es lebe der Streik! Schon streiken die Bauarbeiter in Madrid, die Transportarbeiter im Hafen von Barcelona. Streiks gibt es dauernd, in allen Teilen des Landes.

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Barcelona hat sich nicht geändert seit ich die Stadt zum letzten Male sah. Ohrenbetäubender Lärm auf den Straßen. Die Ramblas, Hauptverkehrsader, so dicht mit Menschen, daß man sich nur mit Mühe hindurchwinden kann zwischen Flaneuren und Blumenständen. Sorglosigkeit auf allen Gesichtern. Man ißt und trinkt und schreit und tanzt auf den Straßen, ungeniert. Für 25 Centimos werden die Schuhe spiegelblank geputzt, darunter mögen die Füße schmutzig sein. Der Schuh glänzt, und der Glanz blendet.

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Doch hinter dem Alltag des bürgerlichen Barcelona steht das politische, das proletarische Barcelona. Und das verleugnet sich nicht. In den letzten fünf Jahren war ich fünf Mal hier. Jedesmal gab es ein Movimiento, eine Bewegung. April 1931 Revolution, Dezember 1931 Aufstand, Dezember 1932 Generalstreik, April 1933 wieder Generalstreik. Oktober 1934 erhebt sich Katalonien gegen die kastilische Hegemonie. 1935 gärt es. Februar 1936 Sturz der Gil-Robles-Diktatur, neue Erhebungen. Ununterbrochene Kämpfe zwischen Herrschern und Unterdrückten.

Heute soll ein Riesenmeeting stattfinden in der Monumental-Stierkampf-Arena. Organisiert von der anarchistischen Jugend, der Juventud Libertaria. Um bei diesem Meeting zu sprechen kam ich her. 100.000 Personen faßt die Arena, und nicht weniger werden erscheinen, versichern mir die Genossen.

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Drei Tage vorher große Aufregung. In Madrid wurde Calvo Sotelo hingerichtet, von den Revolutionären. Er war der Führer der Faschisten, ihre Hoffnung, ihr Stolz. Jetzt wüten sie. Sie drohen mit gewaltsamem Aufstand. Mit ihnen gehen die Militärs. Dadurch wird die Lage ernst. Ein Faschistenaufstand ist nicht zu fürchten. Aber ein militärisches Pronuniziamiento. Wer die Waffen hat, hat die Macht. Und in den Kasernen sitzen die Verschwörerherde des Faschismus, des Klerikalismus, der Monarchie. Drei Nächte hintereinander haben die Arbeiter Barcelonas gewacht. Der Aufstand der Faschisten kann stündlich ausbrechen. Er muß zurückgeschlagen werden.

Ich werde untergebracht in einer Arbeitervorstadt bei einem Genossen. Es ist 10 Uhr abends. Polizeiautos sausen durch die Straßen. Größere und kleinere Gruppen von Arbeitern gehen der Stadt zu. Die Lokalföderation der CNT hatte nachmittags Delegiertenversammlung. Dort wurde beschlossen: Syndikalisten auf die Straße! Die Delegierten kommen zurück in ihre Bezirke-, Sie alarmieren ihre Sektionen. Auf die Posten! Väter und erwachsene Söhne, Mütter und erwachsene Töchter ziehen des Nachts aus zum Kampf. Mit Bastschuhen an den Füßen. Die Hemdärmel sind hochgekrempelt, der Rock hängt über den Schultern.

Eine Gruppe reden wir an. Darunter befindet sich eine Mutter mit ihrer achtzehnjährigen Tochter. "A donde vais?" Wohin geht`s?
"A la lucha." Zum Kampf.
Auch die Mutter? Und die Muchacha, das junge Ding, soll auch mit?
"Claro, hombre," Klar, ich kann schiessen. Das spricht sie stolz aus. Und mit leuchtenden Augen und erwartungsvollem Herzen geht es ins Ungewisse der Nacht.

Die Volksfrontregierung ist in Gefahr. Casares Quiroga, Ministerpräsident fühlt seine Macht bedroht. Die Zensur feiert Orgien. Täglich sind einige Spalten der syndikalistischen Tageszeitung "Solidaridad Obrera" weiß. Selbst bürgerliche Zeitungen sind der Vorzensur unterworfen. Auch sie werden zensuriert. In Madrid wurden die Lokale der syndikalistischen CNT geschlossen. Wie in Zeiten von Gil Robles oder Primo de Rivera. Die Regierung will sich sichern gegen die Gefahr von rechts und links. Diktatur der Mitte. Der Volksfront. Auch gegen Arbeiter.

Aber in vielen Provinzen fühlen sich die Volksfrontherrscher unsicher. Aus Furcht vor der militärisch-faschistischen Gefahr wenden sie sich an die Arbeiter. Auch an die syndikalistischen. Oktober 1934 hat der Präsident der katalanischen Generalität die syndikalistische CNT verboten, ihre Lokale geschlossen. Ihre Militanten in die Gefängnisse werfen lassen, ihre Verteidigungsgruppen entwaffnen lassen. Als die Madrider Truppen nach Katalonien einrückten, kämpfte die liberale katalanische Regierung gegen die Faschisten von Madrid und gegen die Arbeiter von Katalonien. Dieser Krieg gegen zwei Fronten brach der Bewegung den Nacken. Das ist ein warnendes Beispiel. Das will man nicht wiederholen. Deshalb will man jetzt die Hilfe der Arbeiter, gegen die Generäle und gegen den Faschismus.

Gegen den Faschismus, sagen die Syndikalisten, machen wir mit. Gebt uns Waffen. Aber eine neue Herrschaft der Bourgeoisie, die uns die Freiheiten raubt in ähnlicher Weise wie die Faschisten, wollen wir nicht großziehen. Keine Kompromisse. Keine festen Abmachungen. Die Fronten bleiben abgesteckt. Marschiert wird getrennt. Geschlagen wird gemeinsam. So stehen sich heute Syndikalisten und Volksfront gegenüber. Sie trennt ein Fluß. Doch beide gemeinsam trennt von den Faschisten ein breiter Strom.

Waffen sind nur wenig da. Die Faschisten sind besser bewaffnet. Die Kasernen mit den Waffendepots stehen auf ihrer Seite. Die Arbeiter sind zahlreicher. Aber nicht die bloße Zahl sichert den Erfolg des Kampfes. Der Besitz der besseren und zahlreicheren Waffen gibt den Ausschlag. Die Niederlage in Asturien hat es bewiesen.

Die Nacht verging ruhig. Die Faschisten waren gewarnt, sie schlugen nicht los. Noch nicht. Wenigstens nicht in Katalonien. Aber im Baskenlande und in Madrid soll es zu Aufstandsversuchen gekommen sein. In der Hauptstadt gab es Zusammenstöße zwischen den regulären Truppen und der Guardia de Asalto. Letztere sind Landsknechte. Sie verteidigen den, der sie bezahlt. Das ist heute die Volksfrontregierung. Aber morgen kann es die faschistische Regierung sein. Die Soldaten der regulären Truppen haben den Ausschlag gegeben. Sie sollen sich gegen ihre eigenen Offiziere gewandt haben. Dadurch brach der Putsch zusammen. Mehrere Offiziere flüchteten ins reationäre Baskenland. Dort ist der Herd der Reaktion, des Klerikalismus, des Faschismus.

Das alles verlautet nur gerüchteweise. Denn die Zeitungen sind zensuriert. Aber Gerüchte spielten eine große Rolle in den politischen Ereignissen Spaniens während der letzten Jahre. Sie sind die Hefe, die den revolutionären Most zur Gärung bringt.

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Um 3 Uhr nachts gehen die Gruppen der Arbeiter nach Hause. Zurück zu ihren armseligen Vorstadthütten. Viele haben Waffen. Sie stolzieren damit auf den Strassen. Ziemlich offen zeigen sie sie, aus den Taschen stecken Revolverkolben hervor. Die blau uniformierte Guardia de Seguridad im Dienste der lokalen Behörden, hält einige Arbeitergruppen an und findet bei ihnen Waffen. Die Arbeiter zeigen ihr Carnet Confederal, ihr Mitgliedsbuch der CNT. Da läßt man sie laufen. Verbündete. Aber laßt euch nicht erwischen von der Guardia de Civil. Denen kann man nicht trauen. Ihre Uniformen sind grau.

Das Meeting wurde verschoben. Die revolutionäre Wachsamkeit nahm alle Kräfte in Anspruch. Zwei Tage später sollte es stattfinden. Ich ging nachmittags zu unserem alten Kameraden Max Nettlau. Der befindet sich hier seit einigen Monaten. Zu Besuch bei Urales, dem Herausgeber der "Revista Bianca" und für seine geschichtlichen Studien. Wir sprachen drei Stunden zusammen und fuhren den politischen Horizont des Erdballs und den geistigen Horizont der sozialen Bewegung ab. "Aber wenn hunderttausend in der Versammlung sind, dann können die Faschisten die Druckerei unserer Zeitung während dieser Zeit zerstören," meinte Max Nettlau. "Die Genossen werden schon ihre Zeitung bewachen", gab ich zurück.

Einige Stunden später sitze ich mit einigen Genossen auf dem Parallelo im Café "Tranquilidad", Café "Zur Ruhe". Ein falscher Name, denn das ist der Sammelplatz der Unruhigen, der Rebellen. Auch der Besitzer ist ein Genosse. Er wurde 1932, nach Proklamierung des freiheitlichen Kommunismus in Figols in die Verbannung geschickt, nach Rio del Oro, in die afrikanische Wüste. Sein Etablissement wurde behördlich geschlossen. Stürmische Begrüssung. Er zeigt mir eine Zeitungsnotiz. Aha, von Pestaña, unserem einstigen Kampfgenossen. Jetzt ist er Deputierter. Doch vielleicht kommt er zur Einsicht. Ich lese. Pestaña schreibt:

"Ich fordere Schließung des Parlaments. Ich kam hierher, in der Hoffnung, etwas zu tun zugunsten des Volkes. Ich sehe aber, daß man hier nichts Nützliches tut, daß man nur spricht. Und ich, der ich selber hungerte, ich verstehe die Nöte jener, die nichts zu essen haben und die auf uns die Hoffnung setzen, daß wir etwas für sie tun sollen, während wir doch in Wirklichkeit nichts tun. Die Kommissionen müssen ihre Arbeit beschleunigen, damit etwas erreicht wird. Wenn nichts geschieht, dann werde ich, der ich mit der Illusion hierher ins Parlament kam etwas tun zu können, zurückgehen auf die Strasse zu meinen alten Freunden und werde ihnen sagen: Ihr habt Recht gehabt: dort ist nichts auszurichten!"

Das alles hätte Pestaña vorher wissen können, wissen müssen. Werden in ihm Reminiszenzen aus der Vergangenheit wach, oder sprechen aus ihm Absichten für die Zukunft? Noch sehe ich ihn, wie er 1920 im Kreml beim II. Kongreß der Kommunistischen Internationale auf der Rednertribüne stand und, gegen Trotzki, den Antiparlamentarismus verteidigte. Die Menschen ändern sich mit den Zeiten.

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Eine Stunde später in der Redaktion der "Solidaridad Obrera", der "Soli". Einige Jugendgenossen kommen aufgeregt: Die Gerüchte aus Madrid über die Aufstände sind richtig. Die Volksfrontregierung sieht sich ernsthaft gefährdet. Alle Versammlungen sind verboten über ganz Spanien. Der Alarmzustand ist verhängt.

Augustin Souchy

Aus: Medienwerkstatt Freiburg (Hg.): Die lange Hoffnung. Erinnerungen an ein anderes Spanien. Trotzdem-Verlag 1985 (1. Auflage). Digitalisiert von www.anarchismus.at mit freundlicher Genehmigung des Trotzdem-Verlags.


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